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FORSCHUNG/150: Archivgut mit Verfallsdatum (Leibniz)


Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft 1/2008

KULTURPFLANZEN-MUSTER
Archivgut mit Verfallsdatum
Die Samenbank auf Spitzbergen reicht nicht. Um die pflanzliche Vielfalt zu bewahren, müssen Züchter stets für Nachschub sorgen

Von Josef Zens


Samenkörner rein ins Gefrierfach, Licht aus - und für die nächsten tausend Jahre lagern sie dann sicher in der Arktis: "Ganz so einfach ist es leider nicht", sagt Prof. Dr. Andreas Graner zu den Zeitungsberichten über die "Arche Noah für Pflanzen" auf Spitzbergen. Dort wurde kürzlich eine internationale Samenbank eröffnet, welche die Biodiversität sichern helfen soll. In den unterirdischen Kammern bei Longyearbyen finden bis zu 4, Millionen Proben von Pflanzensamen Platz. "Die meisten Zeitungen schrieben aber nicht, dass das Saatgut auch dort nur begrenzt haltbar ist", erläutert Graner. Er ist Direktor des Leibniz-Instituts für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) und damit verantwortlich für Deutschlands eigenes Pflanzenarchiv. Graner: "Bei uns in Gatersleben lagern nahezu 10.000 Proben, die müssen wir regelmäßig erneuern."

Und das geht ganz klassisch: Getreidekörner beispielsweise werden auf je rund zwei Quadratmeter großen Parzellen ausgesät - dann heißt es: Gießen, Jäten, Abwarten. "Und Bonitieren", fügt Graner hinzu. Darunter verstehen die Pflanzenzüchter einen wiederholten Kontrollprozess, der sicher stellt, dass es sich bei den Keimlingen auch wirklich um die Pflanze handelt, die auf dem Etikett der Probe angegeben ist. Diese Vermehrung ist sehr arbeitsaufwendig, erfordert Spezialwissen und langjährige Erfahrung der verantwortlichen Sammlungskuratoren. Wo der Städter nur grüne Halme aus der Erde hervorspitzen sieht, müssen die Experten in Gatersleben erkennen, ob es Weizen, Hafer oder Gerste ist. Mehr noch: "Wir haben rund 30.000 unterschiedliche Proben von Weizen", berichtet Graner, "die dürfen nicht verwechselt werden". Bei der Ernte wird es erneut schwierig. Von Hand gemäht, werden die Garben pro "Sorte" (im Fachjargon: Akzession) einzeln gedroschen. Danach müssen die Pflanzenzüchter die Maschinen sorgfältig reinigen, um Vermengungen auszuschließen. Vor der Einlagerung des Saatguts in den Kühlräumen wird noch die Keimfähigkeit des Saatguts bestimmt. Auf diese Weise stellt man sicher, dass nur qualitativ hochwertiges Saatgut den Weg in die Genbank findet. Da nimmt es nicht Wunder, dass die Vermehrung des Saatguts der größte Kostenfaktor am IPK ist.

Der Schwerpunkt der deutschen Samenbank in Gatersleben liegt auf Getreide. Aber auch Kohl, Kartoffeln und Tomaten und vieles mehr sind mit ihren Samen dokumentiert und werden Jahr für Jahr gezogen. Insgesamt kommen jedes Jahr rund 7.500 Muster auf die Felder oder in die Gewächshäuser des IPK. Damit stellen die Experten in Gatersleben sicher, dass in einem Zyklus von 20 Jahren sämtliche Muster erneuert werden: Samen von insgesamt 3.000 botanischen Arten aus rund 800 verschiedenen Gattungen.

Wieso können die Samenproben nicht länger gelagert werden? "Selbst bei minus 18 Grad laufen noch Alterungsprozesse ab", erläutert Graner, der seit 1997 in Gatersleben forscht und das Institut seit 2007 leitet. Sogar Luftabschluss könne nicht verhindern, dass das Saatgut leidet und seine Keimfähigkeit verliert. Umgekehrt haben sich manche Samen als erstaunlich haltbar erwiesen, selbst bei Zimmertemperatur: "Es gibt einzelne Berichte über plötzlich wachsende Pflanzen aus Samen, die zwei Jahrhunderte oder länger aufbewahrt wurden", erzählt Graner. Das sei zum Beispiel nach Bränden in Herbarien geschehen - das Löschwasser hatte die Körner keimen lassen. Nur: "Wir können uns nicht auf Zufälle verlassen und hoffen, dass Samen Jahrhunderte überdauern", sagt der IPK-Direktor.

Daher sorgen er und seine Mitarbeiter in Gatersleben für stets frisches Saatgut. Das wird dann regelmäßig nach Spitzbergen geliefert werden. Die Kammern im Permafrostboden füllen sich so sukzessive mit Samen aus aller Welt. Und wenn in rund 20 Jahren die Kapazität von 4,5 Millionen Proben ausgeschöpft sein wird, dann kommen bereits neue Körner, um die alten Proben zu ersetzen.

