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BERICHT/022: Blüten für Weihnacht - Dickens nach Noten (SB)


Christian Bergs Weihnachtslied oder Wie Ebenezer Scrooge zum Musical-Star wurde

Am 16. Juni 2014 stellte die Komödie Winterhuder Fährhaus in Hamburg erstmals ihr neues Weihnachtsprojekt vor


Frontseite der Komödie Winterhuder Fährhaus - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

"Humbug, Humbug, Weihnachten ist Humbug!" erklingt es aus der Kehle des alten, unbeugsamen Geizhalses Scrooge in Charles Dickens' Weihnachtsgeschichte, die Drehbuchautor und Scrooge-Darsteller Christian Berg und Komponist Michael Schanze am 22. November 2014 in der Komödie Winterhuder Fährhaus erstmals zur Aufführung bringen. Doch die Kinder werden Ebenezer Scrooge Lügen strafen, denn wie kann Weihnachten Humbug sein, wo sie doch alle mit der wohl ersten Vorfreude auf das Fest zusammen mit ihren Freunden und Familien unter Spannung verfolgen dürfen, wie drei Geister Ebenezer Scrooge zum Guten bekehren.

Vielen Erwachsenen ist Dickens so ausdrucksstarke Erzählung vielleicht nur noch als Schatten der Vergangenheit in Erinnerung: Es ist die Nacht vor Weihnachten. Ebenezer Scrooge, mittlerweile alleiniger Inhaber eines Finanzunternehmens, das viele Menschen mit erbarmungslosem Wucher ins Unglück gestürzt hat, erhält nächtlichen Besuch. Drastisch wird ihm von Marley, seinem längst verstorbenen Partner, seine Zukunft vor Augen geführt: ein furchtbares, einsames Ende und das Schicksal, als von seiner Schuld getriebener Geist umherzuirren. Doch das ist nicht die einzige Botschaft, denn in dieser Nacht erhält er auch seine letzte Chance. Und wenn die Stimmen anheben: "Ebenezer Scrooge, sie rufen deinen Namen, Ebenezer Scrooge, sie kennen kein Erbarmen, wenn du nicht jetzt, wenn du nicht jetzt und hier die große Chance ergreifst!" beginnt die Geschichte von einem, der, wie es heißt, die Liebe verlor, zu einem denkwürdigen aber auch bedenkenswerten Ereignis zu werden.

Plakat zum Musical: Es zeigt Ebenezer Scrooge in Hut und Mantel, der erschrocken einen winzigen Geist mit leuchtender Kerze auf dem Kopf ansieht - Illustration: © 2014 by Nicola Maier-Reimer

Illustration: © 2014 by Nicola Maier-Reimer

Ist es die Moral, die hier am Ende ihre Wirkung zeigt? Sicherlich nicht allein. Vielmehr spricht die Geschichte noch etwas Tieferliegendes an. Möglicherweise ist an der Stelle, wo der Schmerz - sowohl der eigene als auch der des anderen - angesichts von materieller Not, von Trennung, der Angst vor dem Alleinsein und dem Ausgegrenztsein spürbar wird, der Mensch anzutreffen.

Charles Dickens lebte Anfang des 19. Jahrhunderts in England. Mit der beginnenden Industrialisierung zog es viele Menschen vom Land in die Städte, weil sie sich dort ein besseres Leben versprachen. Statt dessen trafen sie auf Arbeitsbedingungen mit Hungerlöhnen und mußten auch hier um ihr Überleben kämpfen. Kinderarbeit war üblich. Auch Dickens mußte im Alter von 11 Jahren für ein paar Pennys in der Woche arbeiten, die ganze Familie lebte im Schuldgefängnis. Fast alle seine Erzählungen beschreiben die schrecklichen Verhältnisse, die zu jener Zeit herrschten. An Aktualität hat das Thema leider nie verloren. Die Zahlen sprechen für sich: Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind (Jean Ziegler, früherer UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, im Interview auf Deutschlandradio Kultur, 12.09.2012). 842 Millionen Menschen weltweit leiden nach Angaben der UNO an chronischem Hunger (FAO News, 1.10.2013). 19 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind von Armut bedroht (Spiegel online, 9.1.2014), ausgedrückt in Zahlen sind das etwa 2,5 Millionen. Die Lebensumstände sind für viele Menschen die gleichen, nur daß die Verantwortlichen von heute mit Gespenstergeschichten und einer angedrohten Konsequenz für eine Zeit nach dem Leben kaum noch zu beeindrucken sind.

