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SOZIALES/1876: Nächste Bundesregierung muss Gleichberechtigung voranbringen


Pressedienst von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 14. Oktober 2017

Nächste Bundesregierung muss Gleichberechtigung voranbringen


Der Bundesfrauenrat von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN analysierte heute das Ergebnis der Bundestagswahl und diskutierte frauenpolitische Forderungen mit Blick auf die nächste Bundesregierung. Dazu erklärt Gesine Agena, Frauenpolitische Sprecherin und Mitglied des Bundesvorstandes von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:

"Wieder wurden BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei der Bundestagswahl von mehr Frauen als Männern gewählt - und vor allem bei jungen Frauen erhielten wir großen Zuspruch. Das ist unser Alleinstellungsmerkmal.

Dass der Frauenanteil im Bundestag auf 30,7 Prozent gesunken ist, ist ein Rückschritt ins 20. Jahrhundert. Mit der AfD ist außerdem eine zutiefst frauenfeindliche Partei in den Bundestag eingezogen. Es droht ein geschlechterpolitischer Backlash.

Gerade vor diesem Hintergrund muss die nächste Bundesregierung die Gleichberechtigung voranbringen: Wir brauchen ein konsequentes Engagement in Sachen Entgeltgleichheit, bei der Aufwertung von Care-Berufen, bei der Durchsetzung von Geschlechterquoten und bei der Abschaffung des Ehegattensplittings.

So ist zum Beispiel für eine selbstbestimmte und sichere Geburt die Arbeit von Hebammen unerlässlich. Eine wohnortnahe Versorgung mit Hebammenhilfe sowie die freie Wahl des Geburtsortes müssen auch zukünftig sichergestellt sein. Dafür brauchen wir eine Lösung für das Problem der teuren Haftpflichtversicherungen, ein Personalbemessungsinstrument für Kreißsäle, die Angleichung der Vergütung von Kaiserschnitten und natürlichen Entbindungen im Krankenhaus und die Reform der Hebammenvergütung.

Wir brauchen außerdem endlich effektive gesetzliche Maßnahmen, die den Einkommensunterschied von Frauen und Männern abbauen. Dazu gehört vor allem ein Entgeltgleichheitsgesetz mit Verbandsklagerecht. Und wir brauchen eine Aufwertung von sozialen Berufen, in denen hauptsächlich Frauen beschäftigt sind. Auch die Ausbildung in diesen Berufen muss endlich kostenfrei werden.

Schließlich hat das Ehegattensplitting verheerende Auswirkungen auf die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen und birgt erhebliche Armutsrisiken. Aus diesen Gründen wollen wir eine Individualbesteuerung für zukünftige Ehen einführen und das Ehegattensplitting durch eine gezielte Förderung von Familien mit Kindern ersetzen.

Der grüne Bundesfrauenrat fordert, dass in der nächsten Legislaturperiode insbesondere bei diesen Themen sichtbare Schritte nach vorn gegangen werden."

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Beschluss "Selbstbestimmung und Gleichberechtigung - dafür stehen wir ein" des 2. Ordentlichen Bundesfrauenrates

Bei der Bundestagswahl haben BÜNDNIS90/ DIE GRÜNEN mit 8,9 Prozent ein gutes Ergebnis erreicht. Unser Wahlziel, mit einem zweistelligen Ergebnis als drittstärkste Kraft in den Bundestag einzuziehen, haben wir jedoch nicht erreicht. Für uns heißt dieses Ergebnis, dass wir uns weiterhin für Klimaschutz, gelingende Integration, soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung sowie den Zusammenhalt in Europa einsetzen werden. Das ist unser Auftrag - unabhängig davon, ob wir Teil der nächsten Bundesregierung oder in der Opposition sein werden. Wieder wurden wir von mehr Frauen als Männern gewählt - und vor allem bei jungen Frauen erhielten wir großen Zuspruch. Das ist unser Alleinstellungsmerkmal.

Das Wahlergebnis insgesamt erfüllt uns mit großer Sorge. Dass mit der AfD eine reaktionäre und rassistische Partei und mit ihr völkisch gesinnte und zum Teil rechtsextreme Abgeordnete in den Bundestag einziehen, ist bitter. Das deutsche Parlament ist nach rechts gerückt. Erschwerend kommt hinzu, dass der Frauenanteil im Bundestag nur noch beschämende 30,7 % beträgt. Maßgeblich dafür verantwortlich ist der geringe Anteil weiblicher Abgeordneter in den Fraktionen von CDU/CSU, FDP und AfD.

Wir Grünen machen hier den Unterschied. Der Frauenanteil unserer Abgeordneten liegt bei 58% - damit sind wir Spitzenreiter*innen unter den Parteien. Auf diesen hohen Frauenanteil sind wir stolz - er ist das Ergebnis unserer frauenpolitischen Strukturen.

