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BERICHT/003: Kernfusion und Plasmaforschung - Stromschaltungen nachhaltig ... (SB)


Pressereise zur Startvorbereitung für den Wendelstein 7-X & Plasmaphysik im All und auf der Haut

Teil 3: Besuch des Lichtbogenlabors am Leibniz-Institut für Plasmaforschung und Technologie e.V. in Greifswald am 18.8.2015

Daß ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält,
Schau alle Wirkenskraft und Samen,
Und tu nicht mehr in Worten kramen.

(Faust: Der Tragödie Erster Teil, von Johann Wolfgang von Goethe)


Am 4. September hat die Bundesnetzagentur den "Netzentwicklungsplan Strom" vorgelegt, der den Bau von 2.750 Kilometern Stromtrassen und die Modifizierung von mehreren tausend Kilometern bestehender Stromtrassen bis zum Jahr 2024 vorsieht. [1] Zu den in Frage kommenden Maßnahmen, die ergriffen werden sollen, gehört neben dem Ausbau des bestehenden Wechselstromnetzes auch die Verlegung von HGÜ-Leitungen (Hochspannungs-Gleichstromübertragung), in denen der Strom vergleichsweise verlustarm übertragen werden kann. HGÜ-Leitungen sollen auf langen Strecken wie bei der Netzanbindung von Offshore-Windparks oder dem Stromtransport von Nord- nach Süddeutschland eingesetzt werden.


Foto: © 2015 by Schattenblick

Dr. Dirk Uhrlandt im Lichtbogenlabor. In der linken Bildhälfte steht eine Hochgeschwindigkeitskamera auf einem Dreifuß, ausgerichtet auf eine Vakuumkammer, in der Lichtbögen erzeugt werden.
Foto: © 2015 by Schattenblick

Zu den überraschendsten Informationen einer an inhaltlicher Dichte gewiß nicht sparsamen Pressereise, die die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) am 17. und 18. August zu drei Greifswalder Forschungsinstituten organisiert hat [2], gehörte die Aussage des Physikers Dr. Dirk Uhrlandt vom Leibniz-Institut für Plasmaforschung und Technologie e.V. (INP), daß für die Gleichstromleitung noch keine zufriedenstellenden Schalter existieren und auf dem Gebiet "noch erheblicher Forschungsbedarf" besteht.

Diese Aussage aus berufenem Munde ist insofern bedeutsam, als daß der Einsatz von HGÜ eines der zentralen Elemente des Wechsels der energetischen Systeme der Bundesrepublik Deutschland auf sogenannte erneuerbare Energien darstellt. Die öffentliche Wahrnehmung der Energiewende war lange Zeit auf die eigentliche Produktion des Stroms in Windrädern, Photovoltaikanlagen oder Biomassekraftwerken beschränkt, erst mit der Kontroverse über den Verlauf von Stromtrassen rückten auch andere Abschnitte der Energie-Infrastruktur in den Fokus, ohne die der Wind noch so kräftig blasen und die Sonne noch so ungetrübt vom Himmel scheinen könnte, jedoch bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern kein Strom ankommen würde.

Unverzichtbarer Bestandteil der Übertragung von Strom sind Schalter. Im Prinzip haben sie keine andere Funktion als Lichtschalter, wie man sie aus jedem Haushalt kennt. Sie sollen elektrischen Strom unterbrechen oder schließen. Jedoch sind die Schalter, von denen hier die Rede ist, technische Raffinessen. Sie müssen deutlich extremeren Anforderungen standhalten als Lichtschalter im Hausgebrauch, die eine Spannung von rund 230 Volt regeln. Bei Mittel-, Hoch- und Höchstspannung, von denen in der elektrischen Energietechnik die Rede ist, müssen Spannungen von über 300.000 Volt so ausgesteuert werden, daß die Schalter nicht nach dem ersten Stromimpuls in Brand geraten oder verdampfen.

Bei Hochspannungssystemen werden die Schalter mit dem sogenannten Löschgas Schwefelhexafluorid (SF6) umgeben und bei Mittelspannung in Vakuum gehüllt. Nur bei Niedrigspannung findet der Schaltvorgang unter Luft statt. SF6 ist das stärkste bekannte Treibhausgas und mehr als 22.000 mal wirksamer als Kohlenstoffdioxid (CO2). Zwar machen die Emissionen aus defekten Schaltgeräten nur einen kleinen Teil der ohnehin geringen SF6-Emissionen aus, aber Bestandteil der Energiewende ist eben auch, kleinere oder potentielle Treibhausgasquellen abzustellen.

Welch hohen Stellenwert die Forschung der Verbesserung von Schaltern beimißt, läßt sich daran ablesen, daß das INP in diesem Sommer hierfür eigens ein neues Lichtbogenlabor eröffnet hat. Das ist innerhalb der Leibniz-Gemeinschaft Teil des "Forschungsverbunds Energiewende", der sich schwerpunktmäßig mit dem energetischen Umbau der Bundesrepublik Deutschland befaßt.

