Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → CHEMIE

MELDUNG/004: Vom Regen in die Traufe - die vierte Abwasser-Klärstufe kommt (SB)


Vierte Abwasserstufe soll nun auch Medikamente entfernen

Risken und Nebenwirkungen nicht ausgeschlossen


Der unlängst erschienene Bericht zur Trinkwasserqualität des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) und des Umweltbundesamtes (UBA) vergibt die Testnote: "sehr gut" für das deutsche Trinkwasser. Jochen Flasbarth, UBA-Präsident äußerte sich hierzu gegenüber dem "Informationsdienst Wissenschaft" (idw) am 19. Januar 2012: "Trinkwasser in Deutschland kann man ohne Bedenken zu sich nehmen. Die qualitativen Eigenschaften bekommen nach wie vor ausschließlich Bestnoten." Festgelegte Grenzwerte würden nicht überschritten und auch fast alle mikrobiologischen und chemischen Qualitätsanforderungen würden die strengen rechtlichen Vorgaben zu mehr als 99 Prozent einhalten. Nun, "rechtliche Vorgaben" für Stoffe, die gemeinhin nur in Abwässern zu finden sind, beruhigen doch ungemein...

Die äußerst positive Beschreibung des Trinkwasserzustands gibt nämlich unbeabsichtigt auch Aufschluß darüber, daß eine Kontamination mit den oben genannten Spuren, die eigentlich nur aus Abwässern, Dünger oder Gülle stammen können, durchaus nicht ausgeschlossen werden und deshalb mittels Grenzwerten eingeschränkt werden müssen. Diese unerwünschten Einträge versucht man u.a. schon durch verschiedene Stufen im Klärwerk, bestehend aus einer mechanischen Abwasserreinigung, gefolgt von einer biologischen Stufe mit Ziel auf die Eliminierung von Kohlenstoffverbindungen, sowie einer dritten Reinigungsstufe zur Eliminierung von Stickstoff- und Phosphorverbindungen, klein zu halten.

Nicht genannt und nicht im Trinkwasserbericht erfaßt werden hingegen Spuren von weiteren im Haushalt gebräuchlichen Chemikalien und Medikamenten, die direkt oder vom Organismus metabolisiert bzw. unverändert ausgeschieden über das Abwasser und Aufbereitungsanlagen wieder in Flußsysteme oder andere Wasserläufe und so ins Grund- bzw. Trinkwasser gelangen können. Mittels moderner, sensibler Analysenverfahren lassen sich heutzutage zahlreiche Stoffe im Trinkwasser feststellen, die dort nichts zu suchen haben, von denen aber jeder einzelne für sich genommen ebenfalls unter die Grenze der Bedenklichkeit fällt. Verschiedene Beispiele solcher unterschwelligen Trinkwasserkontaminanten als Anhaltspunkte für die Verbindung zwischen Abwasser mit Grund- bzw. Trinkwasser konnten wir an dieser Stelle [siehe Anm. 1,2,3,4] schon häufiger darlegen.

Nun wurde auch von offizieller Seite aus ein Handlungsbedarf dafür erkannt, daß drei Reinigungsstufen in Kläranlagen nicht genügen, um die zahllosen Medikamentenrückstände ausreichend zu entfernen. In der am 23. Januar 2012 ausgestrahlten Sendung Umwelt und Verbraucher des Deutschlandfunks wurde eine mögliche vierte Reinigungsstufe als Vorschrift für deutsche Klärwerke thematisiert, die Abhilfe schaffen soll. Die Einführung einer sogenannten vierten Reinigungsstufe wird u.a. vom Umweltbundesamt befürwortet.

In freudiger Erwartung anstehender Lösungen wurde hier über das eigentliche Problem mit weniger Zurückhaltung als sonst Medien gegenüber üblich gesprochen und so erläuterte Dr. Hans-Jürgen Pluta, Fachgebietsleiter für den Bereich der Abwasserentsorgung im Umweltbundesamt in Berlin, daß es vor allem der auf geringe Dosen ausgerichtete Wirkmechanismus von Medikamenten sei, der den Umweltchemikern Kopfschmerzen verursachen würde.

