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BERICHT/008: "Patente Instrumente" - Von der Wissenschaft zur Werkstatt (SB)


Patente Instrumente - oder was Trichtergeigen und Schnabelflöten erzählen

Die Sammlung Hanneforth im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg vom 15. Juni bis 30. Dezember 2012



"Hat die Stradivari keine Konkurrenz? Wann verlor die Geige ihren Körper? Was ist eigentlich eine Schnabelflöte? Wie kam die Oboe zu ihrem Namen und die Querflöte zu ihren Klappen? Und seit wann darf auch die Dame Flöte spielen?" Mit diesen "spannende Anekdoten versprechenden" Fragen lud das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zu einer Pressekonferenz der Sonderausstellung "Patente Instrumente. Schnabelflöten, Trichtergeigen und andere Erfindungen." [1] am 13. Juni 2012 alle ein, die sich die von Geigenbauern, Physikern, Ingenieuren, verrückten Erfindern, Musikern, Uhrmachern, Goldschmieden und anderen experimentierfreudigen Handwerkern ausgetüftelten, zumeist patentierten Musikinstrumente einmal von nahem anschauen wollen. Der seltene, umfangreiche Schatz aus 250 ganz besonderen Stücken wird in dieser Form noch bis Ende des Jahres zu sehen sein, danach wird er bis auf einige zentrale Stücke, die in die Dauerausstellung der Musikinstrumentensammlung des Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (MKG) integriert werden, in den Archiven verschwinden.

Algirdas Sochas demonstriert den Klang einer Strohgeige - Foto: © 2012 by Schattenblick

Nicht so geeignet bei Paganini Capricen, aber schön laut ...
Foto: © 2012 by Schattenblick

Daß man Instrumente nicht nur als technisch-wissenschaftliche Spezialobjekte betrachten kann, sondern Erfindungen auch als Zeitzeugen von Kultur und Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts zu erzählen haben, bestätigte der Kurator der Ausstellung, Olaf Kirsch [2], in seiner Einführung. Da es zu diesen ausgetüftelten Ausnahmeerscheinungen kaum Literatur oder fachliche Expertise gibt, mußte er gemeinsam mit dem in Berlin ansässigen Frank Böhme, Professor für Angewandte Musik und Instrumentation an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, den Dingen selbst ihre Funktionen und Geschichten "ablauschen". Denn diese waren auf dem Weg der harmonischen Integration in ein klassisches Orchester oder bei der strengen Selektion konventioneller Anforderungen oft bereits schon in der Entwurfphase als Randerscheinungen oder Kuriositäten (manchmal sogar gemeinsam mit ihren Erfindern) marginalisiert und somit Geschichte, ehe sie sich noch als Instrument behaupten konnten.

Bauteile einer Geige aus rohem Holz - Foto: © 2012 by Schattenblick Vier besondere Geigenmodelle mit aufwendigen Schnitzereien und Intarsien - Foto: © 2012 by Schattenblick

links:Die erste Vitrine der Ausstellung thematisiert mehr den handwerklichen Instrumentenbau. Dort sind u.a. die Materialien für den Bau einer Geige zu sehen.
rechts: Vier ganz besondere Lösungen des handwerklichen Instrumentenbaus
Foto: © 2012 by Schattenblick

In der Geschichte der Musikinstrumentenbauer wurden immer wieder aus unterschiedlichen Motiven Versuche unternommen, Seitenwege zu gehen, aus der Norm auszubrechen oder eigene Vorstellungen gegen die klassischen gesellschaftlichen Anforderungen durchzusetzen, die aber, was die musikalische Bedeutung der verbesserten Instrumente betrifft, meist von vornherein zum Scheitern verurteilt waren. So zeigt die Ausstellung auch einige Bratschen, bei denen gewiefte Erbauer versucht haben, mittels ausgefeilter mathematischer Konstruktionen den von der konventionellen, meist "etwas quakigen" Kompromißlösung abweichenden optimalen Klangkörper zu entwickeln [3]. Dieser hat aber für die meisten Musiker eine oftmals schwerfällige bis kaum spielbare Eignung, um seinen Platz in einem Orchester zu behaupten. Selbst eine in jede Richtung überzeugende Neukonstruktion, die beispielsweise die Anatomie des Geigers berücksichtigen sollte, um Schmerzen oder Haltungsschäden vorzubeugen, hatte in dem sozialen Orchesterverband, in dem sich bekannte gesellschaftliche Strukturen widerspiegeln, zahllose, meist von vornherein chancenlose Kämpfe um Anerkennung zu bestehen.