Es existierten zwar schon "ein paar Lösungen" für Gleichstromschalter, sagte Uhrlandt, der stellvertretender Direktor und Leiter der wissenschaftlichen Abteilung Plasmastrahlungstechnik beim INP ist, aber mit denen sei man technisch "bei weitem nicht zufrieden". Die ganze Technik müsse erst noch richtig entwickelt werden, und die Physiker müßten sich nun wieder in ihre Labore begeben und sich mit Plasmatechnik und Lichtbögen befassen.

Dazu passend wurde den Pressevertreter bei einer Begehung das Lichtbogenlabor vorgestellt. So konnte der Schattenblick einem Hochspannungsexperiment beiwohnen - aus sicherer Entfernung vom Kontrollraum aus. Denn während der Entladung einer Spannung, die mittels leistungsstarker Kondensatoren auf 5000 Volt aufgebaut wurde, darf sich niemand im selben Raum aufhalten, obwohl sich das Ereignis innerhalb der Vakuumkammer abspielt. Bei der Demonstration wurden zwei Kontakte - Anode und Kathode -, über die ein sehr starker Strom floß, auseinandergezogen.

Der Vorgang dauerte nur 20 Millisekunden, also weniger als ein Augenzwinkern. Der Lichtbogen, der in dieser kurzen Zeit entstand, wurde mit einer Hochgeschwindigkeitskamera aufgenommen und anschließend im Kontrollraum auf einem Monitor in extremer Zeitlupe abgespielt. So konnte man beobachten, was bei einem Schaltvorgang passiert, und das war eine ganze Menge. Anscheinend wanderten kleine Lichtpunkte von der Anode zur Kathode, und das nicht immer auf dem optisch kürzesten Weg, sondern manchmal auf einer bogenförmigen Bahn. Teils endeten die Lichtpunkte an der Kontaktoberseite, teils flossen sie seitlich an den Kontakten entlang.

"Es gibt von solchen Spots kein befriedigendes Modell, mit dem wir vorhersagen können, was darin passiert", erläuterte Uhrlandt das Geschehen. Da heutige Schalter aus Gründen der Ersparnis zunächst komplett am Computer simuliert werden, bevor sie gebaut werden, sei es für die Physiker wichtig zu verstehen, was genau beim Schalten passiere.

Bei allen Schaltvorgängen entstehen Lichtbögen. Die bestehen aus Plasma, das heißt, Elektronen und Ionen sind voneinander getrennt. So ein Lichtbogen kann mehrere 10.000 Grad annehmen und tritt immer auf, wenn Kontakte, durch die gerade ein starker Strom fließt, getrennt werden. Dieser Lichtbogen soll bei Schaltern in Bruchteilen von Sekunden "ausgepustet" werden, berichtete Uhrlandt. Je kürzer die Zeit, desto geringer die Erosionskräfte, denn bei einem Lichtbogen wird der elektrische Strom nicht nur über Elektronen, sondern auch Ionen - Atomkerne - übertragen. Wenn sich aber aus der Oberfläche der Kontakte Ionen lösen, also das Kristallgitter des Leiters verlassen, fehlen sie anschließend im Verbund, was bedeutet, daß die Kontakte erodieren.

Was man bei einem Schalter vermeiden möchte, ist beim Elektroschweißen geradezu erwünscht. Da wird mittels des Lichtbogens absichtlich Material von der Elektrode auf das Werkstück aufgetragen. Deshalb werden beim Schweißen und beim Schalten jeweils Leitermaterialien mit höchst unterschiedlichen Eigenschaften verwendet.


Fingerzeige auf Bildschirm, der die Aufnahme der stromdurchflossenen Anode und Kathode beim Schaltvorgang abbildet - Foto: © 2015 by Schattenblick

Fingerzeige auf den Abstand der Kontakte und die "Spots", die beim Schaltvorgang entstehen.
Foto: © 2015 by Schattenblick


Nahaufnahme von Anode und Kathode - Foto: © 2015 by Schattenblick

Foto: © 2015 by Schattenblick

Einen Lichtbogen des Schaltvorgangs kann man sich als Fortsetzung des elektrischen Stroms aus dem Medium des festen Leiters heraus über die Lücke zur Gegenseite verstehen. Was Uhrlandt als noch genauer zu erforschendes Problem beschreibt, hat womöglich damit zu tun, daß die Elektronen höchst unterschiedliche Funktionen erfüllen müssen. Im physikalischen Modell wird ihnen einerseits die Eigenschaft zugesprochen, daß sie den Strom leiten, wozu sie sich aus der Atombindung lösen müssen; andererseits sollen Elektronen auch für die Bindung der Atome im Kristallgitter zuständig sein. Das würde bedeuten, daß sie sich, um den Stromfluß zu erzeugen, lösen, aber nur, um blitzschnell wieder die Bindung der Atome sicherzustellen. Es läßt sich vorstellen, daß dies in einem sehr, sehr kurzen Wechsel geschehen muß, und man kann ahnen, warum in der Physik von Schwingungen gesprochen wird. Dr. Uhrlandt:

"Gleichstrom ist ein konstanter Strom, den können Sie nie ausschalten. Sie müssen irgendwie dafür sorgen, daß der Strom in Schwingungen gerät, bis in dieser Schwingung mal ein sehr hoher Strom und dann ein Strom fast bei Null auftritt. Und erst dann können Sie ihn löschen. Deshalb muß man dort hohe Schwingungen erzeugen und kann damit solche Leistungsschalter machen."

