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BERICHT/032: Bis in die Gegenwart - Ein altneuer Kampf (SB)


Lieder gegen den rechten Aufmarsch - von damals und von dieser Zeit

Kai Degenhardt am 17. September 2016 im Polittbüro in Hamburg-St. Georg


Wenn selbst die Bundesregierung in ihrem jüngsten Schadensbericht von der innerdeutschen Ostfront warnend die Stimme erhebt, der rechte Aufmarsch füge dem Wirtschaftsstandort der neuen Länder gravierenden Schaden zu, spricht das Bände. Das jahrelang kolportierte Märchen, die "blühenden Landschaften" zeichneten sich bereits am Horizont ab, ist nun auch nach offizieller Lesart Makulatur. Wie es im aktuellen Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit heißt, bereite die zunehmende Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland der Bundesregierung Sorge. Diese "besorgniserregenden Entwicklungen" hätten das Potential, "den gesellschaftlichen Frieden in Ostdeutschland zu gefährden". In den Protesten gegen die Aufnahme von Flüchtlingen sei deutlich geworden, daß die Grenzen zwischen bürgerlichen Protesten und rechtsextremistischen Agitationsformen zunehmend verschwimmen: "Neben unzähligen Angriffen auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte sind gewalttätige Ausschreitungen wie in Heidenau und Freital zu Symbolen eines sich verfestigenden Fremdenhasses geworden." [1]

Wie sehr hätte man sich solche Warnungen schon vor vielen Jahren gewünscht, als fremd aussehende Menschen auf offener Straße gejagt und totgeschlagen wurden, Flüchtlingsunterkünfte brannten und der NSU angeblich unerkannt seine Verbrechen verübte. Wenn heute ökonomische Einbußen beklagt werden, ohne die Ausplünderung des Ostens nach dem Anschluß der DDR beim Namen zu nennen, und die schrumpfende Bevölkerung abermals in die Pflicht genommen wird, die Misere zu schultern, blendet dies eine substantielle Auseinandersetzung mit der Wiederkehr nationalistischer und rassistischer Strömungen in Deutschland wie auch zahlreichen weiteren europäischen Ländern systematisch aus.

Wendet sich in Zeiten existentieller Unsicherheit ein Mensch gegen den anderen, um ihm die schwindenden Lebensmöglichkeiten streitig zu machen, gemahnt dies an eine stets unter der Oberfläche mehr oder minder saturierter Bürgerlichkeit lauernde Grunddisposition, die hervorbricht, wenn abermals der Sammelruf ertönt und ohnmächtige Wut in mörderische Aggression gegen Feindbilder zugespitzt wird. Zugleich bleibt die reaktionärste Variante nationalchauvinistischer Staatlichkeit eine nie auszuschließende Option der Herrschaftssicherung, sollte sich diese auf Grund von sozialen Verwerfungen im Inneren oder verschärften Konkurrenzkämpfen auf äußeren Feldern in ihrem Bestand gefährdet sehen.


Veranstaltungsplakat zeigt Kai Degenhardt im Konzert - Foto: 2016 by Schattenblick

Foto: 2016 by Schattenblick


Der Herkunft getreu im Streit mit der Übermacht

Wenn die versprengte Schar jener Linken, die ihrer Herkunft und ihrer Überzeugung getreu den Streit mit der Übermacht herrschender Verhältnisse nicht preiszugeben bereit sind, und in dieser fatalen Gemengelage ihre Stimme erheben, ohne den ständig schielenden Blick darauf, ob sie massentauglich oder eher nur minderheitenfähig ist, gehört der Liedermacher Kai Degenhardt sicherlich dazu. Mit seinem neuen Programm "Lieder gegen den rechten Aufmarsch - von damals und von dieser Zeit" [2], das am 17. September im Polittbüro am Steindamm im Hamburger Stadtteil St. Georg erstmals zur Aufführung kam, schlägt er eine Brücke von den "Wölfen mitten im Mai" seines 2011 verstorbenen Vaters Franz Josef Degenhardt zur Auseinandersetzung mit der wiedererstarkten Rechten der Gegenwart, wie er sie in seinen eigenen Liedern führt. Wenngleich ein halbes Jahrhundert ins Land gezogen ist, seit alte und neue Nazis wieder in westdeutsche Parlamente eingezogen sind, mutet dabei das Material aus dem "Familienfundus" bestürzend aktuell an. Gekreuzt mit dem zeitgenössischen Griff in das Desaster neoliberaler Verwerfungen erwächst daraus ein Kunstgenuß im besten Sinne, dessen sprachliche Kraft und musikalische Ausdrucksstärke erfrischen, ermutigen und aufrütteln. Als exzellenter Musiker und Arrangeur, der gut 20 Jahre lang gemeinsam mit seinem Vater sämtliche Auftritte und Tonträger gestaltet hat, ist Kai Degenhardt ein ebenso authentischer Interpret der "Klassiker" wie politischer Liedermacher eigenständiger Provenienz, der sich des Gegenwärtigen mit innovativen Gestaltungsmitteln annimmt.

