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ORNITHOLOGIE/199: Saatkrähen in Schleswig-Holstein (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 2/2010

Saatkrähen in Schleswig-Holstein

Von Wilfried Knief


Schleswig-Holstein beherbergt auf knapp fünf Prozent der Fläche der Bundesrepublik mehr als ein Drittel des deutschen Brutbestandes von über 30 Vogelarten. Erwartungsgemäß sind das vor allem Wasser- und Watvögel. Fünf Seevogelarten brüten ausschließlich auf Helgoland. Weniger bekannt ist, dass das nördlichste Bundesland auch für die Saatkrähe seit vielen Jahrzehnten einen Brutverbreitungsschwerpunkt in Deutschland darstellt. Unabhängig von den erheblichen Bestandsschwankungen lag der Anteil in der alten Bundesrepublik stets bei etwa zwei Drittel des Bestandes aller alten Bundesländer und beträgt nach der Vereinigung Deutschlands noch immer ein Drittel des deutschen Bestandes.


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Die Saatkrähe ist ursprünglich ein Brutvogel der osteuropäischen und sibirischen Steppen- und Waldsteppenzone, wo sie in Galeriewäldern und einzelnen Baumgruppen geeignete Brutmöglichkeiten findet und in der ansonsten offenen Landschaft Nahrung sucht. Mittel- und Westeuropa dürften sich dieser Vogelart in nennenswertem Umfang erst erschlossen haben, als der Mensch begann den geschlossenen Wald aufzulockern. Als Koloniebrüter, für den Nahrungsflüge aufgrund einer hohen Fütterungsfrequenz nur innerhalb eines relativ geringen Aktionsradius von etwa vier bis sechs Kilometern rentabel sind, erreicht die Saatkrähe örtlich sehr hohe Dichten. Das erfordert ein reiches und über die ganze Brutzeit hinweg verfügbares Nahrungsangebot, welches für das Verbreitungsmuster von entscheidender Bedeutung ist. Während außerhalb der Brutzeit pflanzliche Nahrung überwiegt, werden die Jungen bevorzugt mit Regenwürmern sowie Insekten und deren Larven gefüttert. Auf schweren (Lehm)Böden sind deren Dichte und Biomasse viel höher als auf schnell austrocknenden leichten (Sand)Böden, wo sie überdies bei Trockenheit, die in Schleswig-Holstein oft in den Monaten Mai und Juni (Brutzeit) auftritt, in tiefere Bodenhorizonte abwandern und für die Saatkrähen nicht mehr erreichbar sind. An die Nistbäume werden keine besonderen Ansprüche gestellt. Hohe Laubbäume (Buche) in Hügellage und Gewässernähe scheinen jedoch bevorzugt zu werden.

Dementsprechend liegen die Verbreitungsschwerpunkte in Schleswig-Holstein im Östlichen Hügelland mit seinen fruchtbaren Böden und seinem Gewässer- und relativem Waldreichtum sowie in den Niederungsgebieten der Stör und ihrer Nebenflüsse. Dass es in der Marsch lange Zeit kaum Kolonien gab, dürfte auf den geringen Baumbestand zurückzuführen sein, der sich vorwiegend in Gehöftnähe oder in den Ortschaften befindet, wo Ansiedlungsversuche sofort bemerkt und leicht verhindert werden konnten. Erst nachdem die Saatkrähe unter Schutz gestellt worden war, sind auch vermehrt Ortschaften in der ansonsten baumarmen Marsch besiedelt worden. Von insgesamt 642 Quadranten der Topografischen Karte 1:25000 waren 1979, ein Jahr vor dem Erlass der Bundesartenschutzverordnung 69 besetzt, 30 Jahre später waren es 97 Quadranten.



Bestandsentwicklung

In Deutschland lag der Brutbestand nach einer Fragebogenerhebung um 1900 bei etwa 400000 Paaren. 270000 Paare davon sollen es auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik und 100 000 in den alten Bundesländern gewesen sein. Ein halbes Jahrhundert später war der Bestand nach einer Erhebung der Staatlichen Vogelschutzwarte Frankfurt a. M. in der alten Bundesrepublik auf 25000 Paare gesunken.

In Schleswig-Holstein wurde Anfang der fünfziger Jahre erstmals eine landesweite Brutbestandserfassung der Saatkrähe von der Staatlichen Vogelschutzwarte durchgeführt, die seit 1961 in zwei- bis vierjährigem Abstand wiederholt wird. Seit vielen Jahren beteiligen sich daran zahlreiche ehrenamtliche Vogelbeobachter. Nur mit ihrer Hilfe und besonderen Kenntnis des in den Städten vielfach in zahlreiche Teilkolonien aufgesplitterten Brutvorkommens lässt sich überhaupt eine landesweite Zählung mit einem (nahezu) vollständigen Erfassungsgrad durchführen. Ihnen allen sei auch an dieser Stelle herzlich gedankt, wie auch denen, die sich für den Schutz der Saatkrähe eingesetzt und um mehr Verständnis für die Vögel geworben haben.

