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BUNDESTAG/3071: Heute im Bundestag Nr. 076 - 08.02.2012


Deutscher Bundestag
hib - heute im bundestag Nr. 076
Neues aus Ausschüssen und aktuelle parlamentarische Initiativen

Mittwoch, 8. Februar 2012 Redaktionsschluss: 18:00 Uhr


1. Experten uneinig über künftiges Verfahren bei der Funkzellenabfrage
2. Experten: Dialog ist wichtig im Kampf gegen Gewalt im Fußball
3. Wachstumspotenziale der Barrierefreiheit im Tourismus noch lange nicht ausgeschöpft
4. SPD-Fraktion setzt sich für industrielle Kernkompetenzen ein


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1. Experten uneinig über künftiges Verfahren bei der Funkzellenabfrage

Rechtsausschuss (Anhörung)

Berlin: (hib/VER) In einer öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses äußerten sich neun geladene Experten zur sogenannten Funkzellenabfrage (FZA), einer Maßnahme zur Aufenthaltsortsermittlung mittels Mobiltelefondaten und zu zwei Gesetzentwürfen aus den Reihen der Oppositionsfraktionen. Denn Anlass der Anhörung war ein Gesetzentwurf zur Änderung der Strafprozessordnung (17/7335) der Fraktion Die Linke. Die Fraktion möchte die Möglichkeit der Funkzellenabfrage durch Ermittlungsbehörden abschaffen. Eine entsprechende Vorschrift aus der Strafprozessordnung sei zu streichen, nach der im Falle einer Straftat von "erheblicher Bedeutung" eine solche Maßnahme zum Einsatz kommen kann. Voraussetzung ist, dass die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Beschuldigten auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre.

Wie die Abgeordneten in dem Entwurf weiter ausführen, hatte die Dresdener Polizei bei einer Demonstration von Rechtsextremen im Februar 2011 eine Funkzellenabfrage damit begründet, es sei nicht auszuschließen, dass mehrere Gegendemonstranten schweren Landfriedensbruch begehen würden. Die fast 139.000 Verkehrsdatensätze enthielten schließlich mehr als 66.000 verschiedene Anschlussnummern, insbesondere von friedlichen Demonstrationsteilnehmern sowie von Anwohnern. Die Linke schlussfolgert: "Dieser massive Eingriff ist in Bezug auf die unberechenbar hohe Vielzahl an von der FZA betroffenen Unbeteiligten nicht verhältnismäßig." Der "Dresdner Datenskandal", so die Fraktion weiter, verdeutlichte, dass es im Hinblick auf die Streubreite und die damit verbundenen schweren Eingriffe in die Grundrechte Unbeteiligter nicht ausreiche, "legislativ Sicherungen" einzubauen, die ihre Benutzung erträglich machen. Erforderlich sei vielmehr die ersatzlose Streichung dieser Maßnahme aus dem Katalog möglicher Verfolgungsinstrumente.

In der Anhörung diskutierten die Sachverständigen zudem den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Nach Meinung dieser Fraktion soll die Funkzellenabfrage als Ermittlungsmaßnahme grundgesetzkonform und rechtstaatlich reguliert werden. Um Daten von unbeteiligten Dritten zu schützen, hat die Fraktion einen Gesetzentwurf (17/7033) vorgelegt. Dieser sieht vor, die richterliche Begründungspflicht auszuweiten, um Eingriffe in das Grundrecht zu begrenzen. Nach Angaben der Fraktion hätten Polizeibeamte am 19. Februar dieses Jahres in Dresden bei einer FZA zum großen Teil Daten von unbeteiligten Personen erhoben. Diese Daten seien in Ermittlungen verwendet worden, für die keine Genehmigung vorgelegen habe. Da sich die FZA nur gegen den Beschuldigten oder dessen Nachrichtenmittler richten dürfe, soll der Entwurf die Funkzellenabfrage erschweren. Die Änderung der Strafprozessordnung diene außerdem einer besseren parlamentarischen Kontrolle.

Experte Wilhelm Achelpöhler, vom Deutschen Anwaltsverein erklärte, dass der "Vorschlag der Grünen in die richtige Richtung" gehe, er sei "aber nicht weit genug." Insofern halte er den Entwurf der Linksfraktion "für die beste Lösung".