Letztere könnte man - mit etwas Phantasie - sogar in manchen musikalischen Werken wiederfinden, wenn Komponisten oder auch Dirigenten die rivalisierenden Blech-, Holzblas- und Saiteninstrumente im Orchestergraben scheinbar chaotische bis leidenschaftliche, instrumentale Schlachten und Gefechte auf mehreren Ebenen austragen lassen, während dieser Kriegszug in Wahrheit nur durch ein ungemein diszipliniert aufeinander abgestimmtes, hierarchisch geordnetes und für einen Außenstehenden nicht zu durchschauendes Reglement möglich wird. Die präzise Funktionsweise eines "Instruments" wird erst bei einem Störfall offensichtlich. So könnte man sich durchaus vorstellen, wie ein scheinbar geringfügiger Anlaß, beispielsweise ein nachlässig übersehener Zahnputzpastenfleck auf der blankgeputzten Schuhspitze des ersten Geigers das sensible Orchestergefüge in einem dissonanten Disaster zusammenbrechen ließe. Eben deshalb wird es auch nie geschehen.

Violine mit veränderter Korpusform - Foto: © 2012 by Schattenblick

Violine mit veränderter Korpusform
'Regina Geigenbau', H. Helfers und Adolf Kara
(tätig 1918 - 1925), Bremen 1921
Foto: © 2012 by Schattenblick

Anders gesagt wird zunächst einmal jedes Instrument, das sich nur optisch von der Masse abhebt, selbst wenn das aus ingenieurtechnischer Sicht sogar praktische Gründe hat [4], geschweige denn sich außergewöhnlich akustisch identifiziert oder produziert, als Angriff auf den gesamten Orchesterkomplex empfunden.

Ungeachtet dessen gibt es heute einige Solisten, die körperlich in der Lage sind, z.B. die schwereren, längeren oder voluminöseren Bratschen zu bewältigen (um bei diesem Beispiel zu bleiben) und sich laut Olaf Kirsch mit dem Gedanken tragen, ein solches Einzelstück anfertigen zu lassen, weil sie von dem phänomenal sonoren oder auch "perfekten" Ton, der mit dieser Konstruktionsweise für dieses Instrument tatsächlich erreicht werden kann, einfach überwältigt sind.

Und ehe er sich versieht, ist der Besucher dieser Ausstellung mittendrin in den Geschichten, Romanen, Possen, Dramen und Tragödien, die sich um Musikinstrumente ranken und die sie erzählen können.

Vier ungewöhnliche Bratschenkonstruktionen - Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Bratsche, ein Problem? - verschiedene Konstruktionen, die Bratsche mit ausreichend Klangvolumen zu versorgen.
Foto: © 2012 by Schattenblick

Sie beginnen und enden jedoch auch nicht bei den ausgestellten Instrumenten. Auch wie das Museum für Kunst und Gewerbe zu dieser großzügigen Schenkung kam, ist eine Geschichte wert. Das Museum lebe davon, betonte die Museumsdirektorin Sabine Schulze, daß - wie in diesem Falle geschehen - Privatsammler sich entschließen, dem Museum ihre Schätze dauerhaft zu überlassen und damit auch dem Publikum die Möglichkeit geben, daß das, was persönlich zusammengetragen wurde, auch in die Öffentlichkeit und ins Bewußtsein kommt.

Professor Dr. Sabine Schulze, Sabine Hanneforth und Olaf Kirsch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Konzentrierte Kompetenz: Museumsdirektorin Professor Dr. Sabine Schulze, Sabine Hanneforth (als Expertin für ihren Vater) und Olaf Kirsch (Kurator für Musikinstrumente des MKG)
Foto: © 2012 by Schattenblick

Ein offenes und geschärftes Ohr für die spannenden Hintergründe der patenten Dinge hatte ganz sicher der leidenschaftliche Instrumentensammler Wolfgang Hanneforth, der diese Sammlung in 30 Jahren zusammengetragen hat, und dessen einzelne Exponate ihm ein fortwährendes Faszinosum boten, wie die Tochter Sabine Hanneforth [5] darstellte. 1977 hatte Hanneforth mit fünf besonderen Stücken damit begonnen, gezielter nach außergewöhnlichen Musikinstrumenten zu suchen und sie hauptsächlich über schriftliche Gebote, die er für Versteigerungen bei Christie's oder Sotheby's einreichte, zu erwerben.

