Schattenblick →INFOPOOL →PANNWITZBLICK → PRESSE

FRAGEN/154: Nachtigäller - "Volle Patientenbeteiligung wird gelingen" (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 4/2008

"Volle Patientenbeteiligung wird gelingen"
Christoph Nachtigäller im Gespräch

Interview Elisabeth Fischer


Am Rande der Präventionstagung wurde der langjährige Bundesgeschäftsführer der BAG SELBSTHILFE, Christoph Nachtigäller, feierlich verabschiedet. Wir nutzten die Gelegenheit zu einem Interview.


FRAGE: 30 Jahre für die Selbsthilfe behinderter und chronisch kranker Menschen, davon 19 Jahre als Bundesgeschäftsführer der BAG SELBSTHILFE - Herr Nachtigäller, gibt es ein Ereignis, auf das Sie besonders gern zurückblicken?

CHRISTOPH NACHTIGÄLLER: Es gibt die ganz unterschiedlichen Ereignisse, die ich als besonders bemerkenswert und erfreulich empfinde: die Ergänzung des Artikel 3 Grundgesetz um das Benachteiligungsverbot für Menschen mit Behinderung, die Gründung des Deutschen Behindertenrates und die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Verwendung der Ausgleichsabgabe vor dem Bundesverfassungsgericht.

FRAGE: Warum gerade das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht?

CHRISTOPH NACHTIGÄLLER: Das Ereignis war persönlich und beruflich bedeutsam: Persönlich, weil es für jeden Juristen eine außergewöhnliche Herausforderung und - ich denke auch - eine Ehre ist, vor dem höchsten deutschen Gericht und Verfassungsorgan aufzutreten. Aber auch beruflich war das ein Erfolg, weil das Bundesverfassungsgericht zugunsten der behinderten Menschen in Deutschland entschieden hat. Damals hatten die Arbeitgeber in Karlsruhe gegen die Verwendung der Ausgleichsabgabe für die an Werkstätten gekoppelten Wohnstätten für behinderte Menschen geklagt. Die Karlsruher Richter sahen aber wie wir den engen Zusammenhang zwischen Wohnen und Arbeiten behinderter Menschen und wiesen die Beschwerde zurück.

FRAGE: In den Jahren Ihrer Arbeit für die Selbsthilfe behinderter und chronisch kranker Menschen hat sich auf politischer Ebene viel bewegt. Können Sie die wichtigsten Errungenschaften für behinderte und chronisch kranke Menschen zusammenfassen?

CHRISTOPH NACHTIGÄLLER: Die Gleichstellungsgesetzgebung ist sicherlich das Bedeutsamste auf der behindertenpolitischen Ebene. Es fing mit dem Initiativkreis Gleichstellung an. Ich erinnere auch an unsere Ethiktagung von 1993, an der Bundespräsident Richard von Weizsäcker teilnahm und mit seiner Feststellung "Es ist normal, verschieden zu sein" den Weg für den Paradigmenwechsel bereitete. Es folgte 1994 die Aufnahme des Benachteiligungsverbotes in das Grundgesetz. Parallel dazu wurde am Sozialgesetzbuch IX gearbeitet, das die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen in unserer Gesellschaft regelt. Wir konnten verhindern, dass ein schlechter Entwurf, Gesetz geworden ist. Am neuen Gesetzentwurf, der seit dem 1. Juli 2001 in Kraft ist, waren wir kontinuierlich beteiligt und haben nun eine gute Grundlage für die Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gesellschaft.

FRAGE: Erfolgreiche Lobbyarbeit auf politischer Ebene ist das eine, aber sehen Sie, dass der vielzitierte Paradigmenwechsel auch bei den Menschen angekommen ist?

CHRISTOPH NACHTIGÄLLER: Ich habe den Eindruck, dass sich das Bewusstsein in der Bevölkerung geändert hat. Die Verfassungsergänzung, die ausführlichen Debatten und schließlich das Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes, der darauf aufsetzenden Landesgleichstellungsgesetze und des zivilrechtlichen Gleichbehandlungsgesetzes sind in ihrer Programmatik, ihrem Geist durch Nichts zu ersetzen. Die öffentliche Hand sorgt in ihren Einrichtungen und Bauten sorgfältig für Barrierefreiheit. Im privatrechtlichen Sektor haben wir Teilerfolge. Wir müssen noch mehr Ressourcen und Kompetenz zur Verfügung stellen, um offensiver, zum Beispiel mit dem Instrument der Zielvereinbarung für Barrierefreiheit, vorgehen zu können.