Von 16000 im Jahr 1954 hat sich der Bestand in den nächsten zwanzig Jahren auf 8400 Paare nahezu halbiert, was "zu der Befürchtung Anlass gab, dass die Saatkrähe nun auch in Schleswig-Holstein ernstlich gefährdet sei" (Fallet 1978). Neben der Vergiftung durch quecksilberhaltige Agrochemikalien, die jahrelang billigend in Kauf genommen wurde, war für den allgemeinen Bestandsrückgang und das völlige Verschwinden der Saatkrähe als Brutvogel aus weiten Bereichen Deutschlands vor allem die gezielte Verfolgung durch den Menschen verantwortlich. Weit verbreitet war der Abschuss der eben flügge gewordenen Jungvögel, die zum Teil im Wildhandel als "Saatgeflügel ohne Haupt und Ständer" angeboten wurden. Innerorts wurden die Nester oft mitsamt den Eiern oder Jungvögeln aus den Bäumen gestoßen, weil man die Vögel als Belästigung empfand. In vielen Kolonien war so alljährlich der gesamte Nachwuchs vernichtet worden.

Im Jahr 1980 trat die Bundesartenschutzverordnung in Kraft. Wie zuvor schon in anderen Bundesländern war die Saatkrähe damit nun auch in Schleswig-Holstein ganzjährig geschützt. Wenngleich auch danach noch illegal oder aufgrund von Ausnahmegenehmigungen Kolonien gestört wurden, sind Art und Ausmaß der Verfolgung doch insgesamt zurückgegangen. In den folgenden zwei Jahrzehnten nahm der Bestand zunächst langsam, dann stärker zu und verdreifachte sich bis zum Jahr 2000 auf 25000 Paare. Die exponentielle Zunahme beweist, dass der Bestand vorher durch die intensive Verfolgung weit unter der Lebensraumkapazität gehalten worden war. Allerdings fand die Zunahme nicht gleichmäßig statt, sondern ganz überwiegend in den Städten, während auf dem Lande bis in die jüngste Zeit fortwährend Kolonien erloschen.

Ob die Einwanderung in die menschlichen Siedlungen ursprünglich eine "Schutzflucht" (vor dem Menschen) gewesen ist, erscheint fraglich, zumal die Vögel schon sehr lange innerhalb der Ortschaften besonders unnachsichtig verfolgt worden sind. Nach der Wiederansiedlung zu Beginn der achtziger Jahre und starken Ausbreitung des Uhus in Schleswig-Holstein waren einige Saatkrähenkolonien aufgegeben worden, in deren Nähe sich ein Uhupaar angesiedelt hatte, oder die Krähen hatten sich in Bereiche mit künstlicher (Straßen)Beleuchtung zurückgezogen. Andererseits fanden sich in der Nähe anderer Kolonien regelmäßig Saatkrähenrupfungen von Uhus, ohne dass es zu einer erkennbaren Reaktion gekommen war. Der entscheidende Grund für den Einzug in die Städte dürften die agrarstrukturellen Veränderungen sein, durch die sich die Nahrungsverhältnisse für die Saatkrähe in der freien Landschaft immer weiter verschlechtert haben. Nach Entwässerung und Grünlandumbruch dominiert im Östlichen Hügelland der großflächige Anbau von Wintergetreide und Raps. Dadurch breitet sich früh eine geschlossene Pflanzendecke aus, durch welche die Nahrung für die Saatkrähe gerade während der Brutzeit, wenn der Bedarf am höchsten ist, unerreichbar wird. In dieser Situation gewinnt (Feucht)Grünland eine essenzielle Bedeutung. Im Östlichen Hügelland ist gerade in den Stadtrandbereichen häufig extensiv genutztes Grünland in größerem Umfang im Uferbereich stehender Gewässer oder in Küsten- und Fließgewässerniederungen erhalten geblieben. Hier wie auf den verschiedenen, ständig kurz gehaltenen Grünflächen in den Städten selbst finden die Vögel ein vielfältiges Nahrungsangebot und in nahe gelegenen Baumbeständen von Parkanlagen, Alleen, Kliniken und Friedhöfen geeignete Nistplätze.