Die Physik wisse nur grob, was in den Spots passiert, aber nicht im Detail. Es bestehe kein richtig gutes Vorhersagemodell, das Fragen beantworte wie: "Was an Erosion habe ich in diesen Spots? Warum laufen die eigentlich? Wie schnell laufen sie?" Um Vakuumschalter simulationsgestützt herstellen zu können, sei es wichtig, mehr darüber zu wissen.

"Daß ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält", läßt Goethe den Doktor Faust deklamieren, der mit seinen magischen Kenntnissen einen Geist beschwört. Wir wissen nicht, wen oder was die Forscher des Lichtbogenlabors im Keller des INP schon alles evoziert haben, aber daß sie von Fragen ähnlich denen des Doktor Faust nach dem innersten Zusammenhalt der Welt umgetrieben werden, daran lassen Vortrag und Beschreibungen Uhrlandts keinen Zweifel aufkommen.

So hat der kurze Einblick in die Physik von Schaltvorgängen gezeigt: Technologisch bedeutet die Energiewende wesentlich mehr, als sich dem Wind in den Weg zu stellen und an seiner Bewegungsenergie zu partizipieren, Maispflanzen gären zu lassen und Ethanol herzustellen oder ein paar Photonen des Sonnenlichts einzufangen, um elektrischen Strom zu produzieren. Zur Energiewende abschließend Uhrlandt: "Wir haben eine radikale Änderung der Anteile der Energieerzeugung. (...) Hinzu kommt: Energie wird an ganz anderen Stellen produziert, dezentral durch Windenergieanlagen, Solaranlagen, und muß entsprechend verteilt werden."


Gemälde mit Faust, in seinem Studierzimmer am Boden liegend, und einem Geist, der aus einem Explosionsblitz aufsteigt - Foto: Royal Opera House Covent Garden, freigegeben als CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/] via flickr

Präwissenschaftliche "Plasmaforschung", von geradezu durchbrechendem Erfolg gekrönt ...
"Scene from Goethe's Faust" von Edward Henry Corbould, 1852
Foto: Royal Opera House Covent Garden, freigegeben als CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/] via flickr


Fußnoten:

[1] http://data.netzausbau.de/Charlie/NEP/NEP2024_Bestaetigung.pdf

[2] Besucht wurden das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik (IPP), das Leibniz-Institut für Plasmaforschung und Technologie e. V. (INP) und das Institut für Physik (IfP) der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald.


Zur Pressereise nach Greifswald sind bisher, mit dem kategorischen Titel "Kernfusion und Plasmaforschung" versehen, im Pool NATURWISSENSCHAFTEN → REPORT erschienen:

BERICHT/001: Kernfusion und Plasmaforschung - Im Spannungsfeld der Vielversprechen ... (SB)
Besuch des Forschungsreaktors Wendelstein 7-X
http://schattenblick.com/infopool/natur/report/nrbe0001.html

BERICHT/002: Kernfusion und Plasmaforschung - Fortschritts- und Entwicklungsfragen ... (SB)
Besuch des Leibniz-Instituts für Plasmaforschung und Technologie (INP)
http://schattenblick.com/infopool/natur/report/nrbe0002.html

INTERVIEW/001: Kernfusion und Plasmaforschung - hoffen, forschen, wünschen ...    Prof. Dr. Thomas Klinger im Gespräch (1) (SB)
http://schattenblick.com/infopool/natur/report/nrin0001.html

INTERVIEW/002: Kernfusion und Plasmaforschung - hoffen, forschen, wünschen ...    Prof. Dr. Thomas Klinger im Gespräch (2) (SB)
http://schattenblick.com/infopool/natur/report/nrin0002.html

INTERVIEW/003: Kernfusion und Plasmaforschung - Heiße Luft und ihre Ströme ...    Prof. Dr. Klaus-Dieter Weltmann im Gespräch (SB)
http://schattenblick.com/infopool/natur/report/nrin0003.html

INTERVIEW/004: Kernfusion und Plasmaforschung - alte Gefahren im neuen Gewand ...    Prof. Dr. Robert Wolf im Gespräch (SB)
http://schattenblick.com/infopool/natur/report/nrin0004.html

INTERVIEW/005: Kernfusion und Plasmaforschung - dem Fortschritt vertrauen ...    Jean Pütz im Gespräch (SB)
http://schattenblick.com/infopool/natur/report/nrin0005.html

INTERVIEW/006: Kernfusion und Plasmaforschung - Plasma fischen, Stäube wischen ...    Prof. Dr. André Melzer im Gespräch (SB)
http://schattenblick.com/infopool/natur/report/nrin0005.html

7. September 2015


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