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NACHLESE/002: Achim Reichel 2012 - Alte Werte, neue Welt (SB)


Wo die Unzufriedenheit ist, schlummern Antworten

Interview mit Achim Reichel am 16. November 2012



Vor zwei Jahren traf der Schattenblick den Ausnahmemusiker Achim Reichel aus Anlaß eines "Generation Talk" über technische Innovationen, Kreativität und Kommerz im Musikgeschäft an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg. [1] Zum Ende seiner vierten Tour "Solo mit Euch", in dem der Altrocker und Musikpoet aus fünf Jahrzehnten Musikgeschichte erzählt, singt und spielt, ergab sich die Gelegenheit, im Rahmen einer "Nachlese" das Gespräch über die Erfahrungen mit dem neuen Tourformat, über Reaktionen des Publikums, den Niedergang des Musikbusiness, die Schwierigkeiten mit der eigenen Kultur und die Notwendigkeit einer Neuorientierung in der Welt an einem grauen Novembertag in Husum fortzusetzen.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Achim Reichel im Gespräch mit dem Schattenblick
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Als wir uns vor zwei Jahren in Hamburg trafen, war die Tour "Solo mit Euch" noch relativ in den Anfängen. Was ist seitdem passiert?

Achim Reichel (AR): Eigentlich hatte ich die Tour ja überhaupt nur anberaumt, weil ich Lust auf was anderes hatte, und da kam mir der Gedanke an solche Story-Teller-Tourneen. Beim ersten Mal 2009 ist das derart positiv gelaufen, daß ich doch sehr überrascht war. Der Veranstalter hatte dann schon so viele Anfragen fürs nächste Jahr, daß ich gesagt habe, na jooh, dann machen wir das zweimal. Nun läuft die Tour bereits zum vierten Mal und ich muß zugeben, daß ich, als es jetzt wieder losging, dachte, hoffentlich erstickst Du nicht in so einer gewissen Routine, die ich eigentlich immer sehr scheue. Aber wenn man dann merkt, wie das Publikum reagiert - die Reaktionen äußern sich ja heute nicht nur im Applaus, sondern auch im Gästebuch oder auf Facebook - dann wird deutlich, daß man ein Terrain betreten hat, wo die Leute sagen: Wir erleben da viel mehr. Ein Journalist hat das einmal herrlich auf den Punkt gebracht: Wenn ich mir jetzt ein normales Konzert ansehe, dann werde ich hinterher immer das Gefühl haben, mir fehlt was, wieso erzählt der nicht mehr, wie es dazu gekommen ist, und was denen dabei im Kopf rumging und diese ganzen Dinge? Man findet währenddessen doch wieder Gefallen daran, verschiedene Regionen Deutschlands zu bereisen, vornehmlich in schönen Theatern zu spielen, die unterschiedlichen Mentalitäten zu erleben - und dann tue ich's doch gern.

SB: Sie und Rudi Dolezal, der eine DVD dazu produziert hat, sprachen damals von einem Experiment. Heute, zum Ende der vierten Tour, kann man sagen: Experiment gelungen. Worauf führen Sie den Erfolg zurück?

AR: Aus meiner Sicht ist es so, daß die ganze Ära der Rock- oder Popmusik, wie immer man sie nennen will, zu Ende geht. Das liegt gar nicht nur an den Künstlern, sondern hat etwas mit der Veränderung der Transportwege für Musik zu tun. Die Schallplattenindustrie ist eigentlich nur noch verzweifelt bemüht, den Eindruck aufrecht zu erhalten, wie es mal war. Wenn man sich heute eine Echo-Verleihung anguckt, glamourös bis zum Anschlag, dann stehen dahinter Zahlen, die es eigentlich gar nicht mehr rechtfertigen, so einen Zauber zu veranstalten.

