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ORNITHOLOGIE/360: Kiesbrüter - Leben auf Messers Schneide (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 6/2016

Leben auf Messers Schneide: Kiesbrüter

von Michael Schödl


Flüsse haben in Mitteleuropa in den letzten 200 Jahren extreme Veränderungen erfahren. Kanalisierung, Querbauwerke, Besiedelung und Landbewirtschaftung bis an das unmittelbare Ufer haben nicht nur die Fließrinnen zusammengespannt, sondern vor allem die Überschwemmungs- und Umlagerungsbereiche sowie Auwaldflächen nahezu verschwinden lassen. Ehemals häufige Vogelarten wie Flussuferläufer oder Flussregenpfeifer besitzen nur noch Restvorkommen. Seit mehr als zwanzig Jahren werden diese Bewohner der letzten alpinen Wildflussreste im Süden Deutschlands erfasst.

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Flussuferläufer: an Flüssen mit schlammigen Uferstrichen und Teichen so allgemein verbreitet wie kein anderer Vogel dieser Familie; fehlt auch am Meeresstrande nicht ganz." Diese Zeilen stammen aus einer alten Ausgabe von Brohmers "Fauna von Deutschland" aus dem Jahr 1949. Heute kennen nur wenige Menschen Flussuferläufer (Actitis hypoleucos), Flussregenpfeifer (Charadrius dubius) oder Vorkommen dieser Arten in ihrer unmittelbaren Umgebung. Dies liegt an der - für "Nichtornithologen" - heimlichen Lebensweise, die auf Tarnen und Täuschen beruht, und der Tatsache, dass diese beiden Zugvogelarten nicht am winterlichen Vogelhäuschen um Nahrung raufen. Viele Menschen betrachten den Lebensraum Wildfluss auch als lebensfeindlich und halten ihn nur als Kiesquelle für Straßen- und Hausbau geeignet.

Seltener Lebensraum

Völlig unbeeinflusste Wildflüsse gibt es auch im Alpenraum nicht mehr. Laut älteren Quellen sind 79% der Flussstrecken durch Wasserkraft beeinflusst. Von den Quellbereichen bis zu den großen Voralpenseen und die Tore Münchens blieben anderswo ausgestorbene kiesgeprägte Lebensräume jedoch aus unterschiedlichen Gründen in Resten erhalten. Der planerische Begriff "Bayerisches Oberland" umreißt das Einzugsgebiet der Isar zwischen Lech im Westen und Inntal im Osten, südlich der großen Voralpenseen. Hier finden sich noch solche Reste alpiner Wildflusslandschaften, beispielsweise an Ammer und Isar.

Ammerschlucht

Die Ammer entspringt im deutsch-österreichischen Grenzgebirge und wurde in den engen Tallagen aus Hochwasserschutzgründen und zur Landgewinnung kanalisiert. Circa 20nach der Quelle hat sich die ursprüngliche Ammer nach Abschmelzen der Gletscher der letzten Eiszeit in einen Riegel aus Molasse eingegraben. So entstand eine im bayerischen Alpenvorland einmalige Wildflusslandschaft mit canyonartigen Abschnitten, in der die ungezügelte, lebendige Flussdynamik - trotz drei bestehender Querbauwerke zur Energieerzeugung und Sohlstützung - noch heute das Landschaftsbild prägt. Die Ammer und ihre Nebenflüsse werden seit Langem vom Menschen auf die unterschiedlichste Weise genutzt: traditionell zum Antrieb von Mühlen und Sägewerken, bis 1915 wurde die Holztrift auf Ammer und Halbammer regelmäßig betrieben (bei Schneeschmelze triftete man das Holz nach Norden), Kalktuffe dienten als Baumaterial und Kies wird heute noch entnommen. Erholungssuchende nutzen das Gebiet zum Wandern und Baden, weiterhin gilt die Ammer für Kajakfahrer als interessantes Wildwasser.

Obere Isar

Zwischen der Landesgrenze zu Tirol bei Mittenwald und dem Sylvensteinspeichersee befindet sich ein Abschnitt der Isar, wo im Zuge der Wasserkraftnutzung ein großflächiges "Freilandexperiment" durchgeführt wird. Vor 1990 wurde das Wasser aus einem Großteil der Fließstrecke zum Walchenseekraftwerk komplett abgeleitet und das Flussbett war an 300 Tagen im Jahr mehr oder weniger ausgetrocknet. Seit 1990 wird eine Restwassermenge am Wehr abgegeben (Teilrückleitung). Trotz dieser Eingriffe haben sich hier "wildflusstypische" Arten erhalten bzw. mit Blick auf die Vögel, Fische und das Makrozoobenthos wieder entwickelt. Nach dieser 70 Jahre andauernden Phase der Trockenheit, in der einige Tier- und Pflanzenarten deutliche Konkurrenzvorteile hatten, versuchen die an Trockenheit angepassten Arten nun seit 1990 mit der Restwassermenge und der nachfolgenden Ausweitung der Weidengebüsche zurechtzukommen.