Die anfangs bescheidene Sammlung konnte schließlich durch eine Erbschaft in den 90er Jahren mit einigen exklusiveren Stücken komplettiert werden, so dass bereits 2006 etwa 150 Geigen und Flöten daraus erstmals im Reinbeker Schloß ausgestellt werden konnten. Darüber hinaus begeisterte sich Hanneforth aber auch an den ursprünglichen Ideen und Erfindungsentwürfen und sammelte neben den Instrumenten auch schuhkästenweise Patentschriftkopien, von denen einige Kopien ebenfalls am Rande der Ausstellung in Augenschein genommen werden können. Diese Patente hatten das MKG dann wiederum auf den recht "launigen" Titel der Ausstellung gebracht.

Sabine Hanneforth auf der Pressekonferenz - Foto: © 2012 by Schattenblick

'Ich hätte da noch so 'ne Geige ...'. Wenn jemand nach London fuhr, dann konnte mein Vater diesen mit so einem typischen Schalk im Gesicht davon überzeugen, das begehrte Instrument im Handgepäck mitzubringen.
Foto: © 2012 by Schattenblick

Medienbildschirm zeigt eine Rokokoszene - Foto: © 2012 by Schattenblick

Sinnvolle didaktische Ergänzungen: Ein Medienbildschirm zeigt den Gebrauch der Taschengeige in ihrer früheren Funktion bei einem Minuett
Foto: © 2012 by Schattenblick

Nach Sichtung aller Kisten und Papiere mußte der Kurator für Musikinstrumente, Olaf Kirsch, zugeben: "Wolfgang Hanneforth wußte einfach alles, was es über 'patente Musikinstrumente' auf der Welt zu wissen gibt." Kirsch selbst, der sich bis dahin hauptsächlich mit historischen Tasteninstrumenten beschäftigt hatte, kannte zwar, wie er erklärte, einige Stücke der Sammlung vom Hörensagen, manche, wie die Trichtergeige, durch den Besuch der Reinbeker Ausstellung, war dann nach eigenen Angaben beim Öffnen mancher Hanneforthschen Koffer aber immer noch erstaunt und teilweise auch ein wenig ratlos darüber, was er da eigentlich im einzelnen ausgepackt hatte. Inzwischen haben beide patenten Instrumentenerkunder selbst sehr viel Spannendes zu berichten, vor allem was die Geschichten angeht, "die ihnen die Instrumente erzählt haben". All das geben sie nun didaktisch aufbereitet an die Öffentlichkeit weiter. Denn laut Kirsch sei "nichts langweiliger als Instrumente, die nicht zu hören sind."

Kurator für Musikinstrumente des MKG, Olaf Kirsch - Foto: © 2012 by Schattenblick

'Bei vielen Hanneforthschen Koffern, die ich öffnete, dachte ich: Was ist das denn bloß?', Olaf Kirsch
Foto: © 2012 by Schattenblick

Eine zentrale Geschichte der Ausstellung ist sicher die von Johann Augustus Stroh, dem Uhrmachersohn aus Frankfurt, der in der Telegraphentechnik arbeitete und 1851 zur Weltausstellung nach London fuhr, um dann für immer dort zu bleiben. Ihn faszinierten die technischen Entwicklungen auf den britischen Inseln, so daß er anfing, Edisons Erfindung des Phonographen, der noch mit der Hand gekurbelt wurde, mit einem Uhrwerk zu automatisieren. Ein Nebenprodukt dieser Phonographen- oder Grammophontechnik war dann die Trichtergeige oder Strohgeige, bei der die Schwingung des Steges nicht auf einen Resonanzkörper, sondern auf eine Metallmembran übertragen wird, die wie die Druckkammer eines Lautsprechers funktioniert und dann den Klang über den Trichter um ein Vierfaches lauter als bei einer konventionellen Violine in den Raum abstrahlt. Solche lauten Geigen und auch andere Trichterinstrumente wurden bei der frühen, noch verhältnismäßig unsensiblen Aufnahmetechnik auf Wachswalzen, von etwa 1904 bis 1920 regelmäßig gebraucht, weil eine überzeugende Musikreproduktion mit den leiseren konventionellen Modellen nicht möglich war. Fast vergessen ist auch, daß diese patenten Trichterinstrumente daraufhin nach Amerika zurückimportiert wurden, und wieder von Thomas Alva Edison für Klangaufnahmen verwendet wurden.

