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ORNITHOLOGIE/403: Biblische Taxonomie - "Seht euch die Vögel des Himmels an..." (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 9/2017

Biblische Taxonomie: "Seht euch die Vögel des Himmels an..."

von Dirk Preuß


In der Bibel werden Vögel an über 270 Stellen erwähnt. Die 46 Bücher des Alten und die 27 Schriften des Neuen Testaments zeichnen hierbei kein einheitliches Bild der gefiederten Geschöpfe, denn immerhin entstanden die Texte über einen Zeitraum von mehr als 1000 Jahren. Dennoch lassen sich einige Beobachtungen und Grundlinien skizzieren, wenn man sich zum Birding in diesem Stück Weltliteratur aufmacht.


Anfang des Buchs Genesis (Schöpfungsbericht) in der 42-zeiligen Gutenberg-Bibel - By Original by Johannes Gutenberg (printer), Scan by Jossi (Facsimile of a page from 42-line Gutenberg Bible) [Public domain], via Wikimedia Commons

Vögel werden schon im ersten Kapitel des Alten Testaments erwähnt und sind auch auf den ersten Seiten der Gutenberg-Bibel aus dem 15. Jahrhundert im Bild präsent.
By Original by Johannes Gutenberg (printer), Scan by Jossi (Facsimile of a page from 42-line Gutenberg Bible) [Public domain], via Wikimedia Commons

Natürlich ist die Bibel kein naturkundliches Lehrbuch, auch will sie gar keine naturwissenschaftliche Abhandlung sein. Die biblischen Autoren ordnen die Tiere vielmehr für das Alltagsleben grob ein und entwerfen so durchaus verschiedene, überwiegend volkstümliche Systematiken. Unterschieden werden beispielsweise Wildtiere und Haustiere, ebenso werden die Tiere nach Fortbewegungsart (Schwimmen, Kriechen, Laufen, Fliegen) und Lebensraum (Wasser, Erde, Luft) klassifiziert. Im Falle der Flugtiere führt dies dazu, dass die Fledermäuse zu den Vögeln gezählt werden, wie sich im Buch Baruch (6,21) nachlesen lässt: "Auf ihrem Körper und auf ihrem Kopf lassen sich Fledermäuse, Schwalben und andere Vögel nieder [...]".

Vor allem aber ist insbesondere das Alte Testament an einer kultischen Zuordnung der Vögel interessiert: Es unterscheidet zwischen reinen und unreinen Arten. Während als rein geltende Tiere geopfert werden können und auch gegessen werden dürfen, verbietet sich dies bei unreinen Tieren. Im Falle der Vögel geben dies verhältnismäßig lange Listen in den Gesetzesbüchern Levitikus bzw. Deuteronomium (14,11-20) wieder: "Alle reinen Vögel dürft ihr essen. Dies sind die Vögel, die ihr nicht essen dürft: Aasgeier, Schwarzgeier, Bartgeier, Milan, die verschiedenen Bussardarten, alle Arten des Raben, Adlereule, Kurzohreule, Langohreule und die verschiedenen Falkenarten, Kauz, Bienenfresser, Weißeule, Kleineule, Fischadler, Fischeule, Storch und die verschiedenen Reiherarten, Wiedehopf, Fledermaus und alles fliegende Kleingetier: Sie sollen euch als unrein gelten und dürfen nicht gegessen werden. Alle reinen geflügelten Tiere dürft ihr essen." Heute lässt sich nur noch darüber spekulieren, nach welchen Kriterien im Falle der Vögel die Einteilung in reine und unreine Arten vorgenommen wurde. Denkbar ist, dass in den Listen des Alten Testaments einfach Ernährungsgewohnheiten festgeschrieben wurden, die schon von alters her bestanden. So boten sich übel riechende Vögel wie der Wiedehopf als Nahrung ohnehin nicht an. Vielleicht wurden ergänzend ebenso Vögel ausgeschlossen, die als aasfressende bzw. Greifvögel das Bluttabu verletzten. Im Neuen Testament wird die Unterscheidung in reine und unreine Arten aufgehoben. Wie die Opferung von Tieren im Christentum ohnehin keine Rolle mehr spielte, wird auch jegliche Speise in einer Vision des Apostels Petrus für rein erklärt. Dies gilt explizit auch für Vögel (Apg 10,9-15).