Auch Bernhard Bannasch, Referatsleiter Justiz, Sicherheit, Grundsatzfragen beim Sächsischen Datenschutzbeauftragten in Dresden, sah im Entwurf der Grünen-Fraktion "einen Schritt in die richtige Richtung", er sei aber noch zu präzisieren. Im Gegensatz zur Linksfraktion halte er die Funkzellenabfrage an sich für akzeptabel, sagte Bannasch weiter.

Ulf Buermann, Richter am Landgericht Berlin, betonte, dass er sich seinem Vorredner anschließe. Seiner Ansicht nach werde die aktuelle Gesetzgebung den verfassungsrechtlichen Ansprüchen nicht gerecht. Es nehme in Kauf, "dass Richter Fehlentscheidungen treffen."

Der Berliner Rechtsanwalt Johannes Eisenberg merkte an, dass es nicht zulässig sei, potenzielle Zeugen per Funkzellenabfrage zu ermitteln, um an Informationen über mögliche Täter zu kommen. Derartige Vorkommnisse müssten künftig ausgeschlossen werden.

Dr. Thomas Giesen, Rechtsanwalt aus Dresden, steht eigenen Angaben zufolge "beiden Entwürfen kritisch gegenüber". Keiner der beiden sei weiter zu verfolgen, beide seien "schädlich", sagte er.

Sowohl Hans Strobel, Leitender Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Leipzig, als auch Dr. Stefan Studenroth, Oberstaatsanwalt und Leiter Betäubungsmittel/Organisierte Kriminalität der Staatsanwaltschaft Göttingen betonten, dass auch das Ansehen der Justiz in der Öffentlichkeit zu berücksichtigen sei. "Man müsste auch mal Vertrauen in die Justiz haben, denn ich denke, sie hat es verdient", sagte Strobl.

Der Oberstaatsanwalt Dr. Robert Schnabel von der Generalstaatsanwaltschaft München resümierte, dass beide Gesetzentwürfe seiner Meinung nach "erhebliches Misstrauen gegenüber Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten erkennen lassen", welches jedoch keinesfalls gerechtfertigt sei. Die Aufklärung von Straftaten würde so in den Hintergrund gerückt werden.


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2. Experten: Dialog ist wichtig im Kampf gegen Gewalt im Fußball

Sportausschuss (öffentliche Anhörung)

Berlin: (hib/HAU) Der Dialog zwischen Verbänden, Vereinen, Sicherheitskräften und Fans muss intensiviert werden. In dieser Einschätzung waren sich die zu einer öffentlichen Anhörung des Sportausschusses zum Thema "Gewalt in und um Fußballstadien" am Mittwochnachmittag einig. Dieser Dialog müsse miteinander und nicht übereinander geführt werden, sagte Ben Praße vom vereinsübergreifenden Fanzusammenschluss "Unsere Kurve". Auf die Bedeutung von Fanprojekten als "Brückenbauer" verwies Michael Gabriel von der Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS) und forderte zugleich eine besser finanzielle Ausstattung der Projekte. Für einen "Fankodex" plädierte Jürgen Schubert, Inspekteur der Bereitschaftspolizeien der Länder. Fans müssten die Gewalttäter in den eigenen Reihen ausgrenzen, so seine Forderung.

Die Vertreter der Deutschen Fußball Liga (DFL) und des Deutschen Fußball Bundes (DFB) mahnten eine Versachlichung der Diskussion an. Holger Hieronymus, stellvertretender Vorsitzender der DFL sprach sich für eine differenzierte Betrachtung aus. "Die Begriffe Gewalt, Fans und Fußball dürfen nicht in einen Topf geworfen werden", verlangte er. Der DFB-Sicherheitsbeauftragte Hendrik Große Lefert machte deutlich, dass im Bereich der Sicherheit in Deutschland sehr gute Strukturen existierten. KOS-Leiter Michael Gabriel räumte hingegen ein, dass es ein Problem mit Gewalt im Fußball gebe. Eine Antwortsuche sei schwerer als "zu Zeiten der Hooligans". Durch die sogenannten Ultras habe sich die Gewalt in die Fankultur und damit in die Stadien zurückverlagert. Gleichwohl seien die Ultras Bestandteil der Fankultur. Gabriel wandte sich gegen "Law and Order-Maßnahmen", wie etwa den Einsatz von Gesichtsscannern und die Brandmarkung von Rädelsführern. Das könne zu einem Zusammenschluss und einer Radikalisierung der gesamten Fanszene führen.