Drei Trichterinstrumente, links ein Cello mit nur einer Saite - Foto: © 2012 by Schattenblick

Hier glänzt es! - Drei Trichterinstrumente. Das Cello mit nur einer Saite wurde in Varietés gespielt
Foto: © 2012 by Schattenblick

Instrumente für die Wissenschaft

Die Entwicklung der inzwischen obsoleten Technik wie auch die teilweise höchst dramatische Vorgeschichte des Musikinstrumentenbaus erzählen die Exponate der zweiten Vitrine der Ausstellung zum Thema Wissenschaft und Technik. Sie beginnt mit vier sehr seltsamen Geigenkonstruktionen, die aus der Zeit zwischen 1800 bis nach dem zweiten Weltkrieg stammen und zeigen, wie Naturwissenschaftler immer wieder durch zum Teil recht rabiate Methoden versucht haben, den Klang von Instrumenten zu verstehen, und noch verbesserte Lösungen dafür zu finden. Das erste Instrument der Serie sieht ein wenig selbstgebaut aus: eine grobschlächtige dreieckige Geige 1928 von einem Geigenbauer gebaut, nach der Idee eines französischen Physikers um 1800, der dafür physikalische Experimente mit schwingenden, sandbestreuten Platten anstellte, aber eben auch im zweiten Schritt den alten italienischen Meisterinstrumenten auf den Grund ging, indem er sie zersägte. Tatsächlich seien Stradivaris im Wert von damals 150.000 Franc auseinandergenommen worden, unvorstellbar für die heutige Zeit, in der man Millionen dafür zahlen müßte. Entscheidende Schlußfolgerungen aus dieser "Forschung": die Eigenfrequenzen von Decke und Boden und die Luftfrequenz, die im Innenraum eingeschlossen ist, konnten auf diese Weise genau bestimmt werden, so dass der Audio-Guide des Museums kühn behauptet: "Aus wissenschaftlicher Sicht haben sich diese Opfer doch gelohnt."


Aufstieg und Fall der Stelzner-Instrumente

Das an der Umsetzung solcher wissenschaftlichen Erkenntnisse Musikinstrumentebauerdynastien aufsteigen und wieder niedergehen können, erzählt eine Stelzner-Geige der Ausstellung. Ihre Kurvenformen basieren nicht wie sonst bei Violinen auf geometrischen Kreissegmenten, sondern komplexeren Ellipsen oder Parabeln, die Alfred Stelzner seinerzeit nach komplizierten mathematischen Berechnungen entworfen und patentiert hatte. Stelzner bekam für seine Instrumente zunächst viel Zuspruch durch berühmte Musiker seiner Zeit. Darüber hinaus hat er das übliche Streichquartett aus zwei Geigen, Bratsche und Cello erweitert, indem er zwischen der Bratsche und dem Cello noch eine Zwischengröße, die sogenannte Violotta entwickelte und später noch ein klanglich dem Cello nachfolgendes, tieferes Cellone dazu erfand. Tatsächlich überzeugten diese neuen Töne ein paar spätromantische Komponisten, z.B. Felix Draeseke und Arnold Krug, die verschiedene Stücke dafür komponierten, doch war es nicht so einfach, geeignete Musiker für die virtuose Beherrschung der neuen Errungenschaften zu finden. Letztlich konnten sich die Stelzner-Instrumente, für die der Erfinder eine Fabrik in Dresden gründete, doch nicht durchsetzen. Er ging konkurs und beendete, wie damals oft in diesen Fällen, sein Leben durch den Freitod.

Inzwischen seien Geigen aus Carbon der neueste Clou wissenschaftlich-technischer Klangkörperentwicklung, womit Kirsch bewiesen sieht, daß die Faszination daran, Instrumente zu verbessern oder eine Geige physikalisch in den Griff zu bekommen, trotz dieser gescheiterten Beispiele auch heute noch andauert [2].

