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NACHLESE/003: 50 Jahre später ... The Beatles - Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band (SB)



Now they know how many holes it takes to fill the Albert Hall.
I'd love to turn you on.

The Beatles - A Day In The Life

Für die einen war es der Tod des Rock 'n' Roll, für die anderen das erste Konzeptalbum der Popgeschichte, der Beginn des Art Rock der siebziger Jahre und überhaupt ein Quantensprung der modernen musikalischen Entwicklung. Für beides gibt es stichhaltige Argumente, wenn auch letztere Lesart heute maßgeblicher Standard der Popkritik ist. Auf jeden Fall war die Veröffentlichung des Albums Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band der Beatles Ende Mai 1967 ein Ereignis von einer Breitenwirkung, wie es für die marktförmig durchformatierte und in hunderte von Genres und Subgenres ausdifferenzierte Popmusik heute nicht mehr vorstellbar ist.

Das Albumcover las sich mit den Konterfeis von Karl Marx, Aldous Huxley, H.G. Wells, Karlheinz Stockhausen, William S. Burroughs, Bob Dylan, Aleister Crowley, C. G. Jung, um nur einige der bekannteren Namen herauszugreifen, wie ein Who's Who der Ikonen der Counterculture und wurde dementsprechend zu einem Steinbruch bis heute anhaltender Deutungsversuche. Mitten unter ihnen die vier Beatles in Phantasieuniformen, deren verblichene Pracht als Antithese zum nüchternen Olivgrün und Flecktarn der Soldaten verstanden werden konnte, die in Vietnam und woanders töteten und verbluteten. Das viel Stoff für eine ausgiebige Betrachtung gebende Plattencover kündigte eine musikalische und stilistische Vielfalt an, die von Vaudeville, Zirkusmusik, indischem Sitargezirpe, avantgardistischen Neutönern, psychedelischen Entuferungen und westlicher Klassik nichts ausließ, das in vielstimmiger Rekombination überraschende ästhetische Impulse setzte.

Aus heutiger Sicht läßt sich das Album allemal als Zäsur in der Entwicklung zeitgenössischer Musik bezeichnen. Schon die äußeren Umstände in der Geschichte der Beatles, die die Popkultur der 1960er Jahre im Westen wie keine andere Band prägten und globalisierten, sprachen dafür, daß die Band aus Liverpool eine neue Ebene ihres künstlerischen Schaffens betrat. Im August 1966 endete ihre letzte Konzerttournee in den USA und damit die ganze Ära ihrer legendären, von Massenhysterie begleiteten Auftritte. Die Fab Four hatten mit der klassischen Bühenbesetzung zwei Gitarren, Baß und Schlagzeug die Grenzen ihrer Möglichkeiten erreicht und konnten ihre musikalischen Ideen bei Liveauftritten nur noch sehr bedingt umsetzen. Inspiriert durch kreative Studioproduktionen wie Pet Sounds von den Beach Boys oder Freak Out! von den Mothers of Invention wollten sie in einer Zeit, als mit Experimenten und Innovationen in Pop, Rock und Jazz noch Neuland erschlossen werden konnte, in das noch kein Künstler seinen Fuß gesetzt hatte, ein Zeichen dafür setzen, in dieser Entwicklung ganz vorne mit dabei zu sein.

Hatten sie die USA mit massenmedial als British Invasion vermarkteten Tourneen heimgesucht, so stießen die merkwürdig verzerrten bis dissonanten Klänge der psychedelischen Ära an der Westküste der USA bei ihnen auf offene Ohren. Bei der Namenswahl für das Album, dem die Idee des Auftrittes einer fiktiven Gruppe zugrundelag, sollen Big Brother and the Holding Company und Quicksilver Messenger Service aus San Francisco als Vorbilder Pate gestanden haben. Der erste, mit dem Albumnamen identische Titel begann denn auch mit der Geräuschkulisse eines Liveauftritts. Aus heutiger Sicht, da man weiß, daß die Beatles niemals wieder zusammen auf der Bühne eines Konzertsaales stehen sollten, nachdem sie im August 1966 in San Francisco ihren letzten Auftritt auf einer Tournee absolvierten und lediglich noch einmal am 30. Januar 1969 auf dem Dach des Apple-Gebäudes ein unangekündigtes Konzert gaben, entrückten sie damit in die Abgehobenheit einer Virtualität, die den Mythos um die Beatles erst recht mit einer Aura der Unnahbarkeit umgab.