Einen Einsatz von Gesichtsscannern vor den Stadien sieht DFL-Vertreter Hieronymus skeptisch. "Stand heute glaube ich nicht, dass die Vereine das unterstützen würden", sagte er. Schon aus technischen Gründen sei derzeit ein solcher Einsatz nicht machbar, ergänzte Polizeivertreter Schubert. Bernhard Witthaut, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, sagte, man müsse sich damit auseinandersetzen, "das es Menschen mit Freude an der Gewalt gibt". Seiner Ansicht nach hat sich das Mittel der Stadionverbote bewährt, wenngleich diese konsequenter durchgesetzt werden müssten. Deutlich wandte er sich gegen den Einsatz von Pyrotechnik in Stadien. Dieser berge zu viele Gefahren in sich. Der Verzicht darauf müsse der Beitrag der Ultras im Kampf gegen die Gewalt sein, forderte er.

Stadionverbote seien sehr kritisch zu bewerten, sagte hingegen Fanvertreter Praße. Sie würden noch immer ohne eine Anhörung der Betroffenen verhängt und verlagerten die Gewalt lediglich aus den Stadien in den öffentlichen Raum. Beim Thema Pyrotechnik wandte er sich gegen die Vermischung mit Gewalt. Schließlich könne Pyrotechnik auch gewaltfrei abgebrannt werden.

Die Fangruppen müssten sich "aus sich selbst bereinigen", forderte Heribert Bruchhagen, Vorstandvorsitzender von Eintracht Frankfurt. Drakonische Strafen, so Bruchhagen, imponierten nicht. Ein Stadionverbot sei kein Makel, sondern eine Auszeichnung unter Jugendlichen, sagte er. Die einzige Chance sei die permanente Kommunikation und die Stärkung der gewaltlosen Fans. Gegen eine "Exempelstatuierung" sprach sich der Präsident von Dynamo Dresden, Andreas Ritter, aus. Mit der gegen seinem Verein nach wiederholten Fanausschreitungen ausgesprochenen DFB-Pokal-Sperre würden auch normale Fans getroffen, was zu einer Verbindung mit den Gewaltanwendern führen könne.


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3. Wachstumspotenziale der Barrierefreiheit im Tourismus noch lange nicht ausgeschöpft

Ausschuss für Tourismus (Anhörung)

Berlin: (hib/MPI) In barrierefreien Reiseangeboten steckt für die Tourismusbranche viel unerschlossenes Wachstumspotenzial. Davon zeigten sich bei einer öffentlichen Anhörung des Tourismusausschusses am Mittwoch etliche Experten überzeugt. Der Geschäftsführer des Deutschen Seminars für Tourismus (DSFT), Rolf Schrader, sagte, die ökonomische Bedeutung barrierefreien Reisens sei insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen Wandels in der Tourismusbranche "noch nicht ausreichend zur Kenntnis genommen und in entsprechende Produkte und Dienstleistungen umgesetzt worden". Von den rund fünf Millionen mobilitäts- oder aktivitätseingeschränkten Menschen der Generation 65 plus unternehme nur die Hälfte eine Urlaubsreise pro Jahr, während die Reiseintensität im Bundesdurchschnitt bei rund 75 Prozent liege, erläuterte Schrader.

Die Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft "Barrierefreie Reiseziele in Deutschland", Carmen Hildebrandt, erläuterte, der Reisebranche entgehe jedes Jahr deutlich mehr als zwei Milliarden Euro Umsatz, da etwa Menschen mit Behinderungen auf eine Reise verzichteten. Sie fügte hinzu, Barrierefreiheit sei für rund zehn Prozent der Menschen zwingend erforderlich, aber für hundert Prozent aller Reisenden komfortabel. Bislang gehörten der Arbeitsgemeinschaft acht Regionen an: Eifel, Erfurt, Fränkisches Seenland, Langeoog, Magdeburg, Niederlausitz, Ruppiner Land und Sächsische Schweiz. Auf die Frage der Abgeordneten, weshalb seit der Gründung 2008 nicht mehr Regionen hinzugekommen seien, sagte Hildebrandt: "Wir tragen niemanden zum Jagen." Die Mitgliedsregionen hätten den Wettbewerbsvorteil Barrierefreiheit erkannt. Möglicherweise seien die Qualitätsanforderungen sehr hoch. Es gehe um den Praxisnachweis barrierefreier Angebote wie entsprechende Stadtführungen oder Gaststätten mit Blindenleitsysteme, und nicht nur darum, über entsprechende Angebote zu reden.

