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ORNITHOLOGIE/364: Weiße Nomaden der Tundra - Schneeeulen (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 8/2016

Weiße Nomaden der Tundra: Schneeeulen

von Heiko Liebel


Auf Initiative einiger norwegischer Schneeeulenforscher wurde 2007 die "Internationale Schneeeulen-Arbeitsgruppe" (ISOWG) ins Leben gerufen. Ihr Ziel ist es, bessere Kenntnisse über diese arktische Großeule zu erlangen, um den Bestand realistisch einschätzen und die Art besser vor negativen Einflüssen schützen zu können. Die Ergebnisse der Forschergruppe gewähren einen tiefen Einblick in das Leben der in Europa brütenden Schneeeulen.

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Die holarktisch verbreitete Schneeeule wird in der Wissenschaft seit einigen Jahren in die nahe Verwandtschaft zum Uhu (Bubo bubo) gestellt und als Bubo scandiacus (lat. "skandinavischer Uhu") beschrieben. Mit einer Spannweite von bis über 1,80 m kann sie ähnlich groß werden wie ein Uhu. Ähnlich dem Uhu wiegen die weiblichen Schneeeulen in der Regel fast ein Viertel mehr als ihre männlichen Partner (bis 2,8 kg). Ausgewachsene Männchen können ein rein schneeweißes Gefieder haben, während die Weibchen braun gefleckt und auf der Brust fein bräunlich gebändert sind. Die gelbe Augenfarbe verändert sich mit zunehmendem Alter hin zu einem hell zitronengelben Farbton. Schneeeulen können ein hohes Alter erreichen. Die älteste beringte Schneeeule in freier Wildbahn wurde mindestens zwanzig Jahre alt. Schneeeulen sind nicht nur farblich hervorragend an ihren arktischen Lebensraum angepasst, sie sind auch extrem gut wärmeisoliert bis hin zu den dicht befiederten Füßen. Mit den langen Flügeln erinnert das Flugbild aus der Entfernung an Möwen oder Raufußbussarde.