Beiden Wildflussabschnitten gemeinsam ist der Zustrom von Gesteinsmaterial aus den Quellgebieten oder durch Seitenerosion und temporär hohe Abflussmengen, die diese Gesteine dann umlagern. So entsteht ein Mosaik aus offenen, spärlich mit Pioniervegetation (z.Silberwurz oder dem Steintäschel) und stärker mit Weidengebüschen bewachsenen Flächen. Dazu kommen noch kleine Waldinseln mit Laub- und Nadelhölzern und deren typischem Unterwuchs. Das führt dazu, dass trotz der hohen Dynamik durch plötzlich auftretende Hochwasserereignisse nach an den Bergen aufgestauten Starkregen oder Gewittern immer Flächen für eine Neubesiedlung für wildflusstypische Arten vorhanden sind, zum Beispiel Gliederfüßer wie Gefleckte Schnarrschrecke (Bryodemella tuberculata), Kiesbankgrashüpfer (Chorthippus pullus) und Flussuferwolfsspinne (Arctosa cinerea) oder Pflanzen wie die Deutsche Tamariske (Myricaria germanica). Solche Arten sind zahlenmäßig oft gering vertreten, aber durch das Zusammenspiel an "Entstehen und Vergehen" erhalten sich die Bestände. Wenn durch Störungen des Systems Teile des Mosaiks ausfallen, wirkt sich das auf die Artenzusammensetzung aus.

Kiesbänke zur Nahrungssuche

Der Flussuferläufer ist etwas kleiner als eine Amsel und wirkt gedrungener. Die typischen Feldkennzeichen sind eine braune Oberseite und reinweiße Unterseite, sowie die beim Flug deutlich sichtbare weiße Flügelbinde. Flussuferläufer fliegen schnell und flach über der Wasseroberfläche. Männchen und Weibchen lassen sich nicht über äußere Merkmale unterscheiden. Charakteristisch ist der Ruf des Flussuferläufers. Am häufigsten kann man ein dreisilbiges "hi'didi" mit Betonung auf der ersten Silbe hören. Der Ruf wird vor dem Abflug oder gelegentlich im Sitzen und Laufen ausgestoßen. Lautäußerungen bei Erregung, Warnen und Locken der Jungen unterscheiden sich davon.

Anfang April kehrt der Flussuferläufer aus den afrikanischen Überwinterungsgebieten in die Brutgebiete zurück. Im untersuchten Bereich an der Oberen Isar kommen die Flussuferläufer später an als an der Ammer. Mittels Farbberingung konnte, im Auftrag des Landesamts für Umwelt, Brutortstreue nachgewiesen werden. Flussuferläufer sind im Untersuchungsgebiet nicht wirkliche "Kiesbankbrüter". Typische Gelegestandorte liegen auf sandigem Untergrund (für die Nistmulde), sind locker mit Büschen bestanden und mit einer Reihe von Krautpflanzen bedeckt. Solche Standorte bleiben am Oberlauf der Flüsse durch natürliche Flussdynamik erhalten. Gegen Ende der Balz erfolgen Nestbau (Auskleiden einer Bodenmulde) und Eiablage. In der Hauptlegezeit Mai werden in der Regel vier Eier gelegt. Wird ein Nest zerstört, beginnen die Vögel meist ein Nachgelege. Die Jungen sind Nestflüchter und verlassen das Nest innerhalb der ersten 24 Stunden nach dem Schlüpfen. Sie werden dann bis zum Erreichen der Selbstständigkeit geführt. Je nach Brutverlauf verlassen die Vögel das Brutgebiet im Familienverband, ausnahmsweise ziehen Elternteile vorab alleine weg.

Als Nahrungsbiotop nutzen Flussuferläufer dann vor allem regelmäßig überschwemmte Kiesbankränder. Die Nahrungsaufnahme geschieht durch visuell orientierte pickende Bewegungen. Flussuferläufer sind in der Nahrungswahl sehr variabel, der Speisezettel reicht von Ameisen bis Zuckmückenlarven. Oft werden auch fliegende Insekten bis zu Schmetterlingsgröße gefangen. Da der Flussuferläufer unterschiedlichere Habitate nutzt als andere Limikolen, ist das Nahrungsspektrum breiter gefächert.