Am meisten gemocht werden die Geschichten aus den Gründerzeiten in den 60er Jahren, wo es all das, was heute im Überfluß vorhanden ist, noch gar nicht gab. Ich glaube, das sind eben doch Sachen, wo die Leute merken, daß ihnen da einer kein X für ein U vormacht und es gehört nun mal zu meinen selbst verordneten Philosophien, daß ich mich nicht verstelle; das strengt nur an. Ich will gar nicht mehr auf allen Hochzeiten tanzen, damit der Eindruck entsteht: der Reichel ist immer noch am Ball. Ich habe viel mehr Freude und Vergnügen an Projekten, die mich noch einmal fordern!

SB: Sie haben ja mit der Hinwendung zu alten deutschen Volksliedern und Gedichten nochmal etwas ganz Neues angefangen und dafür in Universitäten und Bibliotheken geforscht. Wonach suchen Sie Ihre Texte aus, wann sagen Sie, ja, das ist ein guter, lohnenswerter Text, was geht Ihnen unter die Haut?

AR: Ich soll ja diese Texte interpretieren, das heißt, es muß über meine Zunge rollen. Also müssen sie eine Verknüpfung haben zu meiner Mentalität oder dem, was mich bewegt. Wenn ich bei mir keine Leidenschaft dafür finde, dann lasse ich es auch. Es ist für mich ein Unterschied, ob ich einen Text nur lese oder ob ich mir dazu eine Musik einfallen lasse und dann hinterher dieses entstandene Lied mit einer inneren Anteilnahme singe. Das ist mir sehr wichtig.

SB: Wenn Sie einen Text finden, kommt die Idee zur Musik beim Lesen gleich dazu, oder wie arbeiten Sie?

AR: Oftmals ja. Für mich gibt es wirklich Texte, die sind schon fast wie Musik. Da ist der Weg zur Melodie eigentlich gar kein großer, ich kann nicht erklären, warum das so ist. Texte, die sich sperren, weil sie bei mir nichts in Gang setzen, sagen mir: Laß es! Selbst wenn sie möglicherweise historisch ganz wichtig sind oder jemand sagt: "Den mußt Du doch dabei haben, das ist doch eins der bekanntesten Dinger überhaupt." Ich finde, ein Künstler, der das interpretieren soll, ist eher gut beraten, das zu lassen.

SB: Bei unserem letzten Gespräch haben Sie gesagt, daß die alten Texte vor dem Hintergrund einer anderen Zeit immer wieder neu sind. Was ist an "Sie hieß Mary Ann", "Hohe Tannen" oder "Sah ein Knab' ein Röslein stehen" in Ihren Augen so aktuell?

AR: "Sah ein Knab' ein Röslein stehen" ist ja nun ein Volkslied, da möchte ich den Text von der Melodie nicht trennen, selbst wenn es ganz viele verschiedene Vertonungen dafür gibt. Bei diesem Lied habe ich es mir einfach gestattet, aus einem dreiviertel Takt einen vierviertel Takt zu machen. Das fand ich sehr interessant, weil dieser kleine Kunstgriff die Sache unseren Hörgewohnheiten schon mal enorm näherbringt. Man selber ist ja von diesen Gewohnheiten nicht frei, sie sind ein Teil des eigenen Empfindens. Und da habe ich eben festgestellt, daß in den Liedern manchmal, ich will nicht sagen, mehrere Leben, aber ganz viele Seiten stecken.

SB: Ist es dann eher das Musikalische, was einen Text ins Heute transportiert oder etwas speziell Inhaltliches, wo Sie sagen: Mensch, das ist ja topaktuell?

AR: Das ist schwer zu erklären, weil ich da sehr mit dem Bauch unterwegs bin. Als Historiker oder Journalist wäre ich wahrscheinlich gezwungen, das anders zu sehen. Als ich das Volxslied-Album machte, habe ich mich in viele alte Lieder sehr reingekniet, nach einer anderen Wahrheit oder Realität gesucht, nach etwas, wo ich bei mir merkte, hey, das ist wie ein Timetunnel irgendwohin, da ist noch was lebendig. Ich weiß, das klingt etwas merkwürdig, aber es ist ein bißchen so, als wenn ich die Eltern meines Großvaters treffen würde. Ich bin da nicht immer nur kopfig.