Die Brutbiologie der Schneeeulen wird seit 2005 von einem Zusammenschluss von Forschern des norwegischen Naturforschungsinstituts (NINA), dem Agder Naturkundemuseum und botanischen Garten (AMN) und der Norwegischen Ornithologischen Gesellschaft (NOF) in Skandinavien intensiv erforscht. Per Satellitentelemetrie konnten die Wissenschaftler in Norwegen brütende Schneeeulen über mehrere Jahre verfolgen und wertvolle Erkenntnisse gewinnen. Es zeigte sich, dass Schneeeulen im ausgehenden Winter Erkundungsflüge von den hocharktischen Überwinterungsgebieten (in der Regel nördlich des 60. Breitengrades) in Russland nach Westen unternehmen, um das Nahrungsangebot in geeigneten Brutgebieten zu untersuchen. Die wichtigste Nahrungsquelle zur Brutzeit ist in Skandinavien der Berg-Lemming (Lemmus lemmus) und vor allem im südlichen Skandinavien die Nordische Wühlmaus (Microtus oeconomus). Ist die Nagerdichte hoch genug, wird ein kleiner, bereits schneefreier Hügel für den Neststandort ausgewählt und eine 25 bis 30 cm breite und 5 bis 9 cm tiefe Kuhle herausgescharrt. Die bevorzugten Brutgebiete Norwegens, Schwedens und Finnlands liegen in baumfreier Fjäll-Landschaft mit relativ nährstoffreichen Mooren im Wechsel mit trockeneren Moränenrücken. Während die Brutplätze im nördlichsten Skandinavien selten oberhalb 300 m ü. NN liegen, werden im südlichen Norwegen und Mittelschweden zur Brutzeit auch deutlich größere Höhen von 1000 bis 1500 m ü. NN besiedelt. Die Nähe zu watvogelreichen Mooren ist wichtig, wenn der Lemmingbestand während der Brutzeit zusammenbricht, da besonders Watvögel den Nahrungsmangel teilweise auffangen können. Selbst in lemmingreichen Jahren wie 2011 und 2015 haben Analysen der Beutetierreste aus Gewöllen ergeben, dass Meerstrandläufer, Bekassine, Mornell- und Goldregenpfeifer, Alpenschneehuhn und Schneeammer zum regelmäßigen Beutespektrum der Schneeeulen gehören. Schneehühner und Meeresenten sind die wichtigste Winternahrung. Bereits ab Anfang Mai werden durchschnittlich sieben Eier gelegt, alle zwei Tage ein Ei. Der unterschiedliche Bebrütungsbeginn zwischen erstem und letztem Ei führt zwangsläufig zu versetzten Schlupfzeitpunkten und deutlichen Größenunterschieden bei den Jungvögeln. Die weibliche Schneeeule bebrütet die Eier und hudert die zunächst schlecht isolierten Jungvögel. Männchen verteidigen gleichzeitig den Nestbereich und schaffen Nahrung herbei. Mit zwei bis drei Wochen verlassen die Jungvögel das Nest, mit 50 Tagen erreichen sie das Flüggestadium. Schneeeulen-Männchen verhalten sich Menschen gegenüber in Nestnähe oder in der Umgebung der Jungvögel aggressiv, während Schneeeulen-Weibchen eher versuchen, vom Nest oder den Jungvögeln abzulenken, indem sie eine Verletzung vortäuschen. In Norwegen besenderte Schneeeulen verbrachten den Winter in Nordrussland oft im Küstenbereich zur Barentssee, auf der Kolahalbinsel und am Weißen Meer östlich bis zur Tajmyr-Halbinsel. In Alaska besenderte Schneeeulen wanderten im Winter dagegen westwärts über die Beringstraße bis Ostsibirien. Es muss davon ausgegangen werden, dass verschiedene Teilpopulationen durch die weiten Wanderungen ständig in Kontakt und genetischem Austausch stehen. Kurios war die Reise von neun Schneeeulen, die im Dezember 2013 vor der Küste Neufundlands auf einem großen Containerschiff rasteten und bis nach Holland mitfuhren.

Brutgebiete Skandinaviens

In guten Lemmingjahren brüten Schneeeulen regelmäßig in Schweden, Finnland und Norwegen. In Schweden wurden in den 1920er Jahren Bruten bis ins südliche Dalarna (schwedisch-norwegisches Grenzgebirge nordwestlich Stockholms) bekannt. In Rekordjahren wie 1978 wird vermutet, dass bis zu 200 Paare in Schweden gebrütet haben könnten. Es kommt aber auch immer wieder zu langen Zeiträumen ohne Brutnachweise (z.B. 1982 bis 2001). Im Jahr 2015 wurden große Gebiete Nordschwedens in Zusammenarbeit mit dem schwedischen Club 300 und dem Naturhistorischen Reichsmuseum per Helikopter und zu Fuß kontrolliert. 23 Bruten wurden entdeckt.

In Finnland wurden im Jahr 2015 traditionelle Brutgebiete in Zusammenarbeit mit Metsähallitus kontrolliert und vier weitere Bruten nachgewiesen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts soll die Schneeeule in Finnland ein verhältnismäßig häufiger Brutvogel gewesen sein. Einen Hinweis darauf geben 800 Schneeeuleneier, die allein im Jahr 1907 im Gebiet um Käsivarsi (Nordwest-Finnland) gesammelt wurden. Finnland ist das einzige skandinavische Land, in dem nachweislich Schneeeulen aus Gefangenschaft in die Natur entlassen wurden (1995 bis 1998: 16 Eulen bei Kilpisjärvi).