Der Flussuferläufer ist paläarktisch verbreitet. Laut der aktuellen Brutvogelatlanten werden für Deutschland 300 bis 420 Brutpaare und für Bayern 150 bis 190 Brutpaare geschätzt. Der Bestand fiel an Ammer und Isar, ausgehend von Bestandszahlen der 1990er Jahre, auf die Hälfte bis ein Drittel ab.

Blanker Kies als "Nest"

Adulte Flussregenpfeifer sind etwas größer als Bachstelzen. Im Brutkleid ist die schwarze Gesichtsmaske durch einen weißen Federbereich vom erdbraunen Scheitel abgesetzt. Im Ruhekleid fehlt die Maske. Auffällig ist auch der zitronengelbe Augenring. Der Geschlechtsdimorphismus drückt sich in der Färbung des Wangenfleckes (Weibchen hellbraun, Männchen schwarz) und der Breite des Augenringes aus (beim Weibchen schmäler) und ist dann in der Interpretation oft Glaubenssache.

Flussregenpfeifer brüten im Untersuchungsgebiet an der Oberen Isar. An der Ammer treten sie sporadisch nach großen Hochwasserereignissen auf. An der Oberen Isar kommen die Flussregenpfeifer etwas früher an als die Flussuferläufer. Die Paare sind sehr reviertreu und suchen die Nistplätze des Vorjahres wieder auf. Das komplexe Balzverhalten erleichtert ein Auffinden auf den Kiesbänken. Durch Scheinbrüten, Imponieren und die sogenannte Ablösung unter dem "Schirm" wirbt das Männchen um die Gunst des Weibchens. Flussregenpfeifer brüten auf dem blanken Kies. Die Nistmulde ist bestenfalls mit Stöckchen auskleidet. Von Mitte Mai bis Ende Juli werden durchschnittlich vier Eier bebrütet. Auch beim Flussregenpfeifer gibt es bei erfolglosen Brutversuchen Nachgelege. In Jahren mit günstiger Witterung kommt es auch zu Schachtelbruten, bei denen die Jungvögel noch geführt werden, während bereits erneut gebrütet wird. Jungenführende Familien sind erfahrungsgemäß deutlich länger im Brutgebiet als die Flussuferläufer. Adulte Flussregenpfeifer verlassen oft den Brutplatz vor den Jungen, um eine Mauserstation am Mittelmeer auf dem Zug ins Überwinterungsquartier anzufliegen.

Der Flussregenpfeifer besiedelt ebenes, vegetationsarmes Gelände mit grobkörnigem Substrat an oder in der Nähe von Süßgewässern und Brackwässern. Sein ursprüngliches Bruthabitat sind kiesige oder schotterige Flussaufschüttungen (vor allem Schotterbänke), die durch die natürliche Flussdynamik weitgehend vegetationsfrei bleiben. Außerdem nutzt er als Ersatzhabitate anthropogen geschaffene Standorte wie Kiesgruben etc., die allerdings durch Sukzession oder Baumaßnahmen nach kurzer Zeit als Brutplatz unattraktiv werden können. Auch der Flussregenpfeifer ist ein vielseitiger Insektenfresser auf den Kiesbänken und an deren Rändern.

Der Flussregenpfeifer ist in ganz Eurasien verbreitet. In Mitteleuropa brütet die Art nur in Ausnahmefällen (wie an der Isar) in Höhenlagen über 600m über NN. Nur noch ein Bruchteil des mitteleuropäischen Bestandes nutzt die originären Lebensräume. Nur noch 9% des bayerischen Brutbestandes sind an Flüssen mit Kiesbänken und -inseln zu finden.

Für Deutschland werden aktuell 5500 bis 8000 und für Bayern 950 bis 1300 Brutpaare angenommen. An der Oberen Isar ist der Bestand mit rund 10 Brutpaaren in den letzten Jahren stabil. In einigen Jahren wurden vom Landesbund für Vogelschutz in Bayern (LBV) zur Besucherlenkung Brutplätze mit Bändern markiert und die Öffentlichkeit mithilfe von Faltblättern, Infotafeln, Beschilderungen und Führungen, auch im Rahmen der Gebietsbetreuung, auf die Flussregenpfeifer aufmerksam gemacht. Dieses Vorgehen führte im Vergleich zu nicht betreuten Brutplätzen zu einem erhöhten Bruterfolg. Großflächige Kiesentnahmen - zum Beispiel aus Hochwasserschutzgründen - verhindern jedoch solche Aktionen. Ebenso wie die Vögel müssen sich dann auch die Blutplatzbetreuer auf die neuen Flächen erst einstellen. Zudem ist es schwierig, einem Badegast zu vermitteln, dass ein Brutplatz nicht betreten werden sollte, wenn darüber eine Baustraße führt. 2016 soll ein erneuter Versuch unternommen werden, das Brüten der Flussregenpfeifer und die Erholung der Menschen über Nestschutzmaßnahm en nebeneinander zu ermöglichen. Beim Flussuferläufer führten solche Schutzmaßnahmen allerdings nicht zu einem besseren Bruterfolg.