Achim Reichel - Foto: © 2012 by Schattenblick

Mit Bauch und Kopf unterwegs
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Gerade die Geschichte vom Knaben und dem Röslein ist auf ganz verschiedene Weise interpretiert worden. Nicht wenige sehen darin die Metapher für eine Vergewaltigung.

AR: Der Mensch ist nun mal davon besessen, alles zu erklären. Das verbaut ihm natürlich auch das unmittelbare Erleben, ohne daß der Kopf sich einschaltet und sagt: Ne, nee, Moment mal! Ich sehe da keine Vergewaltigungsszene, sondern eher den ewigen Konflikt zwischen Männlein und Weiblein. Und dann natürlich den Umgang mit der Natur. Man kann das alles so oder so sehen, ich finde es oftmals interessant, gerade zu alten Dingen einen neuen Zugang zu finden. Einen Anschluß zu finden an das, was mal war, ist für mich deswegen so wichtig, weil das, was aus unserer Welt geworden ist, von einer Durchtriebenheit ist, die ich oftmals unerträglich finde. In allem schlummert ein Auftrag: was bringt das, was kostet es und was müssen wir auf den Tisch legen? Da fragt man sich doch, wo finde ich eigentlich noch was, das mir losgelöst vom Geld noch etwas sagen kann!

SB: Ist es vielleicht auch das, was die Leute berührt, einmal unabhängig von den Kindheitserinnerungen, die mit vielen Liedern verbunden sind? Kommen da auch Untiefen oder Ambivalenzen zum Tragen, über die die glatte Oberfläche der Konsumgesellschaft nicht wirklich hinwegtäuschen kann?

AR: In unserer Zeit wünscht man sich ja immer mehr eine Welt, die perfekt ist. Aber das entspricht dem Menschen nicht, der ist nun mal nicht perfekt. Mit unserer Zivilisation bauen wir eine Welt in die Welt, die immer komplizierter, abschätziger und gewiefter wird. Die sogenannten Cleveren reiben sich die Hände, weil "die Doofen ja nichts merken." Je älter ich werde, um so mehr habe ich ein Problem damit. Das versuche ich in meiner Arbeit anzugehen. Der Versuch, eine Kultur, die auf gewisse Wurzeln zurückgreift, zu reanimieren und am Leben zu erhalten, scheint mir lohnenswert zu sein. Das ist ja übrigens auch gar nicht neu, nur wir Deutschen haben ein unglaublich gebrochenes Verhältnis zu unserer Kultur.

SB: Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Sprache zurückkommen. Gibt es Begriffe und damit Denkinhalte, die Ihnen wichtig sind und die, weil nicht mehr in Gebrauch, verloren gingen? Ich denke zum Beispiel an das alte deutsche Wort Gemüt, das Sie des öfteren benutzen.

AR: Ja, das benutze ich. Wenn man zeitgemäßer sein wollte, dann würde man sagen, das ist irgendwie "soulig".

SB: Was bedeutet für Sie Gemüt?

AR: Erstmal ist das eine innere Sache. Ich möchte jetzt nicht schwülstig werden, aber es hat auch irgendwie was Seelisches, wenn ich aus der Richtung angerührt oder in Anspruch genommen werde. Um ein Beispiel zu geben: Ich wurde in einem Interview einmal gefragt, was ich an den Norddeutschen so gerne mag. Es ist manchmal nur die Art und Weise, wie sie Dinge sagen, wo man merkt, da ist eine Verankerung drin. Die haben einen Schnack drauf, der von vielen als einfach abgetan wird: Ja, so spricht nun mal das Volk. Aber für mich spricht daraus was ganz anderes und viel mehr. Wenn das nicht aufgesetzt daherkommt, finde ich es ungeheuer wohltuend. Da hat man das Gefühl, hier bist du richtig.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Achim Reichel im Gespräch mit SB-Redakteurin
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Sie werfen in Ihrem Programm die Frage auf: "Wo sind die neuen Dichter?" Gibt es keine mehr?