Christian Berg mit Hut - Foto: © 2014 by Schattenblick

Christian Berg
Foto: © 2014 by Schattenblick

Christian Berg hat diese Bekehrungsgeschichte von klein auf fasziniert, aber viele Jahre mußten vergehen, bevor er einen Traum umsetzen konnte: nicht nur Michael Schanze, eines seiner Kindheitsidole, als Komponisten für sein Musical zu diesem Stoff zu gewinnen, sondern auch den alten Scrooge selbst darzustellen. Nachdem nun das Drehbuch verfaßt ist, müssen bis zur Premiere im November noch viele Noten geschrieben werden. Die Präsentation im Winterhuder Fährhaus am 16. Juni ließ ahnen, mit wieviel Wucht und welcher Vielfalt das Werk daherkommen wird. Der Auftritt des verstorbenen Teilhabers, der in Ketten und tiefer Verzweiflung für sein schuldhaftes Leben büßt, kommt musikalisch wie ein Donnerschlag daher, der nicht nur den eigentlich durch nichts mehr zu rührenden Wucherer, sondern auch die Zuhörer aus der Routine reißt.

Die drei Geister - die für die vergangene, gegenwärtige und zukünftige Weihnacht stehen - haben im Verlauf ihrer nun bereits 171 Jahre, die verstrichen sind, seit Dickens diese Erzählung schrieb, in Christian Bergs Fassung eine Metamorphose durchlaufen, um die Kinder von heute anzusprechen. So ist der Geist der vergangenen Weihnacht in Bergs Version ein bißchen 'durchgeknallt' und glaubt, unsichtbar zu sein.

Foto: © 2014 by Schattenblick

Michael Schanze und Christian Berg
Foto: © 2014 by Schattenblick

Der Drehbuchautor verbindet mit dieser Figur eine klare Botschaft, die mit der ursprünglichen von Dickens, der damit an den Srooge eines früheren Lebens erinnert, nichts mehr zu tun hat: 'Es ist in Ordnung, anders zu sein. Man muß sich nicht verstellen, sondern kann das auch mal zugeben. Gerade dieses Anderssein macht unsere Welt erst bunt.'

Dennoch hat Christian Berg die von Dickens verfaßte und gezielt vor Weihnachten im Jahr 1843 veröffentlichte Erzählung bewußt gewählt:

Die Geschichte dreht sich um soziale Probleme und um Armut. Scrooge steht für das wirtschaftliche Prinzip, Gewinnmaximierung ohne Rücksicht auf Verluste durchzuziehen. Und doch sind dann da - und das ist die Hoffnung, die ich jeden Tag, wenn ich auf eine Bühne gehe, für diese Welt habe - kleine Sterne, die uns in unser Herz strahlen und die uns vielleicht teilweise, und wenn wir noch so hartherzig sind, zur Umkehr bringen und vielleicht auch mit Liebe zwingen.

Mitgefühl und Verständnis für den anderen, das haben Christian Berg und Michael Schanze in ein wunderbares musikalisches Zwiegespräch zwischen Scrooges für einen Hungerlohn arbeitenden Sekretär Cratchit und dessen kleinstem, todkranken Sohn, Tiny Tim, verwandelt. Der Vater:

Wenn ein Stern geboren wird in die weite Sternenwelt,
dann steht irgendwo am Himmelszelt ein großer Stern, der zu ihm hält.
Und so, mein Sohn, verhält es sich auch in diesem Leben:
Du bist das Sternchen, ich der Stern, und ich will dir geben, ...
Michael Schanze und Christian Berg am Flügel - Foto: © 2014 by Schattenblick

Wenn ein Stern geboren wird ...
Foto: © 2014 by Schattenblick

Es sei der Motor seiner Arbeit, meint Berg dazu, Kindern und Menschen Mut und Hoffnung zu machen und gerade Kindern zu sagen: "Egal, wer du bist, egal woher du kommst und egal, in welcher Situation du dich befindest: Es gibt einen Weg ..." und weiter: "Wenn morgen die Welt untergeht, würde ich heute noch mal ein Apfelbäumchen pflanzen." Schanze: "Das ist das, wo Christian Berg und ich auf einer Wellenlänge sind. Das finde ich das Traurigste, wenn Menschen tatsächlich die Hoffnung verloren haben. Ich glaube, das ist eine der schlimmsten Einbußen im Leben, die man erleben kann."