Olaf Kirsch vor einer Vitrine der Ausstellung - Foto: © 2012 by Schattenblick

Die zweite Vitrine zeigt die von Naturwissenschaft und Technik geprägte Entwicklung, die dann in den Trichterinstrumenten der Jahrhundertwende um 1900 gipfelt.
Foto: © 2012 by Schattenblick


Die Musik wird geeicht - Stimmgeräte und Zeitmesser

Eine kleine Abteilung technischer Zubehörteile findet sich ebenfalls in dieser zweiten Vitrine der Sonderausstellung. In diesem Bereich der Ausstellung läßt sich u.a. durch didaktische Features die Geschichte der Eichung und Normierung von Musik nachvollziehen. Mit der Eichung der Musik, d.h. der systematischen Erforschung akustischer Phänomene und der damit verbundenen Festlegung auf bestimmte Normen mit letztlich mathematischen Gesetzmäßigkeiten, hat man bereits im 17. Jahrhundert angefangen. Galileo Galilei soll grundlegende Gesetzmäßigkeiten der Resonanzbildung und des Schwingungsverhaltens von Saiten durch Experimente entdeckt haben. Sein Zeitgenosse, der Theologe, Mathematiker und Musiktheoretiker Marin Mersenne ließ in einiger Entfernung eine Kanone abfeuern und maß die zeitliche Verzögerung zwischen dem Aufblitzen des Mündungsfeuers und dem Hören des Schusses. Seither gilt die Schallgeschwindigkeit als eine meßbare Größe und er als Begründer der wissenschaftlichen Instrumentenkunde. Andere berechneten Pendelgesetze und versuchten die seit Einführung der Meßsysteme immer knapper werdende "Zeit in den Griff zu bekommen", was zur Erfindung des Metronoms führte. Ein ganz patentes Metronom, das überhaupt nicht tickt, stellt diese Herangehensweise an die Musik in Frage und erinnert an eine kleine, randständige "Widerstandsbewegung" in der Musik, die heute für die "Wiederentdeckung der Langsamkeit in der Musik" kämpft und das von der Pianistin Grete Wehmeyer aus dem englischen rezipierte Buch "Prestißißimo" zu ihrer Bibel erklärt hat. Die bis heute umstrittene, aber nachvollziehbare These dieser Bewegung ist, daß Musikstücke im 19. und 20. Jahrhundert mit der Industrialisierung und Beschleunigung des Lebens mit zunehmendem Tempo und vor allem schneller gespielt würden, als ursprünglich gedacht.

Technische Zubehörteile für den Themenkomplex 'Die Musik wird geeicht - Stimmgeräte und Zeitmesser' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Auch eine patente Erfindung für Musiker: ein Metronom, das nicht tickt, wirbt für eine Musikbewegung, die die heutige Musik 'entschleunigen' möchte.
Foto: © 2012 by Schattenblick

Ferner wird in dieser Ecke für den interessierten Besucher deutlich, daß die Frage nach dem guten und richtigen Ton, unter Musikexperten als "Stimmtonfrage" bekannt, bei der es tatsächlich in sogenannten Stimmtonkonferenzen um eine Festlegung, Normierung oder Eichung von Kammerton, Chorton, Opernton u.a. Stimmtönen geht, letztlich eine Frage der willkürlichen Festlegung ist. Genau genommen werden bereits an dieser Stelle "anders angestimmte Töne" entsprechender "patenter Instrumente" ausgeschlossen. Eine Sammlung von Bögen und "stummen Geigenmodellen", mit denen ein Geiger üben konnte, ohne seine Umwelt zu belasten, schließen den Bogen zu heutigen elektronischen Instrumenten, in denen beides möglich wird: Die Verstärkung des Klangs (wie bei den alten Trichterinstrumenten) wie auch die Verstummung des Instruments, wenn man den Stecker aus der Box zieht.

Jedes dieser seltsamen, randständigen, mit einem erfinderischen Hintergedanken etwas abweichlerischen Instrumente bestätigen entweder durch ihre bloße Existenz alle bestehenden Konzepte oder stellen sie in Frage. Ein "patenter" Besucher dieser Ausstellung bekommt möglicherweise und vielleicht unbeabsichtigt durch die Veranstalter einen einfacheren Einstieg in kritische Fragestellungen und Zusammenhänge, die sich bei dem bloßen Nachvollzug der Bauweise konventioneller Instrumente gar nicht stellen würden. In jedem Fall verläßt er die Ausstellung um viele spannende Fragen und zahllose Geschichten reicher.