FRAGE: Zu den großen Erfolgen behinderter und chronisch kranker Menschen im Bereich der Gesundheitspolitik gehört sicherlich die Beteiligung der Patientinnen und Patienten im Gemeinsamen Bundesausschuss, sehen Sie eine Chance, dass sich die Mitwirkung in eine Mitbestimmung wandelt?

CHRISTOPH NACHTIGÄLLER: Die Geschichte der Patientenbeteiligung im Gesundheitswesen zeigt schon jetzt eine rasante Entwicklung. Zwar ist das bestehende Mitberatungsrecht sehr viel bedeutsamer, als es vom Wortlaut her nach außen erscheinen mag, ein volles Mitentscheidungsrecht bleibt das Ziel. Angepasst an die sich schrittweise verbessernden Rahmenbedingungen - auch wenn die Stabsstelle noch ausbaufähig ist -, steht der Ausbau der Beteiligung im Vordergrund: Zunächst Mitentscheidungsrecht in Verfahrensfragen, später auch in Sachfragen. Da die Patientenvertretung wiederholt auch bei Sachentscheidungen Systemverantwortung bewiesen hat, gehe ich davon aus, dass die volle Patientenbeteiligung gelingen wird.

FRAGE: Wechseln wir das Thema und widmen uns der Verbandspolitik. Was würden Sie dort als Meilensteine nennen wollen?

CHRISTOPH NACHTIGÄLLER: Eine der wichtigsten verbandspolitischen Entscheidungen war sicherlich die vertikale Ausdehnung der BAG über die Bundesverbände hinaus. Als ich 1978 begann, gehörte es zu meinen Aufgaben, Landesarbeitsgemeinschaften zu gründen. Damals gab es drei, heute zählt die BAG SELBSTHILFE 14. Wichtige Zuständigkeiten liegen auf der Länderebene, zum Beispiel die Bereiche Bildung, Bauen, die Eingliederungshilfe, die Förderung der beruflichen Teilhabe durch Mittel der Ausgleichsabgabe. Dabei erfahren die LAG'en selbst sehr unterschiedliche Unterstützung ihrer Selbsthilfearbeit durch die Bundesländer und Rehabilitationsträger, insbesondere die Krankenkassen. Während einige Institutionen ihre Finanzverantwortung sehen und erfüllen, gibt es andere, die nicht oder nur zu geringem Maß gewillt sind, bürgerschaftliches Engagement der LAG'en zu zeigen.

FRAGE: Angefangen hat die BAG SELBSTHILFE mit acht Gründerverbänden, inzwischen zählt sie 104 Mitgliedsverbände...

CHRISTOPH NACHTIGÄLLER: Der Erfolg der Selbsthilfe behinderter und chronisch kranker Menschen und ihrer Angehörigen in Deutschland hängt unbestritten damit zusammen, dass wir die große Mehrzahl der relevanten Bundesverbände behinderter und chronisch kranker Menschen in der BAG SELBSTHILFE zusammenführen konnten. Dabei werden unsere Entscheidungen nach wie vor nach dem Prinzip "ein Verband - eine Stimme" getroffen, egal wie viele Mitglieder ein Verband hat. Dass dies funktioniert, hängt mit der Möglichkeit der differenzierten Willensbildung in den Arbeitskreisen zusammen. Und sicherlich auch damit, dass sich die ganz kleinen Verbände der seltenen Erkrankungen in der ACHSE zusammengeschlossen haben. Ich bin sehr froh darüber, dass wir die Menschen mit den seltenen Erkrankungen organisieren und in die BAG holen und dort sie ihren besonderen Standort finden lassen konnten. So konnten wir die Grundidee der BAG SELBSTHILFE verwirklichen: Eine Plattform für die ganz unterschiedlichen Organisationen behinderter und chronisch kranker Menschen zu bilden und daraus einen starken Gesamtverband der Selbsthilfebewegung zu schaffen.


*


Quelle:
Selbsthilfe 4/2008. S. 14-15
Zeitschrift der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung
und ihren Angehörigen e.V.
Herausgeber: BAG Selbsthilfe
Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf
Tel.: 0211/31 00 6-0, Fax: 0211/31 00 6-48
E-Mail: info@bag-selbsthilfe.de
Internet: www.bag-selbsthilfe.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Februar 2009