In Norwegen gibt es zwei großräumige traditionelle Brutgebiete: die Hardangervidda im Süden und der kaledonische Gebirgszug sowie tiefer liegende arktische Gebiete der drei nördlichsten Regionen Nordland, Troms und Finnmark. In der Hardangervidda brüteten Schneeeulen noch regelmäßig bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Doch dann nahm im Süden die Anzahl der Brutpaare stetig ab und die letzte Brut wurde 1974 bekannt. Seit dem Jahrtausendwechsel gab es in Südnorwegen nur zweimal Brutverdacht bei einem Paar im Gebiet um Oppdal (südlich Trondheim) und eine erfolgreiche Brut im Grenzgebirge zu Schweden auf der Höhe Trondheims. Den Rückgang der Schneeeule in Südnorwegen führen die Forscher auf eine reduzierte russische Population zurück, sodass die Anzahl von Russland einwandernder Schneeeulen nicht ausreicht, um auch in guten Lemmingjahren Südnorwegen zu erreichen. In Nordnorwegen dagegen kam es 2011 zu einem außergewöhnlich hohen Lemmingbestand und allein in Nordnorwegen wurden 43 Brutpaare gezählt. Auch das Jahr 2015 ging als besonders gutes Schneeeulenjahr in die Zeitreihe mit 23 Brutpaaren in Nordnorwegen und 27 Paaren im restlichen Skandinavien ein.

Einzelne Schneeeulenbruten gab es auf den Shetland Inseln (1967 bis 1975), auf Island (unregelmäßig ein bis zwei Paare) und sogar in Irland (2001). Auf Spitzbergen sind keine Bruten der Schneeeule bekannt.

Gefahr durch milde Winter und Störungen am Brutplatz

Früher hatte der Lemmingzyklus etwa alle vier Jahre einen Höhepunkt. Besonders in Südnorwegen schien der Zyklus in den letzten Jahrzehnten aus dem Rhythmus gekommen zu sein und die Regelhaftigkeit war nicht mehr vorhanden. In Nordskandinavien gab es jedoch beispielsweise 2010/2011 einen kalten, schneereichen Winter, was den Lemmingen zugutekommt. Bei Lockerschnee und langem Winter finden Lemminge unter dem Schnee ausreichend Nahrung, sie können sich längere Zeit fortpflanzen und sie sind vor Prädatoren geschützt. Winter mit großen Temperaturunterschieden und hart gefrorenem, vereistem Schnee dagegen wirken sich sehr negativ auf die Lemmingpopulation aus.

Der Klimawandel hat sich vermutlich bereits in den letzten Jahrzehnten negativ auf den Schneeeulenbestand ausgewirkt, da sich die Lebensbedingungen für die Hauptbeute der Schneeeulen, die Lemminge, durch milde Winter mit starken Temperaturschwankungen verschlechtert haben. Zudem muss damit gerechnet werden, dass sich die Waldgrenze im Gebirge weiter nach oben und in der Tundra weiter nach Norden verlagern und den geeigneten, waldfreien Lebensraum einengen wird.

Häufige Wetterextreme können sich ebenso negativ auswirken. Im Juli 2011 reichte beispielsweise ein Tag Dauerregen bei kühlen Temperaturen, dass alle drei halbwüchsigen Jungvögel eines Brutpaares in der Finnmark (Nordnorwegen) an diesem Tag erfroren.

Seitdem die Schneeeule "Hedwig" in den Harry-Potter-Verfilmungen sehr berühmt wurde, fürchtete man, dass die große Nachfrage nach Schneeeulen auch durch illegale Ei-Entnahmen aus der Natur gedeckt werden könnte. Glücklicherweise bestätigten sich die Befürchtungen bislang nicht, vermutlich weil sich Schneeeulen relativ leicht in Gefangenschaft nachzüchten lassen.