Das Wahlergebnis ist aus frauen- und lesben*politischer Sicht ein klarer Handlungsauftrag: In dieser Situation kommt es besonders darauf an, Frauenrechte, Gleichberechtigung und Geschlechtergerechtigkeit zu verteidigen und für weitere Rechte zu streiten. Diesen Auftrag nehmen wir Grüne an. Wir werden auch weiterhin - im Schulterschluss mit unseren Verbündeten, den Frauenverbänden und vielen Feministinnen - konsequent für eine feministische Gesellschaft kämpfen - egal ob in der Regierung oder in der Opposition. Dem antifeministischen und LSBTIQ* -feindlichen Backlash stellen wir uns entgegen - im Parlament und in der ganzen Gesellschaft.

Die nächste Bundesregierung muss die Gleichberechtigung voranbringen: Wir brauchen ein konsequentes Engagement in Sachen Entgeltgleichheit, bei der Aufwertung von Care-Berufen, bei der Durchsetzung von Geschlechterquoten und bei der Abschaffung des Ehegattensplittings. Bei der Unterstützung partnerschaftlicher Arbeitsteilung in den Familien, beim Gewaltschutz und der Integration gibt es noch viel zu tun. Und wir wenden uns entschieden gegen die schleichenden Einschnitte in die reproduktive Selbstbestimmung von Frauen, sei es durch den Mangel an Hebammen oder dadurch, dass sich in einigen Regionen immer weniger Ärztinnen und Ärzte finden, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen. Der Kampf gegen Diskriminierung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Transgender, Intersexuellen und queeren Menschen (LSBTIQ*) ist mit der "Ehe für Alle" nicht beendet. Er muss gerade jetzt entschieden weitergehen. Insbesondere Fragen des Abstammungsrechts sowie vorgeburtlicher Elternschaftsvereinbarungen sind für Eltern in Regenbogenfamilien weiterhin ungeklärt. Wir wollen nicht bei Erreichtem stehen bleiben, sondern treten offensiv ein für eine wirkliche Gleichstellung aller Menschen.

Der grüne Bundesfrauenrat fordert deshalb von der zukünftigen Bundesregierung, das Engagement für frauen- und gleichstellungspolitische Themen weiter zu intensivieren und auf eine diskriminierungsfreie Gesellschaft hinzuarbeiten. Sollte es zu Koalitionsverhandlungen mit grüner Beteiligung kommen, sehen wir unsere Verhandler*innen in der Verantwortung, feministische grüne Ziele in diesem Bereich engagiert einzubringen und zu verteidigen.

Der grüne Bundesfrauenrat fordert, dass in der nächsten Legislaturperiode insbesondere bei folgenden Themen sichtbare Schritte nach vorn gegangen werden:

- Steuerpolitik: Das Ehegattensplitting hat verheerende Auswirkungen auf die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen und birgt erhebliche Armutsrisiken. Aus diesen Gründen wollen wir eine Individualbesteuerung für zukünftige Ehen einführen und das Ehegattensplitting durch eine gezielte Förderung von Familien mit Kindern ersetzen. Eine Reform hin zur Förderung von Kindern ist überfällig.

- Entgeltgleichheit: Wir brauchen endlich effektive gesetzliche Maßnahmen, die den Einkommensunterschied von Frauen und Männern abbauen. Dazu gehört vor allem ein Entgeltgleichheitsgesetz mit Verbandsklagerecht. Und wir brauchen eine monetäre und gesellschaftliche Aufwertung von sozialen Berufen, in denen hauptsächlich Frauen beschäftigt sind. Auch die Ausbildung in diesen Berufen muss endlich kostenfrei werden.

- Schutz vor Gewalt: Um Frauen und ihren Kindern, die von Gewalt betroffen sind, umfassenden Schutz zu bieten, muss der Bund sich an der verlässlichen und ausreichenden Finanzierung und Ausstattung der Frauenhäuser und der Frauenberatungsstellen beteiligen. Damit diese zugänglich und erreichbar sind für Frauen mit Behinderungen, bei unzureichenden Deutschkenntnissen und unabhängig vom Aufenthaltsstatus, bedarf es deutlich mehr Anstrengungen. Eine Monitoringstelle kann die vielfältige Arbeit gegen Gewalt an Frauen koordinieren und unterstützen - so wie es auch in der Istanbul-Konvention gefordert wird.

- Flucht und Integration: Um geflüchtete Frauen vor Gewalt zu schützen, brauchen wir Schutzkonzepte und deren Umsetzung in allen Unterkünften. Gerade die besonders vulnerablen Gruppen wie Frauen, Lesben* und Trans*-Frauen - erst recht, wenn sie Kinder haben - sind hier weiterhin physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt. Darüber hinaus wird eine wichtige Aufgabe die Integration in den Arbeitsmarkt sein, um sich ein selbstbestimmtes Leben aufbauen zu können.

- Arbeitszeitpolitik: Wir wollen die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Pflege für Männer und Frauen erleichtern. Überfällig ist ein Rückkehrrecht auf die vorherige Stundenzahl, wenn die Arbeitszeit reduziert wurde. Minijobs müssen endlich in Beschäftigungsverhältnisse überführt werden, die eine soziale Absicherung bieten. Auszeiten für Kindererziehung und Pflege müssen finanziert und anschließend der Wiedereinstieg in den Job gefördert werden. Wir wollen auch die Möglichkeiten zur Teilzeitausbildung stärken.