Gleich zu Anfang wirbt er mit "Der Vorschlag", einem Lied, das an diesem Abend uraufgeführt wurde, in rasantem Sprechgesang für ein freiwilliges Auslandsjahr der besonderen Art - hier auszugsweise angedeutet, mithin unzulässig verkürzt:

Schlechte Zeiten bei all der Konkurrenz da draußen, graue Tage ohne Perspektiven, Ödnis, Langeweile, stupider Kälbermarsch. Manchmal träumt man sich einfach nur weg - wie wäre es denn mal mit einem freiwilligen Auslandsjahr? Nicht der Quatsch vom lebenslangen Lernen, sondern Horizonte, Palmen, wohin man schaut, in einem globalen Netz aus Camps. Skills breit gefächert, Body-Workout in voller Armatur und schon nach acht Wochen eine ultimative Strandfigur.

Die Rede ist - unschwer zu erkennen - von Auslandseinsätzen im Krieg und davon, daß man als Entscheider nun mal in einem ständigen Gewissenskonflikt lebt. "Was soll das heißen: Mörder - Frauen, Kinder? - ist doch immer das Problem: Kombattant oder Dingsbums - wollt ihr das entscheiden?"

Ein starkes Stück eines neuen Degenhardt, - schärfer, pointierter als man es von manch früheren Stücken her kennt und mit Akkorden unterlegt, die so dissonant sind wie die Wirklichkeit, die der Künstler in seinen Texten beschreibt.

Eine zwangsläufige Begleiterscheinung des Kriegsdienstes beleuchtet wenig später "Homecoming". So wenig die unzähligen Toten, Verstümmelten, Vertriebenen im fernen Kriegsgebiet die Menschen im Herkunftsland der Okkupationsarmee rühren, so nahe geht ihnen das eigene Opfer im Leichensack - nur zu verständlich und zugleich von einer höchst befremdlichen Widersprüchlichkeit, bis man erahnt, wie komplementäre Emotionen um die Achse ewigen Vorteilsstrebens zu Lasten anderer oszillieren.

Kai Degenhardt fällt nicht mit der Tür ins Haus, singt nicht AgitProp und arbeitet keine Tagespolitik ab, was jenen mißfallen mag, die rechten Marschtritt hassen, aber linken lieben, ohne darüber ins Grübeln zu kommen, wie das geht. So dezidiert er Neoliberalismus, Kriegstreiberei und Neuer Weltordnung eine Absage erteilt, geschieht dies in Auslotung näher oder ferner anmutender Facetten der aktuellen Lebenserfahrungen, die erst als Ensemble die unverzichtbare Breite und Tiefe eines möglichen Widerstands und Gegenentwurfs hinreichend umreißen. Reale und erfundene, gestrige und heutige Geschichten und Schlaglichter, die den rechten Aufmarsch in seinen Voraussetzungen und Erscheinungsformen ins Visier nehmen, mäandern nur dem ersten Anschein nach hierhin und dorthin. In der Gesamtschau des Abends erschließt sich die vielfältige und zugleich verdichtende Komposition des Programms, die Faden um Faden zu einem letztendlichen Strang verknüpft, den man gemeinsam in die Hand nehmen kann.

Wenn August der Schäfer "Wölfe mitten im Mai" gehört hat, doch seiner Warnung niemand Gehör schenkt, ist dies eines der poetischen Meisterwerke aus der Feder Franz Josef Degenhardts und gleichsam der unübertroffene Klassiker des linken Liedguts, wo es gilt, dem Wiedererstarken reaktionärster Umtriebe Einhalt zu gebieten, bevor es zu spät ist. Mitte der 60er Jahre geschrieben, als die NPD in sieben Landtage einzog, ist es nicht nur auf Grund der aktuellen gesellschaftlichen Konfliktlage heute so brisant wie damals. Als Metapher blutgieriger Bedrohung trifft es die nicht beim Namen genannte Gefahr viel präziser und überdauernder, als es ein plakativer Appell und Aufruf je leisten könnte.