Schließlich spielen auch menschliche Störungen am Brutplatz eine große Rolle. Schneeeulen sind begehrte Objekte bei Vogelbeobachtern und Naturfotografen. Schneeeulen sind sehr scheu und fliegen oft bereits bei einer Annäherung auf einen Kilometer auf. Am Brutplatz liegt die Fluchtdistanz aufgrund der Bindung an das Gelege beziehungsweise an die Jungvögel bei nur 100 m. In Schweden führte ein Brutnachweis eines relativ leicht erreichbaren Brutpaares im Jämtland (Mittelschweden) 2011 dazu, dass sehr viele Menschen auf die Brut aufmerksam wurden. Der dadurch ausgelöste Besucherverkehr war so groß, dass der Brutplatz in einem Umkreis von 500 m abgeriegelt wurde. Das vorübergehende Betretungsverbot wurde per Polizeihubschrauber überwacht. Schätzungen zufolge pilgerten in dem Jahr über 2000 Personen zu diesem Schneeeulenpaar. Die Besucher haben sich offensichtlich zum größten Teil an die Auflagen der Naturschutzbehörden vor Ort gehalten, denn fünf Jungvögel wurden dennoch flügge.

Technische Eingriffe in die Natur und Kollision mit Stromleitungen (bzw. selten auch Kurzschluss durch Berühren zweier Leitungen mit den Flügeln) sowie Windkraftanlagen führen vermutlich zusätzlich zu Verlusten.

Geringer Weltbestand

Aufgrund des geringen Brutbestands in Skandinavien ist die Schneeeule in den Roten Listen gefährdeter Vogelarten in Schweden und Norwegen in den Kategorien "vom Aussterben bedroht" und "stark gefährdet" geführt. In der internationalen Roten Liste der International Union for Conservation of Nature (IUCN) gilt die Schneeeule als ungefährdet. Bei BirdLife International wird der Weltbestand mit geschätzten 300.000 Individuen beziffert. Die internationale Schneeeulen-Forschergruppe (ISOWG) schätzt den Bestand hingegen entscheidend niedriger ein. Der europäische Brutbestand (Skandinavien, Grönland und europäischer Teil Russlands) dürfte zwischen 1400 und 5500 Paaren liegen. Der holarktische Weltbestand wird von der Forschergruppe auf 6000 bis 15.000 Paare geschätzt. Der Grund liegt darin, dass nicht das gesamte potenzielle Verbreitungsgebiet homogen besetzt ist, sondern große Räume von einer Teilpopulation genutzt werden. Gleichzeitig können die Brutgebiete je nach Beuteverfügbarkeit von Jahr zu Jahr jedoch über Hunderte von Kilometern variieren. Die große Unsicherheit der Schätzungen zeigt den weiterhin bestehenden Forschungsbedarf.

Wie so oft in der Ornithologie zeigt sich bei der Schneeeulenforschung einmal mehr die hohe Bedeutung grenzüberschreitender Zusammenarbeit, um die Ökologie einer seltenen Art zu verstehen und sie effektiv schützen zu können.


Dr. Heiko Liebel ist Geoökologe. Er hat mehrere Jahre in Norwegen gelebt und ist von klein auf von der nordischen Natur fasziniert.


Literatur zum Thema:

Jacobsen K-O 2005: Snøugle (Bubo scandiacus) i Norge. Hekkeforekomster i perioden 1968-2005. NINA rapport 84.

Jacobsen K-O, Øien IJ, Solheim R, Aarvak T 2014:
Kunnskapsstatus og trusselfaktorer for snøugle Bubo
scandiacus
i Norge. NINA rapport 727.

Marthinsen G, Wennerberg L, Solheim R, Lifjeld JT 2009: No phylogeographic structure in the circumpolar snowy owl (Bubo scandiacus). Conservation Genetics 100: 923-933.

Øien IJ, Jacobsen K-O, Aarvak T, Solheim R, Kleven O 2016: Snøuglas økologi og forekomst i Norge 2015. NOF-Rapport 4-2016.

Schneeeulen-Ausflug nach Holland [online: 04.06.2016]:
https://staatsbosbeheervlieland.wordpress.com/2014/01/22/sneeuwuilen-meegelift-uit-newfoundland/

Homepage der ISOWG: www.snowyowl.no

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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 8/2016
63. Jahrgang, August 2016, S. 12-15
mit freundlicher Genehmigung des Autors und des AULA-Verlags
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Tel.: 06766/903 141, Fax: 06766/903 320
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. September 2016

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