Die vorgestellten Partien haben Ohrwurmqualität, weil sie einerseits gerade soviel Bekanntes haben, das man wiederzuerkennen meint, aber nicht genau zuordnen kann, und zum anderen soviel Neues, daß man damit beschäftigt ist, wie genau die Melodie und der Text noch weitergingen. Sicherlich werden Kinder und Eltern mitsingen, wenn das bekannte alte Weihnachtslied Adeste fideles erklingt, von dem man vielleicht nicht den Titel, aber doch die Melodie kennt. Die schöne Weihnachtsstimmung, die damit gerade wächst, wird durch den harten Rap eines Scrooge gestört, der 'Weihnachten ist Humbug' vor sich hinschimpft, und aus dem heraus sich neue Melodien entwickeln. Denn glücklicherweise ist im Musical alles denkbar.

Michael Schanze hat, so zeichnet es sich ab, im Komponieren dieses Musicals seine Aufgabe gefunden. Der klassisch ausgebildete Musiker, der vom Sängerknaben über die eigene Combo und zahllose Schlager in das Genre gefunden hat, überzeugt an diesem Platz. Mit viel Begeisterung für das gemeinsame Vorhaben und der Leidenschaft eines Musikers, der in Tönen und Melodien aufgeht, gab er mitreißende Kostproben von dem, was zu Weihnachten in der Komödie Winterhuder Fährhaus erwartet werden kann.

Bildserie: Michael Schanze am Flügel - Fotos: © 2014 by Schattenblick Bildserie: Michael Schanze am Flügel - Fotos: © 2014 by Schattenblick Bildserie: Michael Schanze am Flügel - Fotos: © 2014 by Schattenblick

Kostproben am Flügel
Fotos: © 2014 by Schattenblick

Die Chance des Familientheaters besteht darin, Träume zu berühren und Abenteuer zu erleben, die wir als Erwachsene schon fast vergessen haben. Sein Problem, daß es zu wenig Beachtung erfährt, könnte in diesem Sinne genau seine große Chance sein, denn es eröffnet einen Raum jenseits der Erfordernisse der Erwachsenenwelt. Dafür gilt es eine Lanze zu brechen und jene zu würdigen, die sich mit viel Engagement für das Familientheater einsetzen. Christian Berg bringt über 25 Jahre Bühnenerfahrung als Autor, Schauspieler, Regisseur und ehemaliger Produzent im Bereich des Kinder- und Familienmusicals mit und ist sich sicher, was er auf die Bühne bringen muß, um sein Publikum zu erreichen.

Während der Pressekonferenz an einem Tisch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Michael Lang, Christian Berg, Michael Schanze und Christian Ludewig (v. li. n. re.)
Foto: © 2014 by Schattenblick

Michael Lang, der künstlerische Leiter des Winterhuder Fährhauses, ist zuversichtlich und betont die außergewöhnliche Zusammenarbeit zwischen Berg und Schanze: "Wir haben hier zwei Menschen, die für große Vielfalt stehen, die man nicht eben mal so in eine Schublade stecken kann, und welche die Menschen jeweils als Entertainer, als Komponist, als Interpret, als Schauspieler, Autor und Regisseur unterhalten können." So etwas sei viel zu selten in diesem Lande, und wenn das auch noch derart geballt in ihrem Haus angeboten werde, könne eigentlich überhaupt nichts mehr schiefgehen.

Alles in allem jedenfalls könnte der Coup gelingen. Ebenso könnte jedoch, vielleicht generationsbedingt, die künstlerische Arbeit dieser beiden Bühnenprofis durch die Kombination eines immerwährenden Weihnachtsthemas mit althergebrachten Klugheiten auch Gefahr laufen, das Publikum zu ermüden.

22. Juni 2014