- Frauen in politischen Führungspositionen: Diese Wahl hat überdeutlich gezeigt, dass wir effektive gesetzliche Maßnahmen brauchen, damit mehr Frauen politische Ämter und aussichtsreiche Plätze für Mandate erhalten. Dazu muss geprüft werden, ob beispielsweise ein Paritégesetz helfen kann, den Frauenanteil in den Parlamenten zu erhöhen.

- Frauen in wirtschaftlichen Führungspositionen: Wir wollen die gläserne Decke, an die Frauen in ihren Karrieren zu oft stoßen, durchbrechen. Dazu wollen wir die Frauenquote für Aufsichtsräte erhöhen und auf weitere Unternehmen ausweiten. Vergleichbare Regelungen sollten auch für Vorstände gefunden werden, sofern das rechtlich möglich ist.

- Hebammen: Für eine selbstbestimmte und sichere Geburt ist die Arbeit von Hebammen unerlässlich. Eine wohnortnahe Versorgung mit Hebammenhilfe sowie die freie Wahl des Geburtsortes muss auch zukünftig sichergestellt sein. Dafür brauchen wir u.a. eine Lösung für das Problem der teuren Haftpflichtversicherungen, ein Personalbemessungsinstrument für Kreißsäle, die Angleichung der Vergütung von Kaiserschnitten und Spontangeburten im Krankenhaus und die Reform der Hebammenvergütung.

- Schwangerschaftsabbrüche: Die Kämpfe um die reproduktive Selbstbestimmung von Frauen müssen möglicherweise neu gefochten werden. Bei ungewollter Schwangerschaft brauchen Frauen wohnortnahe Unterstützung und Hilfe, keine Bevormundung und keine Strafe. Erst recht brauchen sie keine Rückschritte bei schon erkämpften Rechten und keine Einschränkung erreichter Freiheiten.

- Alleinerziehende: Alleinerziehende brauchen eine bessere Unterstützung und finanzielle Entlastung. Sie und ihre Kinder brauchen eine an ihren Bedarfen ausgerichtete Familienförderung.

Hier sind Verbesserungen beim steuerrechtlichen Entlastungsbetrag erforderlich und eine Steuergutschrift für diejenigen, die nicht von einem Entlastungsbetrag profitieren. Wir wollen mit dem grünen Familienbudget Alleinerziehende und ihre Kinder stärken, damit sie nicht länger auf Transferleistungen angewiesen sind. Wir sprechen uns entschieden gegen Bestrebungen aus, das Wechselmodell im Sorgerecht zu standardisieren. Grundsätzlich setzen wir uns für Partnerschaftlichkeit ein, aber das Wechselmodell kann nicht gegen den Willen eines Elternteils funktionieren.

- Bundesgesetzliche Lösung für die Kostenübernahme von Verhütungsmitteln: Selbstbestimmte Verhütung und reproduktive Rechte sind ein Menschenrecht. Viele Kommunen - zuletzt Bremen und Hamburg - erstatten Leistungsempfänger*innen bereits die Kosten für Verhütungsmittel. Wir wollen eine einheitliche bundesgesetzliche Lösung und Finanzierung des kostenfreien Zugangs zu Verhütungsmitteln für Menschen mit geringem Einkommen.

- Schutz vor Gewalt gegen Frauen im Netz: Frauen und Mädchen sind in besonderem Maß von nline Gewalt und Cybermobbing betroffen. Wir benötigen daher mehr Anlauf- und Beratungsstellen und vor allem gut geschultes Personal in den Strafverfolgungsbehörden. Wir wollen, dass Präventionskonzepte gegen sexualisierte Gewalt, Cybergewalt und Cybermobbing entwickelt werden und auch Polizei und Staatsanwaltschaften ihre Fähigkeiten erweitern.

Der grüne Bundesfrauenrat fordert, dass das nächste Bundeskabinett mindestens paritätisch mit Frauen und Männern besetzt ist. Gerade angesichts des geringen Frauenanteils im neuen Bundestag sollte die nächste Regierung hier Vorbild sein und dies sowohl bei den Minsiter*innen als auch bei den Staatssekretär*innen. Es ist grünes Selbstverständnis, dass auch die Ämter, die potentiell von Grünen besetzt werden, dem Anspruch unserer Mindestparität entsprechen: Die Hälfte der Macht den Frauen! Geschlechtergerechtigkeit gehört zur grünen DNA. Dieses Kernthema werden wir in allen Verhandlungsrunden, in einem potentiellen Koalitionsvertrag oder eben in der Opposition deutlich machen. Selbstbestimmung und Gleichberechtigung - dafür stehen wir ein.

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Quelle:
Pressedienst vom 14. Oktober 2017
Bündnis 90/Die Grünen Bundesvorstand
Sigrid Wolff, Pressesprecherin
Platz vor dem Neuen Tor 1, 10115 Berlin
E-Mail: presse@gruene.de
Tel: 030/28 442-131, -134, Fax: 030/28 442-234
Internet: www.gruene.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Oktober 2017

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