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ZOOLOGIE/1323: Stabschrecken produzieren bakterielle Enzyme selbst (idw)


Max-Planck-Institut für chemische Ökologie - 31.05.2016

Stabschrecken produzieren bakterielle Enzyme selbst


Viele pflanzenfressende Insekten brauchen mikrobielle Enzyme, zum Beispiel Pektinasen, um bestimmte Bestandteile pflanzlicher Zellwände abzubauen. Einige Insekten haben diese Abhängigkeit jedoch erstaunlicherweise überwunden, wie Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie in Jena jetzt entdeckten: Sie fanden heraus, dass Stabschrecken bakterielle Enzyme selbst produzieren können. Die Enzym-Gene sind dabei von Vorfahren der Darmmikroben in das Erbgut der Stabschrecken gelangt.


Foto: © Matan Shelomi, MPI chem. Ökol.

Die Grüne Vietnam-Stabschrecke Ramulus artemis: Das Insekt gehört zu einer von sechs Arten von Stabschrecken, in deren Genom die Forscher bakterielle Pektinase-Gene fanden.
Foto: © Matan Shelomi, MPI chem. Ökol.

Viele Tiere sind auf Darmbakterien angewiesen, um ihre Nahrung verdauen zu können. Symbiotische Mikroorganismen produzieren wichtige Verdauungsenzyme, die zusammen mit den Enzymen ihrer Wirte Nahrungsbestandteile zersetzen können. Viele pflanzenfressende Insekten brauchen mikrobielle Enzyme, zum Beispiel Pektinasen, um bestimmte Bestandteile pflanzlicher Zellwände abzubauen. Einige Insekten haben diese Abhängigkeit jedoch erstaunlicherweise überwunden, wie Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie in Jena jetzt entdeckten: Sie fanden heraus, dass Stabschrecken bakterielle Enzyme selbst produzieren können. Die Enzym-Gene sind dabei von Vorfahren der Darmmikroben in das Erbgut der Stabschrecken gelangt. Die Forscher berichten von diesem neuen Fall von "horizontalem Gentransfer" in der Zeitschrift Scientific Reports (Scientific Reports, Mai 2016, DOI: 10.1038/srep26388)

"Insekten produzieren eigentlich nicht ihre eigenen Pektinasen", erläutert Matan Shelomi, der als Postdoktorand in der Abteilung Entomologie forscht und Erstautor der neuen Studie ist. "Dennoch produzieren Stabinsekten viele dieser Enzyme und ihr Genom enthält entsprechende Pektinase-Gene." Mit Hilfe eines DNA-Abgleichs ermittelte der Wissenschaftler den Ursprung dieser Enzyme, nämlich Gammaprotobacteria, eine der häufigsten Bakterienklassen im Mikrobiom, der Gesamtheit aller den Darm besiedelnden Mikroorganismen von Stabschrecken. Diese Bakterien werden auch auf Blättern gefunden, die den Insekten als Nahrung dienen. "Wir wissen nicht genau, wie dieser horizontale Gentransfer vonstattenging. Es ist jedoch unbestreitbar, dass ein oder zwei Pektinase-Gene von einem Darmbakterium oder aber aus der Nahrung in das Genom der Insekten übergesprungen sind und sich dann mit den Insekten weiterentwickelt haben," erläutert Shelomi. Tests bestätigten, dass einige der neuen Pektinasen ihre ursprüngliche Aufgabe, den Abbau von Pektin, behalten haben, während andere neue unbekannte Aufgaben übernahmen. Wie konnte es aber zu diesem Gentransfer kommen?


Eine internationale Kollaboration löst das Rätsel

Um diese Frage zu beantworten, untersuchte das Forschungsteam sieben verschiedene Stabinsektenarten, darunter Timema cristinae, eine primitive Art, die nur in Kalifornien vorkommt und im Gegensatz zu den anderen, als "Euphasmatodea" bezeichneten Arten, keine Pektinasen hat. Es war unklar, ob Timema die entsprechende Gene niemals hatte oder im Laufe der Evolution wieder verlor. Die Zusammenarbeit mit dem 1K Insect Transcriptome Evolution Project (http://www.1kite.org/) war entscheidend für die Lösung des Rätsels. Mit Hilfe der Datenbank des Projekts, die genetische Informationen über 1000 Insektenarten, darunter von fast 50 Gespenstschreckenarten, enthält, konnten die Forscher Informationen über die Enzym-Gene abgleichen. Dieser Abgleich zeigte, dass der "Gen-Sprung" irgendwann nach der Aufspaltung einer Vorgänger-Art in Timema und die Unterordnung Euphasmatodea erfolgte, allerdings noch bevor sich die Euphasmatodea in weitere etwa 3000 heute bekannte Arten aufspaltete: vor etwa 110 bis 60 Millionen Jahren.

Gene von Darmbakterien können ihre Wirte verändern

Erst kürzlich sind Wissenschaftlerkollegen aus der Abteilung Entomologie in Blattkäfern einem horizontalen Gentransfer von Pektinasen auf die Spur gekommen. Es mag kein Zufall sein, dass alle Insekten, die Pektinase-Gene mittels Gentransfer erworben haben, wie beispielsweise Blattkäfer und Stabschrecken, Blattfresser sind. Außerdem ist es ebenfalls nicht unbedingt zufällig so, dass diese Insektengruppen nach dem horizontalen Gentransfer eine massive Auffächerung in viele neue Arten erlebten. "Irgendetwas muss passiert sein, damit sich aus einer winzigen Stabschrecke wie Timema eine Gruppe von nahezu 3000 Arten entwickeln konnte, die auf der ganzen Welt anzutreffen sind und von denen einige bis zu einem halben Meter groß werden können," sagt Shelomi, der sich auf das längste Insekt der Welt bezieht, das auch zur Familie der Euphasmatodea gehört und Phoebetica chani genannt wird. Seine neue Theorie nennt er Enzym-Expansions-Hypothese: Sie besagt, dass das plötzliche Auftreten neuer Enzym-Fähigkeiten - ob aufgrund von Mutation oder horizontalem Gentransfer - die Evolution einer Art vorantreiben kann und ihre Ernährungsweise so verändert, dass sie sich auf eine einzige Nahrungsquelle spezialisieren kann.

Abgesehen von Enzymen, kann horizontaler Gentransfer eine Reihe von anderen neuer Fähigkeiten vermitteln. Unser Mikrobiom stellt eine unglaubliche Quelle potenzieller artverändernder Proteine bereit. "Die Idee, dass Gene von Mikroorganismen in unserem Darm plötzlich Teile unseres eigenen Genoms wurden und den Lauf unserer Evolutionsgeschichte veränderten, ist eine unglaubliche Entdeckung", fasst Shelomi zusammen. [MS/AO]


Originalveröffentlichung:
Shelomi, M., Danchin, E. G. J., Heckel, D. G., Wipfler, B., Bradler, S., Zhou, X., Pauchet, Y. (2016). Horizontal gene transfer of pectinases from bacteria preceded the diversification of stick and leaf insects. Scientific Reports, 6: 26388. doi:10.1038/srep26388.
http://dx.doi.org/10.1038/srep26388

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution1258

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Max-Planck-Institut für chemische Ökologie, Angela Overmeyer, 31.05.2016
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2016

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