Der Trend zu Musikstücken, die sich aufgrund der nur im Studio zu verwirklichenden Technik live nicht mehr aufführen ließen, hatte sich schon auf ihrem Album Revolver vom August 1966 angekündigt. Insbesondere das Stück Tomorrow Never Knows beeindruckte als fremdartige Soundcollage mit niegehörten Klängen, die den state of the art der britischen Psychedelik repräsentierte. Da sich John Lennon beim Text des Stückes durch das von Timothy Leary zum Zwecke einer Anleitung für LSD-Reisen umgedeutete Tibetische Totenbuch inspirieren ließ, wollte er, daß sich seine Stimme wie die des Dalai Lama anhöre. Ihr findiger Produzent George Martin löste das Problem, indem er Lennons Gesang durch einen Leslie-Speaker, einen rotierenden Lautsprecher, schickte und ihr so den irrlichternden Charakter einer durch die Schwaden mystischer Dimensionen schallenden Reiseanleitung verlieh.

In diesen Pionierzeiten studiogenerierter Klangerzeugung wurden die geheimnisvollen Soundeffekte häufig mit den simpelsten Mitteln erreicht. So entdeckte Paul McCartney bei den Aufnahmen zu Tomorrow Never Knows, daß er auf seinem Tonbandgerät den Löschkopf entfernen und ein Endlosband einlegen konnte. Auf dieser vielleicht 30 Zentimeter langen Bandschleife nahm er dann die Gitarre auf, bis das Band, das immer wieder am Aufnahmekopf vorbeilief, so dicht bespielt war, daß es nichts mehr aufzeichnete. Davon stellte er diverse Exemplare her, die dann in mühsamer Kleinarbeit zusammengeschnitten und aufgewickelt wurden. Das Ergebnis bestand in dem eigentümlichen Hintergrund der Aufnahme, den sich John Lennon als eine Art Klosterchor mit tausend Mönchen gewünscht hatte, der sich aber eher wie eine Wolke schreiender Möwen anhört.

Die 4000 Löcher, die im Song A Day In The Life in Blackburn, Lancashire, gefunden und mit dem Ergebnis gezählt wurden, daß sie nun wissen, wie vieler Löcher es bedarf, um die Royal Albert Hall zu füllen, sind als Metapher für das Suchen nach Botschaften und Bedeutungen, die den Horror Vacui nur mühsam bedecken, kaum überinterpretiert. Die Neigung damaliger Popbands insbesondere aus dem Dunstkreis drogengeschwängerter Psychedelik, mit Symbolen und Chiffren zu spielen, die das Publikum dazu animierte, nach diesen überall und auch dort zu suchen, wo es keine zu finden gab, ist heute noch als fernes Echo in den Fantasy- und Rollenspielen der durchdigitalisierten Jugend zu hören. Da sich auch die Musiker der Beatles nicht öffentlich über illegale Substanzen äußern durften, alle aber mit den halluzinogenen Wirkungen des LSD experimentiert haben sollen, war es fast zu einem Volkssport geworden, in Stücken wie Lucy In The Sky With Diamonds oder Strawberry Fields Forever, das ursprünglich für dieses Album aufgenommen worden war und geradezu eine Hymne der acid heads wurde, Codierungen für entsprechende Erlebnisse aufzuspüren. Sgt. Pepper's machte da keine Ausnahme, zumal das von George Harrison, der sich besonders intensiv indischer Spiritualität widmete, durch Sitarklänge geprägte Stück Within You Without You alle Signaturen entsprechender Erfahrungen aufwies.

Ohne den im März 2016 im Alter von 90 Jahren verstorbenen Produzenten George Martin wäre Sgt. Pepper's allerdings nicht zu einem Meilenstein mit allen Finessen analoger Studiotechnik erzeugter Klangwelten geworden. Seinem Einfluß waren erste Anleihen der Beatles an klassischer Musik wie das Streichquartett in Eleanor Rigby geschuldet, und so legte Martin den Grundstein zu einer Synthese von Rock- und Orchestermusik, die etwa in dem gleichfalls von ihm produzierten Album Apokalypse des Mahavishnu Orchestras im Jahre 1974 einen Höhepunkt erreichte. Sein technisches Geschick und sein Ideenreichtum trugen wesentlich dazu bei, daß ein im wortwörtlichen Sinne so vielschichtiges Werk wie Sgt. Pepper's“ lediglich mit einer Vierspurmaschine aufgenommen werden konnte. Die enge Ökonomie des Geräts zwang dazu, daß häufig mehrere Stimmen und Instrumente gleichzeitig auf einer Spur aufgenommen werden mußten. Selbst bei einem so sparsam instrumentierten Stück wie She's Leaving Home besangen John Lennon und Paul McCartney gemeinsam eine Spur, um auf der anderen den Antwortpart des Wechselgesangs aufnehmen zu können.