"Das ist ein gefrorener Garten Eden", hatte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso zur Eröffnung gesagt. Der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg sprach von einer "Versicherungspolice" für die Biodiversität. "Ich halte dieses Weltarchiv für außerordentlich wichtig", unterstreicht Andreas Graner, "aber die Nationalarchive verlieren damit nichts von ihrer eigenen Bedeutung". Das liege nicht nur an der Pflicht zur stetigen Erneuerung des Samenschatzes. Das IPK hat weitere Aufgaben, die ein Lager wie in Spitzbergen nicht übernehmen kann. Dazu gehören neben der Vermehrung der Pflanzen noch das Sammeln und die Abgabe von Samenproben, zum Beispiel an Pflanzenzüchter.

Ganz wichtig sei auch die eigene Forschung, sagt Andreas Graner. "Um die Vielfalt der Natur zu nutzen, müssen wir die genetischen Baupläne der Pflanzen erst verstehen", fasst der Wissenschaftler das Problem zusammen. Hierzu werden große Forschungsprojekte, wie zum Beispiel die Entschlüsselung des Gerstengenoms durchgeführt. Auch die grüne Gentechnik biete Lösungsansätze zur weiteren Verbesserung unserer Kulturpflanzen: Aber anders als gemeinhin angenommen, sei es nicht so einfach, etwa "Designerweizen" zu erzeugen, der dann hohe Erträge bringt und gleichzeitig gegen Trockenheit gefeit ist. Die meisten Merkmale und Eigenschaften unserer Kulturpflanzen werden von vielen Genen beeinflusst. "Manchmal spielen tausend und mehr solcher Erbanlagen dabei zusammen", berichtet Graner. Mit Hilfe gentechnischer Verfahren lassen sich bisher aber nur einzelne Gene übertragen. Der sogenannte Bt-Mais, der einen aus Bacillus thuringiensis ausgeborgten Wirkstoff gegen den Schädling Maiszünsler produziert und damit die chemische Bekämpfung des Schädlings überflüssig macht, ist also nur ein erster Schritt.

Bevor Getreide aus der Retorte gezogen wird, gilt es deshalb, sich nach Lösungen umzusehen, die die Natur bereits gefunden hat. Immer wieder unternehmen die Forscherinnen und Forscher des IPK ausgedehnte Reisen, um Wildformen der Kulturpflanzen zu finden und zu sichern. "Unser Getreide beispielsweise kommt ursprünglich aus dem Nahen Osten", erklärt Graner, "also fahren wir dorthin, um Gräser zu sammeln, aus denen Weizen, Roggen und die vielen anderen Arten gezüchtet wurden". In diesem Jahr ist eine Reise nach Georgien geplant. Die Region im Kaukasus war Rückzugsgebiet für viele Pflanzen, die während der Eiszeit von den aus Skandinavien vorrückenden Gletschern verdrängt wurden.

Jetzt sind es erneut der Klimawandel und zusätzlich der Mensch, die die Biodiversität massiv bedrohen. "Vor diesem Hintergrund sind das Sammeln von Wildformen und das Aufbewahren von Züchtungen enorm wichtig", betont Graner. Nur so sei es möglich, auf die sich ändernden Bedingungen zu reagieren. Es gehe nicht nur um neue klimatische Anforderungen, sagt er, sondern auch um andere Ansprüche an Nutzpflanzen. "Früher stand die Sicherung der Ernährung im Vordergrund", so der Wissenschaftler, "heute fragt man zusätzlich nach nachwachsenden Rohstoffen, seien es chemische Grundstoffe oder Fasern für die Industrie oder Energiepflanzen".

Die Politik des Institutes sei dabei auf größtmögliche Offenheit ausgerichtet. Graner: "Jeder kann von uns Samen erhalten, sofern nicht eine rein kommerzielle Verwertung des Saatguts geplant ist." So sei es denkbar, dass der Hobbygärtner nach bestimmten Tomatenarten fragt oder eine Schule Proben von Getreidesorten will. Der Großteil der Anfragen jedoch, mehr als 50 Prozent, kommt aus der Wissenschaft. Insgesamt versendet das IPK 15.000 Proben pro Jahr und unterstützt so die Forschung weltweit. Spitzbergen ist hier nur eine Datensicherung, nicht mehr, aber auch nicht weniger.


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Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Hoch oben im Nordatlantik auf der norwegischen Insel Spitzbergen können im Permafrostboden der unterirdischen Kammern in der neuen internationalen Samenbank bis zu 4,5 Millionen Pflanzensamen-Proben gelagert werden. Das Bild zeigt Probengläser im IPK.

Die deutsche Samenbank in Gatersleben hat ihren Schwerpunkt auf Getreide ausgerichtet, aber auch die Samen von Kohlsorten, Kartoffeln und Tomaten sind hier dokumentiert. Jahr für Jahr kommen rund 7.500 Muster auf die Felder oder in die Gewächshäuser des IPK.


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Quelle:
Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 1/2008, Seite 12-13
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Mai 2008