Flageolett und Doppelflageolett - Foto: © 2012 by Schattenblick

Mehr Schein als Sein? Mit einem Flageolett konnte auch ein Laie spielerische Virtuosität vortäuschen, was ihm gesellschaftliche Anerkennung einbrachte.
Foto: © 2012 by Schattenblick

Anmerkungen:

[1] Ankündigung der Ausstellung im Schattenblick siehe auch:
www.schattenblick.de/infopool/kunst/veransta/vaus7683.html

[2] ein Interview zum Thema "patente Instrumente" mit Kurator Olaf Kirsch folgt

[3] Was es damit auf sich hat, erläuterte Kirsch während einer Führung genauer: Die Bratsche ist eine Quint tiefer gestimmt als die Violine, woraus sich ein Frequenzverhältnis von 2:3 ergibt. D.h. auch der Corpus einer Bratsche müßte folglich im Verhältnis 2:3 größer sein als die Violine. Das wurde aber aus anatomischen Gründen nicht gemacht, weil ein derart großes Instrument schwer zu beherrschen war. Daher haben Bratschen einen leicht nasalen Klang, als beschwerten sie sich darüber, daß sich ihr Grundton aufgrund des fehlenden Klangkörpers nicht so gut ausbreiten kann. Die Exponate der Ausstellung unter dem Titel "Die Bratsche - ein Problem?" zeigen Lösungen, die das Verhältnis 2:3 berücksichtigen und daher einen angemessen sonoren Klang haben, nur sind sie von vielen Musikern nicht mehr zu bewältigen.

[4] Die Ausstellung zeigt u.a. eine gitarrenförmige Geige von François Chanot, 1780, Mirecourt, der zwar einer traditionellen Geigenbauerfamilie entstammte, selbst aber zunächst eine Ausbildung zum Schiffsbauingeneur genossen hatte und erst später wieder in die väterlichen Fußstapfen trat. Seine Geige hat eine nach hinten gebogene Schnecke, die es dem Spieler sehr viel leichter macht, an die Wirbel zum Einziehen der Saiten zu kommen. Die Gitarrenform verzichtet auf die typischen Ecken der konventionellen Geige, für die dafür innen Klötze eingelegt sind. Der Grund: Die Klötze sollten nach Chanot den Korpus am Schwingen hindern. Außerdem läßt sich diese Form sehr viel einfacher herstellen; ein pragmatischer Ansatz - aber ein Skandal für das orchestrale Ordnungsgefüge.

Ein anderes für das Orchester zu fremdartiges Modell, das sich nicht durchsetzen konnte, war das von Julius Zoller, Ingenieur und Leiter der Telefunken Entwicklungsabteilung, Mitte des 20. Jahrhunderts. Er hatte die Idee, daß eigentlich die Schwingung der Geigendecke maßgeblich für den Klang verantwortlich ist und fand es ungünstig, daß die F-Löcher der Geige gerade hier die Holzfasern unterbrechen. Deshalb sind die Schallöcher seiner Geige in den Zargen (der Seitenwände der Geige) eingelassen. Darüber hinaus nimmt die Dicke der Geigendecke zu den Rändern hin bis zur Stärke einer Membran ab und unter dem Griffbrett wurde eine auf C-gestimmte Resonanzseite eingebaut. Das Instrument wurde 1948 auf der Musikmesse in Leipzig vorgeführt. 200 Stück wurden davon verkauft, die er in einer Fabrik mit 50 bis 60 Instrumenten monatlich produzierte, doch anstatt einen Paradigmenwechsel einzuleuten, wie Zoller dachte, setzte sich auch dieses kleine Meisterwerk nicht durch.

[5] ein Interview mit Sabine Hanneforth über den Stifter der Sammlung folgt

Eingangstür zur Ausstellung 'Patente Instrumente. Schnabelflöten, Trichtergeigen und andere Erfindungen' - Foto: © 2012 by Schattenblick

'Hier geht 's lang'. Die Ausstellung 'Patente Instrumente' des Museums für Kunst und Gewerbe ist nicht zu verfehlen.
Foto: © 2012 by Schattenblick

23. Juni 2012