AR: Ich denke, die gibt es schon, aber sie haben nicht mehr die Möglichkeit, zur Kenntnis genommen zu werden, weil wir mittlerweile von einer Medienwelt umstellt sind, die ganz andere Aufträge hat: Wie können wir die Auflage halten, wie ist unser Leser oder Hörer strukturiert, nach welchen Meinungsumfragen müssen wir uns richten? Da verabschieden sich intelligente Menschen von dem, was sie denken, weil die Dinge dadurch besser verkaufbar scheinen. Das ist schon ein Verrat an der Wahrhaftigkeit.

SB: Sie haben Ihre Karriere in den 60ern begonnen. Das war damals eine wilde Zeit: Aufstand, Aufbruch, weltweit - und alles schien möglich. Trotz aller berechtigten Unzufriedenheit, die damals herrschte, kommen einem die Verhältnisse im Rückblick fast paradiesisch vor, allein wegen der Offenheit und der Optionen, die da waren. Heute dagegen sind wir - Sie haben das ja gerade beschrieben - eher von eingeengten und einengenden Verhältnissen betroffen, die Konkurrenz und Angst schüren, und eine zunehmende Entmündigung des Menschen. Was ist aus Ihrer Sicht unwiederbringlich verloren gegangen von damals?

AR: Der Umstand, daß man annahm, es wäre ein neuer Geist in die Welt gekommen, selbst wenn sich der am Ende auch nicht als allein seligmachend herausgestellt hat. Daß diese Illusion überhaupt vorhanden war, war schon mal gut. Natürlich gibt es richtige Träume und es gibt falsche, aber unterm Strich ist kein Traum perfekt.

SB: Das waren ja damals auch eher Entwürfe, die nicht mit dem Anspruch angetreten sind, eine vollständige Alternative anzubieten.

AR: Genauso ist es. Ich bin kein Mensch, dessen Denken sich auf Hochschulwissen gründet. Ich war eigentlich immer eher eine Antenne. Ganz am Anfang hat man sich einfach nur darüber gefreut, daß man mit seiner Musik Spaß bereiten kann, da haben wir nicht nach dem Warum und Weswegen gefragt und: "Wat denkste dir dabei?" Es war einfach Teil einer gewissen Selbstbefreiung. Irgendwann wurde man dann zum Rädchen eines Betriebes, eines Systems, einer Volkswirtschaft. Da fing man dann doch langsam an zu denken: "Moment mal, mach' ich hier nur Tralala, und solange die da unten rumhüpfen und Juhu schreien, ist die Welt in Ordnung?" Es meldeten sich gewisse Anliegen, die darüber hinausgingen. Man hat sehr viel beobachtet und fühlte sich zu bestimmten Dingen hingezogen, man hatte da so seine Vorstellungen, von denen einige umsetzbar waren, andere nicht. Und es wurde auch deutlich, daß niemand unfehlbar ist. Ich finde Pläne, die aus welchen Gründen auch immer in die Welt gelangen, solange spannend, wie sie offen sind. Und im Moment scheint sehr wenig offen zu sein. Wo sollen junge Leute heute noch für sich etwas finden, wo sie sagen können 'das ist unsers'? Was ist noch nicht von irgendwelchen Cleverschädeln vorgedacht und nur aus dem Grund in die Welt geworfen, um ein Geschäft damit zu machen?