Auf die Anregung, die Lutherdekade bis zum Jahr 2017 für Investitionen in barrierefreie Angebote wie Informationen für Menschen mit Höreinschränkungen zu nutzen, reagierten die Sachverständigen zustimmend. Er würde sich freuen, wenn daraus ein fünfjähriges Projekt würde, sagte der Vorstandsvorsitzende der Nationalen Koordinationsstelle Tourismus für Alle (NatKo), Rüdiger Leidner. Er wies zugleich darauf hin, dass viele Hoteliers und Reiseanbieter oftmals falsche Vorstellungen von den Kosten der Barrierefreiheit hätten. Hier sei noch viel Aufklärungs- und Beratungsarbeit notwendig.


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4. SPD-Fraktion setzt sich für industrielle Kernkompetenzen ein

Wirtschaft und Technologie/Antrag

Berlin: (hib/HLE) Die Bundesregierung soll eine aktive Industriepolitik für Vollbeschäftigung betreiben. Die SPD-Fraktion fordert in einem Antrag (17/8572), der am Donnerstag auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages steht, einen "neuen gesellschaftlichen Konsens für die dringend benötigte Modernisierung und den Ausbau der Infrastruktur in Deutschland, der die Bedeutung der Industrie berücksichtigt und eine neue Akzeptanz schafft". Außerdem müsse es eine Allianz gegen Fachkräftemangel als gemeinsame Aktion von Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik geben.

Zu der von der SPD-Fraktion geforderten "modernen Industriepolitik gehört die Schaffung von Rahmenbedingungen für eine "sichere, bezahlbare und nachhaltige Energie- und Rohstoffversorgung der Industrie". Dafür müsse umgehend ein Masterplan für die einzelnen Schritte der Energiewende vorgelegt werden. Durch eine zielgerichtete Innovationspolitik müsse die technologische Leistungsfähigkeit von Industrie und Mittelstand gestärkt werden.

Deutschland sei aufgrund seines industriellen Kerns verhältnismäßig gut durch die Finanz- und Wirtschaftskrise gekommen, stellt die SPD-Fraktion in ihrem Antrag fest. Kein anderes Land in Europa verfüge über eine so breite industrielle Wertschöpfungskette. Auch in Zukunft brauche Deutschland eine starke Industrie. Schließlich hänge jeder dritte Arbeitsplatz an der Entwicklung industrieller Wertschöpfung. "Mit der industriepolitischen Tatenlosigkeit der Bundesregierung können die veränderten Rahmenbedingungen der globalisierten Märkte allerdings nicht gemeistert werden. Deutschland muss durch eine aktive, zukunftsorientierte Industriepolitik wieder besser regiert werden", fordert die Fraktion.

Traditionelle und neue Industrien dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden, heißt es in dem Antrag weiter. "Die klassischen industriellen Kernkompetenzen Deutschlands liegen bisher im Maschinen- und Anlagenbau, in der Chemie, der Elektrotechnik, dem Schiffbau, dem Stahl oder dem Automobilbau. Sie bilden das Rückgrat der Wirtschaft und haben grüne Technologien erst möglich gemacht." Daher müsse es auch für die klassische Industrie verlässliche Rahmenbedingungen und vor allem eine nachhaltige und bezahlbare Energieversorgung geben. Als Grundlage für das Wachstum von morgen brauche Deutschland eine Modernisierung seiner Energie-, Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur sowie eine Sicherung des Fachkräftebedarfs, schreibt die SPD-Fraktion.


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Quelle:
Heute im Bundestag Nr. 076 - 8. Februar 2012 - 18:00 Uhr
Herausgeber: Deutscher Bundestag
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Februar 2012