Bei den Arzneimitteln oder den Therapeutika oder Hormonen ist das große Problem, dass sie gezielt hergestellt werden, um in kleinen Konzentrationen große Wirkung zu entfalten. Wenn Sie darüber nachdenken, bei einer Erkältung brauchen Sie nur kleinste Mengen einzunehmen, um die Erkältung loszuwerden. Das heißt, winzige Mengen dieser Stoffe reichen völlig aus, um Änderungen in der Physiologie und dem Hormonhaushalt der Organismen, hier in unserem Fall bei Arzneimitteln beim Menschen oder auch bei Tieren zu bewirken.[5]

Das läßt auch die eingangs erwähnten, unterschwellig niedrigen Analysenergebnisse für Trinkwasser in einem anderen Licht erscheinen: Was ihre schädliche Relevanz für Mensch und Tier angeht, kommt es auf Zusammenhänge, wie Wirkungsmechanismen oder auch die zufällige Zusammensetzung aus sich gegenseitig beeinflussenden, synergistisch wirksamen Chemikalien an, sämtlich Faktoren, die nicht in den üblichen Grenzwerten berücksichtigt werden.

Tatsächlich könne man bereits 100 von insgesamt 3000 Arzneimitteln im Abwasser nachweisen, hieß es im DLF weiter. Diese könnten laut Prof. Christof Wetter, Spezialist für Abwassertechnik an der Fachhochschule Münster, die Klärwerke bisher ungehindert passieren.

Diskutiert wird derzeit, ob man die Klärwerke mit einer vierten Reinigungsstufe ausrüsten soll. Mit Hilfe von Sauerstoff können die Arzneimittelreste abgebaut werden. Besonderes Interesse gilt allerdings einem zweiten Verfahren, bei dem Aktivkohle zugesetzt wird, erläutert Christof Wetter. [5]

Durch Anhaften an der großen Oberfläche dieser feingepulverten Aktivkohle, davon geht man aus, würden sämtliche Reste der noch verbliebenen "Kohlenstoffverbindungen oder andere an der Aktivkohle absorbierenden Verbindungen" aus dem Wasser entfernt. Die Aktivkohle könne dann herausgefiltert und unter Energiegewinnung verbrannt werden.

Doch offenbar sind nicht alle Teilnehmer der öffentlichen Diskussion darüber von den quantitativen Möglichkeiten dieses Verfahrens restlos überzeugt. So lehnt Martin Weyand vom Bundesverband Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) eine vierte Reinigungsstufe ab, da es u.a. die Kosten für Abwasser auf bis zu 30 Cent pro Kubikmeter erhöhen könnte, ohne Garantie, die fraglichen Stoffe vollständig zu entfernen:

"Man muss auch bedenken, dass wir das gereinigte Abwasser auch in unsere Fließgewässer einleiten. In der Regel haben wir an unseren Fließgewässern nicht nur eine Kläranlage, sondern mehrere. Das heißt, im Laufe der fließenden Welle summieren sich die Konzentrationen der gesamten Abwasseranlagen in den Bereichen. Wir haben dann ganz sicher Schwierigkeiten in den größeren Flusssystemen, auch in anderen Ländern, wie der Schweiz, durch Aufkonzentrierungen von gefährlichen Stoffen." [5]

Die Gegner der vierten Reinigungsstufe sind gegen eine nachträgliche "Reparatur" im Klär- oder gar Wasserwerk und sprechen sich auf der Grundlage des Verursacher- und Vorsorgeprinzips für den auf die Quelle der Belastung ausgerichteten Ansatz aus. Zum einen wird von dieser Seite eine Umweltrisikobewertung für Human- und Tierarzneimittel im Rahmen des Zulassungsverfahrens gefordert, zum anderen müßten die Wirkstoffmechanismen von Arzneimitteln verändert werden. Das hieße in letzer Konsequenz u.a. neue chemische Veränderungen innerhalb der Wirkstoffe, die möglicherweise innerhalb der Organismen in unschädlichere Substanzen abgebaut werden. Diese Lösung läßt sich mit Sicherheit nicht für alle Substanzen verwirklichen, ohne daß diese etwas an ihrer ursprünglichen Funktion einbüßen.

Die Vierte Reinigungsstufe wird also kaum zu umgehen sein. In Bayern, Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen sind bereits - so Hans- Jürgen Pluta - Pilotprojekte dafür angelaufen, bei denen geprüft werden soll, inwieweit sich die Laborergebnisse der Oxidations-Aktivkohle-Kombination großtechnisch umsetzen lassen. Und das sei im Moment der Schwerpunkt der Aktivitäten in den verschiedenen Ländern und der Klärwerksbetreiber.