Okay, ich bin auch nicht unbedingt der Meinung, das Geschäft muß abgeschafft werden; soweit würde ich nicht gehen. Aber kommen wir mal kurz aufs Internet zu sprechen. Da freuten sich die Musikerkollegen erstmal: Endlich brauchen wir diese Scheiß-Plattenfirmen nicht mehr, die einem immer reinreden und alles besser wissen. Jetzt können wir endlich unsere Musik so ins Netz stellen und die Leute werden sie trotzdem hören. Aber dann stellten wir fest: Das machen Abertausende von namenlosen Kollegen eben auch, und der sogenannte User weiß gar nicht mehr, wo er hinklicken soll. Und da fing das Ding so langsam an zu kippen. Als mich das erste Mal jemand anrief und sagte: "Sag mal, bei Youtube, unter deinem Namen, da passiert ja ganz viel. Guckst du dir das eigentlich ab und zu mal an?" Und ich sag, "nee, eigentlich nicht wirklich." Und dann haben wir es eben doch mal getan. Da ist man sofort in einem Wechselbad drin - man fühlt sich gebauchpinselt und man merkt: Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Daß da Leute mittlerweile Werbung schalten und richtig Geld generieren, die User aber auf die Seite gehen, weil sie Musik hören oder mal gucken wollen, was der Reichel alles so gemacht hat und was es von dem gibt. Da wird Musik auf eine Weise vermarktet, von der nur einer was hat, und zwar Google, denen ja Youtube gehört, und sonst niemand. Und der User hat zwar eine gewisse Möglichkeit, sich zu informieren, aber merkt oft gar nicht, welche Geschäfte da gemacht werden. Und der, um dessentwillen er eigentlich auf die Seite gegangen ist, der guckt total in die Röhre, der kriegt gar nichts. Das ist amerikanische Mentalität: Die schießen erst und hinterher sagen sie "Oh, das ist bei euch nicht erlaubt? Ja, dann müssen wir mal reden." Und wenn man sie auffordert, ihre Zahlen mal offenzulegen, sagen die: "Warum das denn?" Sie erobern die virtuelle Welt, als wenn's 'ne echte wäre und versuchen mit allen nur möglichen Mitteln, das für sich exklusiv zu halten. Ich meine, man braucht heute als junger Musiker ganz andere Gründe, Musik zu machen, so scheint es mir. Früher war man doch noch ein bißchen weltanschaulich unterwegs oder zumindest hielt man es dafür.

SB: Was haben Sie aus den wilden Zeiten für sich persönlich retten, bewahren oder sogar weiterentwickeln können?

AR: Das sind meistens Dinge, von denen andere Leute sagen, Achim, das kannst du dir ja auch leisten. Das stimmt auch, aber es geht gar nicht ums leisten, sondern darum, daß wir ein kulturelles Umfeld brauchen, das an gewisse Roots anknüpft. Natürlich haben wir das Problem, daß wir uns trennen müssen von dem braunen Jahrzehnt, das macht die Sache ja so schwierig und wir sind mit einer derartigen Verunsicherung und auch einer gewissen Unlust behaftet, die natürlich auch mit Scham zu tun hat.

Trotzdem bin ich der Meinung, daß wir eine Gegenwelt brauchen zu dem, was uns gerade umgibt. Und das ist fast unmöglich in einer Welt, die alles nur noch danach mißt, "was es bringt", und zwar in Euro und Cent. Da braucht es auch ein gewisses Futter für den Kopf oder das eigene Identitätsverständnis. Früher hieß es: "Ich steige aus, ich bin Punk, ich bin Hippie, ich bin dafür oder hierfür". Nur, was willst du heute noch finden? Der Individualismus drückt sich nur noch in Markenware aus, viele sind schon zufrieden, wenn sie sich als Teil dessen, was im Moment angesagt ist, integrieren können und nicht unangenehm auffallen.

Achim Reichel - Foto: © 2012 by Schattenblick

Sich nicht vom eigenen Denken verabschieden!
Foto: © 2012 by Schattenblick

Ich habe nicht aufgehört, in mich hineinzuhorchen, und wenn die Gegenstimmen in mir wach werden, will ich wissen, wo kommt das her, was treibt mich denn da und wo bin ich mit mir unzufrieden? Man versucht doch noch immer, für sich Antworten zu finden. Und es entsteht bei mir mehr und mehr Mißtrauen, daß man uns die eigentlich gar nicht geben will. Der Begriff Kultur hat zwar eine gewisse Renaissance und auch bei dem Ding mit der eigenen Sprache tut sich was. Aber für mich ist das alles viel zu langsam und das macht mich unzufrieden.

SB: Vielleicht ist gerade die Unzufriedenheit ein prima Wegweiser, wenn man sie nicht vermeidet: Da, wo die Unzufriedenheit ist, geht 's eigentlich lang.