Zur systematischen Einordnung lässt sich ferner die Verhältnisbestimmung von Mensch und Vogel zählen. Einerseits stellen die biblischen Autoren den Menschen hierbei eindeutig über die Tiere. Nicht nur ist es der Mensch, der den Vögeln des Himmels ihre Namen gibt und dadurch ihnen gegenüber ausgezeichnet ist (Gen 2,20), sondern ihm sind sie auch untertan. So wird beispielsweise im Buch Jesus Sirach (17,4) ausgeführt: "Auf alle Wesen legte er [Gott] die Furcht vor ihnen [den Menschen], / über Tiere und Vögel sollten sie herrschen." Andererseits bilden Menschen und gefiederte Tiere eine Schicksalsgemeinschaft. Sie teilen den Lebensatem und sind von Gott gesegnet (Gen 1). Die Folgen der menschlichen Taten treffen auch die Tiere: "Weil seine Bewohner Böses tun, / schwinden Vieh und Vögel dahin" (Jer 12,4). Ebenso zeigt die Opferung von Tieren in den alttestamentlichen Ritualen zugleich deren Nähe zum Menschen an: Weil die Tiere dem Menschen ähnlich sind, eignen sie sich in besonderer Weise, an deren statt bzw. in deren Namen dargebracht zu werden. Hierbei sind es unter den Vögeln vor allem (Turtel-)Tauben, die herangezogen werden. Entweder sind sie dezidiert als Opfertier vorgesehen, etwa wenn ein von "Aussatz" befallenes Haus entsühnt wird (Lev 14,48-53), oder weniger wohlhabende Menschen können sie anstelle eines Schafes oder einer Ziege opfern (Lev 5).

Vogeljagd

Dass die biblischen Autoren einerseits die Tiere dem Menschen unterordneten und ihm zur Nutzung freistellten, andererseits die Ähnlichkeit der Vögel zu uns Menschen erkannten, wird auch an einem anderen Phänomen deutlich, das im Alten Testament mehrfach aufgegriffen wird: der Vogeljagd. Die Texte verraten nämlich erstens, wie sich die Menschen vor 2000 bis 3000 Jahren der Vögel bedienten und mit welchen Methoden sie etwa Singvögel einfingen. Leimruten kamen schon damals ebenso zum Einsatz wie Netze oder Klappfallen. "Darum - so spricht Gott, der Herr: Ich gehe gegen eure Zauberbinden vor, mit denen ihr die Menschen jagt wie Vögel, und reiße sie von euren Armen und lasse die Menschen frei, die ihr gefangen habt wie Vögel", heißt es beispielsweise in einem Drohwort bei Ezechiel (13,20), das sich gegen Wahrsagerinnen richtet.

Zweitens konnten sich die Menschen aber ebenso in die Lage jener gefangenen Tiere hineinversetzen und deren Situation nachvollziehen. Sie erkannten ihr eigenes Geschick im Los des Vogels wieder, wie es in Psalm 124,7 beschrieben wird: "Unsre Seele ist wie ein Vogel dem Netz des Jägers entkommen; / das Netz ist zerrissen und wir sind frei."

Dieses Mitfühlen-Können führte in der Regel allerdings nicht zu einem "ethischen Tierschutz" im heutigen Sinne: Zwar verbietet das Buch Deuteronomium (22,6 das Muttertier zusammen mit den Jungvögeln zu töten, "sondern du sollst die Mutter fliegen lassen und nur die Jungen nehmen". Dies ist allerdings eher dem Respekt vor dem Geheimnis der Lebensentstehung bzw. vor der Schöpfungsordnung an sich und letztlich wohl auch dem Gedanken einer nachhaltigen Nutzung der Ressource "Wildvogel" im Interesse des Menschen geschuldet.

Gleichnisse und Bilder

Mit seiner vielgestaltigen Landschaft und auf der Route zahlreicher Zugvögel gelegen, waren Vögel in Palästina den Menschen allgegenwärtig. So verwundert es nicht, dass sie für bildliche Vergleiche, als Sinnbilder und Symbole, ja sogar als Vorbilder herangezogen wurden. "Wie ein Vogel, der aus seinem Nest flüchtet, / so ist ein Mensch, der aus seiner Heimat fliehen muss", heißt es etwa in den Sprichwörtern (27,8). "Selbst der Storch am Himmel kennt seine Zeiten; / Turteltaube, Schwalbe und Drossel halten die Frist ihrer Rückkehr ein", lobt Jeremia (8,7) die Zugvögel, während zu seinem Leidwesen zugleich gilt: "mein Volk aber kennt nicht die Rechtsordnung des Herrn." Die Art des Taubenflugs veranschaulichte wiederum sehr gut, wie man sich das Herabkommen des Heiligen Geistes auf Jesus bei der Taufe im Jordan ausmalte (Mk 1,10). Und wie Greifvögel ihre Jungen beschirmen, so kann Jesaja (31,5) auch von Gott sagen: "Wie ein Vogel mit ausgebreiteten Flügeln / wird der Herr der Heere Jerusalem schützen [...]". Immerhin stehen die Vögel augenscheinlich der himmlischen, das heißt der göttlichen Sphäre nahe. Entsprechend stellt man sich die Cherubim und Seraphim, also jene himmlischen Mischwesen am Thron Gottes, geflügelt vor (Jes 6, Ez 10).