McCartney war George Martin zufolge eher praktisch veranlagt und probierte viel aus, um seine Einfälle zu verwirklichen, während Lennon seine musikalischen Vorstellungen eher in metaphorischer Form ausdrückte. Die Inspiration zu dem Stück For The Benefit of Mr. Kite entsprang einem echten Wanderzirkus, den John einmal gesehen hatte. Er meinte zu George Martin, er wolle den Geruch von Sägemehl in der Nase haben, wenn er das Lied hörte. Lennons Imagination wurde mit dem Klang der dampfbetriebenen Orgel eines Kinderkarussells umgesetzt, womit jeder sofort die Atmosphäre einen Jahrmarkts mit Schaustellern und Zirkusattraktionen assoziierte. Martin schnitt die Bänder dieser Aufnahmen in Stücke von jeweils einer Sekunde Spieldauer, warf sie in die Luft und fügte sie wieder zusammen, wie sie gerade kamen. Schließlich spielte er das ganze rückwärts und schuf so den zirzensischen Hintergrund des Stückes.

Das Stück A Day In The Life bildet zweifellos den Höhepunkt des auch von der Reihenfolge der Titel her sorgfältig arrangierten Albums, das damit ein grundlegendes strukturelles Merkmals sogenannter Konzeptalben vorgab. Popmusiker, die sich dieser Form bedienten, versuchten so, den Aufbau einer Komposition klassischer Musik zu imitieren und ein geschlossenes Konzept von inhaltlicher Aussage und musikalischem Kommentar zu verwirklichen. Für dieses Stück, bei dem George Martin zwei Lennon/McCartney-Songs zusammenfügte, wünschten sich die Beatles ein Symphonieorchester, das nichts weiter tun sollte, als von der tiefsten möglichen Note pianissimo, also mit der geringsten Lautstärke, über 24 Taktstriche zur höchsten Note fortissimo, also sehr laut, zu spielen. Dazu bekam das Orchester die Anweisung, genau das Gegenteil dessen zu tun, wozu die Musiker ausgebildet waren - sie sollten die Strecke bis zur höchsten Note unbedingt anders als ihr Nebenmann erreichen, um im Rahmen der vorgegebenen Grenzwerte die größtmögliche Kakophonie zu erreichen.

Das alle bis dahin bekannten Dimensionen der Produktion einer Langspielplatte, für die die Beatles fast ein halbes Jahr im Studio verbrachten, in den Schatten stellende Album, seine mit Anspielungen und Metaphern aller Art hochgradig aufgeladenen Texte wie die stilistische Vielfalt selbst innerhalb einzelner Songs konnten den auch nur als Abschied vom stampfenden Rhythmus des weit mehr dem Bauch als dem Kopf entspringenden Rock'n'Roll verstanden werden, der auch die Anfänge der Beatles geprägt hatte. Das gleichwertige Nebeneinander höchst unterschiedlicher, viele Epochen und Geografien der Kulturgeschichte beleihender Formen nahm schon vor 50 Jahren vorweg, was als postmoderne Beliebigkeit oder das hybride Allerlei zusammengerührter Popproduktionen dieser Tage eher unrühmliche Berühmtheit erlangen sollte.

Wer das Album nun mit den Ohren durch fünf Jahrzehnte popkultureller Häutungen, unter denen nicht selten die retrograden Gestalten der Gründergeneration hervortraten, konditionierten Musiksinnes anhört, kann mühelos die Brücke in eine Zeit schlagen, in der die Lust an Entdeckungen und die Freude an grenzüberschreitenden Erfahrungen noch in hohem Maße von den gesellschaftlichen Umständen ihrer Zeit bestimmt waren. Die künstlichen Welten der Psychedelik waren so künstlich nicht, daß sie nicht zugleich in den blutigen und grausamen Konfrontationen mit kolonialistischen und imperialistischen Kriegen des gar nicht so Kalten Krieges gewurzelt hätten. Auch wenn die Historisierung und Kanonisierung der Popgeschichte längst Einzug in den ersten Adressen des globalen Kunst- und Museumsbetriebes gehalten hat, bleiben die herausragenden Zeugnisse dieser Epoche von einer Frische, die den Verlust utopischen Denkens und Handelns nicht schmerzhafter zu Bewußtsein bringen könnte.

5. Juni 2017


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