Der Erhalt der Grundlagen für funktionierende Wildflüsse - Geschiebe, Wassermenge, Besucherlenkung - ist im Zusammenspiel mit anderen Gesellschaftsinteressen schwierig. Land- und Gewässernutzung, Siedlungsentwicklung in den engen Talräumen, Hochwasserschutz, Energienutzung und Erholungsdruck haben starken Einfluss auf die letzten Reste dieses Lebensraumes. Hier gilt es gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Das geht nur, wenn die Naturschutzseite auch ernst genommen und nicht nur politisch gehandelt wird. Die noch vorkommenden Arten sind es allemal wert, "ihre Interessen zu vertreten" und wenn es in den großen Schutzgebieten an Ammer und Isar nicht gelingt, wo dann?


Michael Schödl
LBV-Gebietsbetreuer Obere Isar & Karwendel
Die Gebietsbetreuung wird vom Bayerischen Naturschutzfonds finanziert.
Der LBV ist Projektträger.


Literatur zum Thema:

Bezzel E, Geiersberger I, Lossow G v, Pfeifer R 2005: Brutvögel in Bayern. Verbreitung 1996 bis 1999. Eugen Ulmer, Stuttgart.

Brohmer P 1949: Fauna von Deutschland. Quelle & Meyer, Heidelberg, 6. Auflage.

Colston P 1989: Limikolen. BLV, München.

Gedeon K et al 2014: Atlas Deutscher Brutvogelarten. Stiftung Vogelmonitoring Deutschland und Dachverband Deutscher Avifaunisten, Münster.

Osing H 1993: Der Flußregenpfeifer Charadrius dubius. Natur & Wissenschaft, Solingen.

Rheinwald G 1994: Verbreitung und Bestandsentwicklung des Flussregenpfeifers in Deutschland. Vogel und Umwelt 8: 15-23.

Rödl T, Rudolph B-U, Geiersberger I, Weixler K, Görgen A 2012: Atlas der Brutvögel in Bayern. Verbreitung 2005 bis 2009. Eugen Ulmer, Stuttgart.

Schödl M 2007: Schutzmaßnahmen erhöhen den Bruterfolg des Flussregenpfeifers an der Oberen Isar. Ornithol. Anz., 46: 121-128.

Schödl M 2006: Bestandsentwicklung und Bruterfolg des Flussuferläufers Actitis hypoleucos an bayerischen Flüssen sowie Auswirkungen von Schutzmaßnahmen. Ornithologischer Beobachter 103: 197-206.

Tödter U 1998: Wildflusslandschaften - Spitzenreiter unter den gefährdeten Ökosystemen, in: Alpenreport 1, CIPRA-International. Bern; Stuttgart; Wien, S. 178-182.

Yalden D W 1985: Diet, food availability and habitat selection of breeding of Common Sandpipers Actitis hypoleucos, IBIS 128, S. 23-36.

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Boote das halbe Jahr verboten

Verordnungen regeln an der Ammer die Nutzung durch Bootfahren und für Erholungssuchende: Es besteht ein Befahrungsverbot vom 16.10. bis 30.4. des Folgejahres. Die zu benutzenden Boote (keine Schlauchboote, nicht mehr als zwei Personen) und die Bootsgruppengröße sind vorgeschrieben. Eine gewerbliche und vereinsmäßige Befahrung ist nicht erlaubt. Das Ein- und Aussetzen ist, außer in Notfällen, nur an festgelegten Stellen zulässig. Zudem dürfen definierte und markierte Uferbereiche zwischen dem 15.4 und 15.7. nicht betreten werden.

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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 6/2016
63. Jahrgang, Juni 2016, S. 34-38
mit freundlicher Genehmigung des Autors und des AULA-Verlags
AULA-Verlag GmbH, Industriepark 3, 56291 Wiebelsheim
Tel.: 06766/903 141, Fax: 06766/903 320
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Internet: www.falke-journal.de
 
Erscheinungsweise: monatlich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juli 2016

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