Trotz zumeist kleinräumiger Verlagerungen ist der Saatkrähenbestand in Schleswig-Holstein nun seit zehn Jahren bemerkenswert stabil. Die Plateauphase der exponentiellen Entwicklung scheint erreicht zu sein - ein Hinweis darauf, dass die derzeit vorhandene Lebensraumkapazität in diesem Bundesland ausgeschöpft ist.



Schutz und Verantwortung

Eine großräumige Umverteilung der Saatkrähenkolonien von der Stadt zurück aufs Land ist nicht zu erwarten und selbst durch rigorose Maßnahmen nicht erzwingbar. Störungen führen im Allgemeinen nur zur Verlängerung des Brutgeschäfts oder zur Aufsplitterung und häufig zur Neubildung von Kolonien an Orten, an denen die Vögel noch weniger willkommen sind. Den oftmals sehr emotional geführten Diskussionen um die Saatkrähe und verwandte Arten kann nur mit sachlichen, fundierten Argumenten begegnet werden. Dafür ist die genaue Beobachtung der Bestandsentwicklung (Monitoring) eine wichtige Voraussetzung. Bei außergewöhnlichen Beeinträchtigungen erteilt das Landesamt für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume (LLUR) als die dafür zuständige Naturschutzfachbehörde nach sorgfältiger Prüfung und unter der Voraussetzung, dass attraktive und ungestörte Ausweichräume vorhanden sind, eine Ausnahmegenehmigung zur Vertreibung von Saatkrähen vor dem Brutbeginn. So ist es in einigen Fällen gelungen, dass die Saatkrähen ihre Kolonie in weniger konfliktträchtige Bereiche oder sogar an den Ortsrand verlegten. Grundsätzlich müssen aber Ausnahmegenehmigungen auf Ausnahmesituationen beschränkt bleiben.

Einen ganz anderen und bisher einmaligen Weg im Umgang mit einer Saatkrähenkolonie in Schleswig-Holstein hat die Fremdenverkehrsgemeinde Ascheberg am Großen Plöner See eingeschlagen. Nach Beschwerden sollten in dem parkartig genutzten Brutwald zunächst die Bäume an den Wegen gefällt werden. Auf Initiative einer Studentin entschloss sich der Gemeinderat jedoch ihrem Vorschlag zu folgen und entlang der Wege durch die Kolonie einen "Krähen-Lehrpfad" mit Informationstafeln zur Ökologie sowie zum Brut- und Sozialverhalten der Saatkrähe einzurichten. Ein Vorgang, der hoffnungsvoll stimmt und hoffentlich viele Nachahmer findet. In den anderen Bundesländern verlief die Bestandsentwicklung im letzten Jahrzehnt unterschiedlich. Während es in nahezu allen alten Bundesländern Zunahmen gab, ging der Bestand in den neuen Bundesländern zurück. In Thüringen gab es jahrelang überhaupt keinen Brutnachweis mehr. Erst 2006 siedelten sich dort wieder sechs Paare an. Insgesamt hat der Bestand in Deutschland mit etwa 75000 Paare im Jahr 2008 weiter zugenommen. Gleichwohl beherbergt Schleswig-Holstein noch immer ein Drittel des deutschen Bestandes und trägt damit weiterhin eine besondere Verantwortung für diese Vogelart.


Dr. Wilfried Knief war bis 2008 Leiter der Staatlichen Vogelschutzwarte Schleswig-Holstein und ist seit 30 Jahren stellvertretender Vorsitzender der OAG. Der Schutz von sogenannten "Problemvögeln" ist ihm ein besonderes Anliegen.


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Literatur zum Thema:

Fallet M 1978: Die Populationsentwicklung der Saatkrähe (Corvus f. frugilegus, L.)
in Schleswig-Holstein von 1954-1976. Zool. Anz. 200: 242-274.

Gemeinde Ascheberg: Ascheberg hat einen Krähenpfad.
www.ascheberg-holstein.de/Touristinfo/Krahenpfad112009.pdf

Glutz von Blotzheim UN, Bauer KM 1993:
Handbuch der Vögel Mitteleuropas. 13: 1731-1857.

Knief W 1988: Die Situation der Saatkrähe (Corvus frugilegus) in Schleswig-Holstein.
Beih. Veröff. Naturschutz Landschaftspflege Bad.-Württ. 53: 31-54.

Röhrig G 1900: Die Verbreitung der Saatkrähe in Deutschland.
Arbeiten a. d. Biol. Abt. f. Land- u. Forstwirtsch. 1: 271-284.

Pfeifer S, Keil W 1956: Die Brutpaardichte der Saatkrähe (Corvus frugilegus) in Westdeutschland.
Nachr.-Bl. dt. Pflanzenschutzdienst 8: 129-131.


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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 2/2010
57. Jahrgang, Februar 2010, S. 66-69
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. April 2010