AR: Ja, das kann man durchaus so sehen. Da, wo die Unzufriedenheit ist, schlummern Antworten. Viele sind jedoch in viel zu großer Not, um sich so etwas leisten zu können, da bleibt das dann Theorie. Das ist das Schöne an meinem Job, da kann man das durchaus miteinander verknüpfen und sagen: Ob ihr es nun wollt oder nicht, ich finde, Volkslieder sollten heute so klingen, oder ob ihr es jetzt richtig oder falsch findet, ich meine, Balladen sollten heute so klingen, auch alte.

SB: Was war in Ihrem Leben das größte Abenteuer?

AR: Ich glaube, das größte Abenteuer für mich ist einfach das Leben selbst. Ich stamme aus einer Familie, da weiß man wenig. Ich kenne zwar meinen Vater, aber nur ganz oberflächlich, denn der ist zur See gefahren und war kaum da. Ich kenne auch meinen Großvater, aber der ist auch zur See gefahren. Und dahinter fängt es schon an zu bröckeln. Das heißt, ich bin eine ziemlich junge Pflanze, da sind keine Wurzeln, die Generationen zurückreichen und worauf ich aufbauen oder wo ich mich sicher fühlen könnte - dann auch noch auf St. Pauli aufgewachsen, das ist ja nun auch ein unsolides Pflaster. Insofern ist es für mich wie ein kleines Wunder, daß so 'n kleener Pimpf sich selber ein Leben schaffen konnte mit einer Sache, die man nur hören kann. Natürlich will man wissen, woher kommt das, ist dir das eigentlich geschenkt worden, oder ist das dein eigener Verdienst, wie andere das sagen: "Du warst ja auch fleißig, bist dran geblieben und hast dich selber nicht verraten mit zunehmender Reife."

Wenn man dann aber sieht, wie viele Kollegen, von denen ich dachte, sie wären viel fähiger und cleverer und klüger und möglicherweise auch begabter, längst aus dem Gleis gekippt sind, redet man plötzlich von Demut und all so 'm Kram. Das kann man nicht auf so profane Situationen reduzieren wie: Was wäre, wenn du niemals eine Gitarre bekommen hättest, oder wenn du wirklich zur See gefahren wärst, so wie deine Väter? Es ist nun mal so, wie es ist, und das ist für mich derartig toll, daß man fast schicksalsgläubig wird. (lacht)

SB: Gibt es denn ein Abenteuer, das Sie noch gerne erleben würden?

AR: Ja, durchaus. Auch wenn das auf der Bühne überhaupt gar nicht den Anschein hat, entwickle ich der Welt gegenüber zunehmend eine gewisse Scheu. Aber mit mir selber habe ich noch eine Menge zu tun. Und so habe ich gedacht, vielleicht sollte ich doch mal mein Leben aufschreiben, und zwar nicht einfach nur der Reihenfolge nach: 'Ja, und dann kam das und dann kam das und dann das', sondern was das Leben einem beigebracht hat. Das ist durchaus interessant, weil sich gewisse Dinge eben wiederholen. Viele Väter, mein Vater nun weniger, haben zu meiner Kindheit ständig vom Krieg erzählt. Jetzt merke ich, wie ich so einer werde, der ständig von den großen Zeiten der Popmusik erzählt (lacht), die nun auch den Bach runterging und wo ich mich frage, was kommt eigentlich danach? Die Orientierung muß doch irgendwo stattfinden, und die kann nicht ein designtes Produkt sein.

SB: Achim Reichel, wir bedanken uns für das Gespräch!

Der Hafen in Husum - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kult für Nordlichter: Husum - graue Stadt am Meer
Foto: © 2012 by Schattenblick

Fußnoten

[1] Schattenblick unter

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BERICHT/001: Generation Talk mit Achim Reichel und Rudi Dolezal in Hamburg (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0001.html

INTERVIEW/001: Achim Reichel - mein Leben, meine Musik (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0001.html

26. November 2012