Auch die Tragödie einer Linken, die an den Grundfesten der herrschenden Verhältnisse zu rütteln schien, doch wenig später unter Zerwürfnissen, Fluchten und Basteln an Nischen und Posten im neuen Establishment zerfiel, kam nicht zu kurz. "Zwischentöne sind bloß Krampf im Klassenkampf", so Franz Josef Degenhardt in einer bestimmten Phase dieser Auseinandersetzung, was er später revidierte, als sich die "Genossinnen und Genossen" darüber klar zu werden versuchten, was schiefgelaufen war. In seinem Lied "Als ich älter war" nimmt Kai Degenhardt Bezug auf eine Entwicklung, die im Sinne eines Emanzipationsprozesses viel weiter vorangeschritten war, als sie es heute ist. Die kaum noch vermittelbare damalige Aufbruchstimmung endete im deutschen Herbst, und die neoliberale Offensive schleifte die erkämpften Errungenschaften in der Arbeitswelt wie auch im Sozialbereich.

Musikalisch gediegen, nie der Virtuosität um ihrer selbst willen verfallen, mit einer geradezu unterschwelligen Raffinesse effektvoll begleitet oder von ihr nach vorn getragen, ist Degenhardts eigenes Werk in seiner Vielfalt stets für eine Überraschung gut. Wenn er in "Weiter draußen" seinem Publikum demonstriert, wie er über einem wiederkehrenden Loop seine Melodie aufbaut, ist dies allenfalls eine Andeutung seines Potentials, das nicht überfrachtet oder entufert, sondern mitunter fast sparsam eingesetzt zu einer Reise der Worte und Klänge einlädt.


Durch die Zeiten dieselbe Front

Die postapokalyptische Rückschau des kleinen Clans auf die überaus befremdlichen Widersprüche "In den guten alten Zeiten" vor der atomaren Katastrophe hält der hochrüstenden und kriegstreibenden bundesdeutschen Gesellschaft den Spiegel vor. Als vor über 50 Jahren dieses Lied entstand, bezog erstmals nach dem Weltkrieg und NS-Staat wieder eine außerparlamentarische Bewegung Position gegen die atomare Bewaffnung. Heute stehen diese Atomraketen noch immer bereit und sind so bedrohlich wie selten zuvor, während weltweit Interventionskriege geführt werden. Nach der großen Krise, die jetzt schon im achten Jahr ist, hat sich der mörderische Flächenbrand von Mali bis in die Ukraine ausgebreitet, überall mit deutscher Beteiligung. Es bedarf keiner großen Heere mehr, sondern oftmals kleinerer Kontingente von gut ausgebildeten Spezialisten einer Armee der Freiwilligen. Die Bundeswehr kommt an die Schulen und in die Jobcenter, Unterhaltungssternchen fahren zur Bespaßung an die Front.

Doch von der Fahne gehen heißt immer noch "desertieren". Die melodiöse gleichnamige Ballade vom Abhauen, bei dem man alles hinter sich läßt, um mit Auto und Gitarre auf Tingeltangeltour durch Frankreich, England, Irland zu ziehen, zeichnet einen Traum oder gar Entwurf des Desertierens von unausweichlich anmutenden gesellschaftlichen Zwängen, die heute so eng geschnürt sind, wie man dies im Jahr 1967 selbst in finstersten Alpträumen kaum für möglich gehalten hätte. Damals wohnte Kai Degenhardt in Saarbrücken, wo seine Eltern zu einer Gruppe von Leuten gehörten, die den in der Nähe stationierten GIs während des Vietnamkriegs zur Flucht über die grüne Grenze nach Frankreich verhalfen. "P.T. aus Arizona", der natürlich nicht fehlen darf, war beileibe keine bloße Fiktion oder ferne Sicht des Liedermachers Franz Josef Degenhardt, sondern Bestandteil konkreten Engagements gegen den Krieg.

Damals kamen die ersten Wirtschaftsasylanten, genannt Gastarbeiter, nach Deutschland. Zu Zeiten eines Konzerts 1971 in Augsburg hingen Wirte Schilder an ihre Tür: "Zutritt für Gastarbeiter verboten!" Eine Anzeige wegen Volksverhetzung wurde von der Staatsanwaltschaft mit der Begründung abgewiesen, daß Gastarbeiter gar nicht zur Bevölkerung gehörten und im übrigen bekannt sei, daß sie zu Gewalttaten, Messerstechereien und zur Sachbeschädigung neigten. "Tonio Schiavo" aus dem Mezzogiorno konnte, wie wir wissen, sich des Paradieses, das irgendwo bei Herne liegt, nur bis zum Richtfest des von ihm miterbauten Hauses erfreuen.