Nicht erwähnt wird in dieser Diskussion allerdings, was für Folgen eine zusätzliche Aufoxidation von weiteren, möglicherweise bis dahin als harmlos betrachteten Substanzen haben kann. Darüber wurde noch im November 2011 zufällig in einer weiteren Sendung des Deutschlandfunks (Forschung aktuell) berichtet, in der die Umwandlung von Duftessenzen wie Citronellol, Cumarin oder Linalool über ganz natürliche Oxidationsprozesse in bedenkliche, umweltschädliche Abbauprodukte thematisiert wurde. Unter den allgemeinen Begriffen "Parfüm" oder "Duftstoffe" auf den Shampooflaschen verbergen sich unterschiedliche Substanzen, die laut europäischer Richtlinie nicht genau bezeichnet werden müssen, da ihre Konzentrationen meist nur sehr gering sind. Im Falle von Duftstoffen wurde der durchschnittliche Eintrag einer Klinik mittels Reinigungsmittel auf wenige Nanogramm pro Liter Abwasser geschätzt.

Doch allein der zarte Duft nach Maiglöckchen, Lilial, bzw. für den Chemiker Butylphenylmethylpropional, wandelt sich im Abwasser allmählich zu Lilialsäure um, wie Richard Bolek, Umweltwissenschaftler an der Universität Lüneburg entdeckt hat. Lilialsäure sei unter Toxikologen keine Unbekannte. Vor einigen Jahren habe eine andere Studie bereits Beunruhigendes über sie herausgefunden. So erläuterte Bolek im Deutschlandfunk:

"Diese Substanz wurde an Ratten verfüttert und man hat feststellen können, dass bei den Ratten bei einer Konzentration von 50 mg/kg die Spermienproduktion vollständig gestört worden ist. Ich hab leider noch nicht gefunden, dass weitere Konsequenzen draus gezogen worden sind, vermutlich, weil die Konzentration einfach zu gering war, als dass man sagte, dass der Mensch davon direkt betroffen wird. Was natürlich passiert, wenn es ständig eingeleitet wird und wenn wir eine chronische Exposition haben, das heißt, wenn ständig dieser Schadstoff in die Umwelt entlassen wird, das steht auf einem anderen Blatt und - ja, weiß man nichts dazu."[6]

Vor allem das umfangreiche Thema über die Niedrigdosenwirkung, d.h. Wirkung unterschwelliger Mengen an umwelttoxischen Substanzen, sowie ihren möglichen Wechselwirkungen wurde bislang in der Forschung sehr vernachlässigt. Auch die neue europäische Chemikalienverordnung Reach konnte an der Gesetzeslage nicht viel ändern: Reach schreibt zwar vor, daß Chemikalienhersteller mögliche Folgen ihrer Produkte auf die Umwelt abschätzen müssen - allerdings nur bei Substanzen, von denen erhebliche Mengen hergestellt werden.

Duftstoffe wie ihre Abbauprodukte sind ebenso wie die zuvor erwähnten Arzneimittelrückstände bereits in sehr geringer Konzentration stark wirksam. Die vierte Reinigungsstufe in den Kläranlagen, die die natürlichen Oxidationsprozesse quasi künstlich vorwegnimmt, könnte somit regelrecht weitere, bislang unbeachtete, umweltrelevante Schadstoffe erzeugen, deren quantitative Abtrennung mittels Aktivkohle ebenfalls nicht unbedingt garantiert ist, so daß unterhalb der Erfassungsgrenze liegende, aber möglicherweise doch hochwirksame Dosen an bislang unbekannten Giftstoffen Fließgewässer, Grundwasser und schließlich auch das Trinkwasser belasten können.


Anmerkungen:

[1] Schattenblick → Infopool → Naturwissenschaften → Chemie
UMWELTLABOR/083: Pille und Hustensaft gleich aus der Wasserleitung? (SB)
http://schattenblick.de/infopool/natur/chemie/chula083.html

[2] Schattenblick → Infopool → Naturwissenschaften → Chemie
UMWELTLABOR/138: Neuer Schnelltest - Verhütung aus dem Wasserhahn (SB)
http://schattenblick.de/infopool/natur/chemie/chula138.html

[3] Schattenblick → Infopool → Naturwissenschaften → Chemie
UMWELTLABOR/144: Persönlichkeitsmanipulation aus dem Wasserhahn (SB)
http://schattenblick.de/infopool/natur/chemie/chula144.html

[4] Schattenblick → Infopool → Naturwissenschaften → Chemie
UMWELTLABOR/162: Mutationen aus der Abwasser-Pipeline (SB)
http://schattenblick.de/infopool/natur/chemie/chula162.html

[5] Deutschlandfunk, Sendung Umwelt und Verbraucher vom 23. Januar 2012
siehe URL: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/umwelt/1658881/

[6] Deutschlandfunk, Sendung Forschung aktuell vom 11. Oktober 2011, 16:35 Uhr, Brigitte Osterath, Gefahr aus dem Duschgel - Duftstoffe könnten Umwelt und Gesundheit schädigen.

27. Januar 2012