Dabei lässt sich heute nicht mehr in jedem Fall eindeutig bestimmen, welche Vogelart genau die biblischen Autoren einst bezeichnen wollten. Dies überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass eine einheitliche wissenschaftliche Nomenklatur letztlich erst durch Carl von Linné im 18. Jahrhundert geschaffen wurde. Nicht selten lässt sich aber wiederum aus dem Kontext ableiten, welche Art oder Gattung durch die hebräische Terminologie gemeint war. Während Luther beispielsweise die Passage aus dem Buch Micha (1,16) "mache dich ganz kahl wie ein Nescher" auf den Adler bezog, übersetzt man das hebräische "Nescher" heute aufgrund der offensichtlichen Kahlheit des Vogelkopfes besser mit Geier.

Die Raben

Werden zahlreiche Vogeltaxa nur zwei- oder wenige Male genannt, tauchen andere wie Tauben, Sperlinge oder Greifvögel häufiger in der Bibel auf und werden ausführlicher dargestellt. Dies gilt auch für die Raben, die hier abschließend exemplarisch betrachtet seien. Sie sind in der Bibel die erste explizit erwähnte Vogelgattung. In der Sintflutgeschichte sendet Noach einen Raben von der Arche aus, um zu prüfen, ob das Land bereits wieder trocken ist (Gen 8,6 Dahinter verbirgt sich möglicherweise die Orientierungstechnik der antiken Seefahrt, auf hoher See Vögel frei zu lassen: Kehrten sie zum Schiff zurück, war kein Land in der Nähe; flogen sie davon, ließ sich in dieser Richtung fester Boden vermuten. Für den Psalmisten (147,9) liefern die Raben ferner das Exempel für die Fürsorge Gottes, denn er "gibt den jungen Raben, wonach sie schreien". Obgleich man sie unter die unreinen Vögel rechnete, war man sich offenbar auch der Klugheit dieser Tiere bewusst und konnte sich gut vorstellen, dass sich Gott ihrer für seine Aufträge bedient: "Aus dem Bach sollst du trinken, und den Raben habe ich befohlen, dass sie dich dort ernähren", weist Gott den Propheten Elija im ersten Buch der Könige (17,2-6) an. Und tatsächlich geschah es so: "Die Raben brachten ihm Brot und Fleisch am Morgen und ebenso Brot und Fleisch am Abend [...]". Auf die letztgenannten Textstellen spielt denn auch das Lukas-Evangelium (12,24) an, wenn Jesus seine Zuhörer auffordert: "Seht auf die Raben: Sie säen nicht und ernten nicht, sie haben keinen Speicher und keine Scheune; denn Gott ernährt sie." Dies gilt aber natürlich nicht nur für Raben, sondern für alle gefiederten Geschöpfe, sodass der Evangelist Matthäus (6,26) an einer parallelen Stelle empfehlen kann: "Seht euch die Vögel des Himmels an"!


Dr. Dirk Preuß ist Biologe und Theologe. Er arbeitet als Referent an der Katholischen Hochschulgemeinde Frankfurt und ist in seiner Freizeit als Zertifizierter Natur- und Landschaftsführer aktiv.


Literatur zum Thema:

Holmgren V C 1988: Bird walk through the Bible. Dover, New York

Keel O, Staubli T 2001, Hg.: Tiere in der Bibel und im Alten Orient. Universitätsverlag, Freiburg (Schweiz)

Nabielek R 2000: Biologische Kenntnisse und Überlieferungen im Mittelalter (4.-15. Jh.). In: Jahn I. (Hg.), Geschichte der Biologie. Spektrum, Heidelberg/Berlin, S. 88-160

Thöne I S 2016: Das Gleiche und das Andere. Die Tierordnungen der Tora. In: Bibel und Kirche 4/2016: 208-213

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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 9/2017
64. Jahrgang, September 2017, S. 20-23
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2017

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