Die große kapitalistische Systemkrise seit 2007 hat nicht nur hierzulande viele Errungenschaften der 'goldenen' Jahre weggefegt, sondern vor allem im europäischen und globalen Süden weite Teile der Bevölkerung an den sozialen Abgrund getrieben. Man spricht von über 30 Millionen Arbeitslosen aufgrund dieser Krise weltweit. Die autoritäre Variante zur Sicherung der bürgerlichen Herrschaft ist überall wieder eine ganz normale Option geworden: Goldene Morgenröte in Griechenland, Front National in Frankreich, die Wahren Finnen, Ustascha in Kroatien, Swoboda in der Ukraine, ganz zu schweigen von den selbsternannten Abendlandschützern, den vereinigten Hooligans oder den mordenden Banden des NSU hierzulande. Im letzten Jahr wurden 1000 Anschläge auf Asylbewerberheime verübt. Haß und Jagd auf Fremde haben gerade in Deutschland eine barbarische Tradition, als breche sich ein archaisches Muster Bahn. "So sind hier die Leute", sang schon Franz Josef Degenhardt in seiner düsteren Milieu- und Charakterstudie eines mordlüsternen Volkes, das bezichtigt und totschlägt, was sich an Fremdem zu ihm verirrt.

Und heute? Im Lied "Die Tötung" oder "Wir gehen rein", das lange vor dem Asylpaket II zum Schicksal Oury Jallohs geschrieben wurde, kontrastiert Kai Degenhardt in wechselnder Perspektive einen Asylbewerber mit einem Behördenmitarbeiter und einer Angestellten im Jobcenter bis zum Tod in Abschiebehaft und der geschlossenen Akte:

Und ihr, die powered by emotions, kennt schon alle Katastrophen, seid gelangweilt oder gähnt über dieses Mörderlied, das nur irgendwas erzählt, doch die Herzen nicht berührt, weil es jeden Tag passiert.

Damit es dabei nicht bleibt, folgt ein Lied für alle die mithelfen: Pastor Klaus nimmt Flüchtlinge auf. Rosemarie weigert sich, einen ausländischen Bankräuber bei der Gegenüberstellung wiederzuerkennen. Lisa, Toni und Gerd laufen in die brennende Unterkunft in Riesa, um zu retten, was zu retten ist. Natascha Speckenbach ist und bleibt die schlichte Genossin von der Ruhr, die hilft, wo sie kann. Das "Lied für die ich es sing" erzählt von der praktischen Solidarität von Mensch zu Mensch - und läßt sich von der geringschätzig angetragenen Frage, wer denn heute noch linke politische Lieder hören wolle, nicht ins Bockshorn jagen.

Am Ende verlangte ein sehr aufmerksames und zurecht begeistertes Publikum Kai Degenhardt zwei Zugaben ab, die er gerne als Krönung und zum Ausklang seines Konzertes gab. "Tag im Mai", ein wunderbar ergreifendes Liebeslied, und schließlich zum Abschied der Soundtrack auf die bürgerliche Leistungs- und Auslesegesellschaft, die den Hintergrund bildet für den neuen rechten Aufmarsch: "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern" ...

Dem Augenschein nach stand Kai Degenhardt an diesem Abend mit seiner Gitarre allein auf der Bühne, und doch beschlich einen noch lange Zeit später der Zweifel, ob dieser Eindruck nicht trog. Lugte da nicht der Filzhut August des Schäfers hervor, stand dort nicht der Rotschopf mit dem Hinkefuß nächtens vor der Tür, saßen wir nicht unter den Brutgenossen an der Zwischenkieferwand? Gingen wir nicht an Bord und kreuzten weiter draußen oder spürten den Sommerwind bei der Tour durch Südfrankreich im Gesicht, starrten in die Zelle des Abschiebeknasts oder hockten am Ende plötzlich wieder im Kaninchenstall? Wer wollte das schon mit Sicherheit sagen oder vehement bestreiten!


Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fremdenhass-im-osten-bereitet-bundesregierung-sorge-a-1113185.html

[2] Siehe dazu im Schattenblick
INTERVIEW/058: Bis in die Gegenwart - Lieder, Klassenkampf und rechte Aufmärsche ...    Kai Degenhardt im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0058.html

25. September 2016


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