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FORSCHUNG/957: Evolution - Überraschung aus der Tiefsee (idw)


Universität Wien - 07.05.2015

Überraschung aus der Tiefsee


Archaea gehören zusammen mit Bakterien zu den ersten Lebewesen auf der Erde. Es gab diese Mikroorganismen schon hunderte Millionen Jahre bevor sich die höheren Organismen, d.h. Pflanzen und Tiere, sog. Eukaryoten, entwickelten. Ein internationales ForscherInnen-Konsortium um Christa Schleper vom Department für Ökogenomik und Systembiologie der Universität Wien hat nun bei der Analyse von tiefen Meeressedimenten eine Gruppe von Archaea entdeckt, die unmittelbare Verwandte der Eukaryoten sind: Ihre Gene zeigen überraschenderweise Ähnlichkeiten mit den Vorfahren der heutigen Eukaryoten auf. Die Ergebnisse der Studie erscheinen in der aktuellen Ausgabe von "Nature".


Wie entstanden die ersten eukaryotischen Zellen mit ihren Organellen, aus denen alle komplexeren Organismen hervorgegangen sind? Zu dieser fundamentalen Frage, die sehr kontrovers diskutiert wird, gibt es viele Hypothesen, aber nur wenige Antworten. Es gilt heute als unumstritten, dass Bakterien von einer Vorläuferzelle aufgenommen wurden und hieraus die Mitochondrien, die energieliefernden Organellen der Eukaryoten, entstanden sind. Die Genomforschung zeigt auch, dass insbesondere Archaea eine wichtige Rolle in der Evolution der höheren Organismen spielten. Hat also ein Ur-Archaeon ein Bakterium verschluckt und daraus formte sich die Mutterzelle aller Eukaryoten? "Dies wird tatsächlich von vielen Forschern heute angenommen", so Christa Schleper vom Department für Ökogenomik und Systembiologie der Universität Wien.


Einer der drei Stämme im "Baum des Lebens" gefällt

Mit der Entdeckung einer neuen Gruppe von Archaea, den Lokiarchaea, deren Genom nun erstmals aus einer Tiefseeprobe bestimmt und von einem ForscherInnen-Konsortium aus Wien, Bergen (Norwegen) und Uppsala (Schweden) entschlüsselt wurde, werden einige Fragen geklärt: In phylogenetischen Stammbäumen sind Lokiarchaea (benannt nach dem Gott Loki aus der nordische Mythologie) eine direkte Schwestergruppe der Eukaryoten innerhalb der Domäne der Archaea. "Die ersten Vorläufer der Eukaryoten sind also tatsächlich direkt aus Archaea hervorgegangen und bilden nicht, wie früher angenommen, neben Bakterien und Archaea eine eigenständige primäre Domäne des Lebens", erklärt Schleper, Mit-Initiatorin der Studie.


Überraschungen im Genom

Außerdem zeigt das Genom der Lokiarchaea eine erstaunliche Komplexität. Es enthält die genetische Information für Proteine, die zuvor nur bei Eukaryoten bekannt waren: So zum Beispiel für viele Proteine, die den Membranumbau in Eukaryoten ermöglichen oder regulieren und auch für die Aufnahme von Organismen (Phagocytose) oder die Zellteilung verantwortlich sind. Ebenso wurden Gene für "eukaryotische" Zytoskelettproteine (Aktin und Gelsolin) gefunden, welche die Form der Zellen beeinflussen und immer wieder verändern können. Genau diese Eigenschaften brauchte auch die frühe eukaryotische Urzelle oder das Ur-Archaeon, um ein Bakterium aufnehmen zu können. Somit stellen Lokiarchaeota eine Übergangsform dar, die bereits einen "starter kit" für die Entwicklung der komplexeren Zellen hat.


Viele offene Fragen

"Es ist fast so, als hätten wir soeben die Menschenaffen, also die nächsten lebenden Verwandten der Menschen entdeckt, die uns ja auch interessante Einblicke in unseren letzten gemeinsamen Vorfahren geben. Nur lebte der gemeinsame Vorfahre der Eukaryoten und Lokiarchaea nicht vor fünf Millionen Jahren, sondern bereits vor rund zwei Milliarden Jahren", so Christa Schleper: "Viele Fragen zur Lebensweise, Struktur und Vorkommen der Lokiarchaea bleiben aber derzeit leider noch unbeantwortet."

Publikation in "Nature":
Anja Spang, Jimmy H. Saw, Steffen L. J¢rgensen, Katarzyna Zaremba-Niedzwiedzka, Joran Martijn, Anders E. Lind, Roel van Eijk, Christa Schleper,
Lionel Guy and Thijs J.G. Ettema: Complex archaea that bridge the gap between prokaryotes and eukaryotes
DOI: 10.1038/nature14447


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Wien, Stephan Brodicky, 07.05.2015
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2015

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