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EUROPA/1228: Für eine wachstumsfördernde europäische Fiskalpolitik - Dieser Fiskalpakt greift zu kurz


SPD-Pressemitteilung 197/12 vom 11. Juni 2012

Antrag des SPD-Parteivorstands: Für eine wachstumsfördernde europäische Wirtschafts- und Fiskalpolitik: Dieser Fiskalpakt greift zu kurz!



In seiner Sitzung am heutigen 11. Juni 2012 hat der SPD-Parteivorstand den folgenden Initiativantrag zur Einbringung auf dem Parteikonvent am 16. Juni 2012 beschlossen:

Für eine wachstumsfördernde europäische Wirtschafts- und Fiskalpolitik: Dieser Fiskalpakt greift zu kurz!


I. Unser Europa - mehr als ein Binnenmarkt

Die Europäische Integration ist eine Erfolgsgeschichte des Friedens, des Wohlstands und der gemeinschaftlichen Verantwortung. Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion ist ein unerlässlicher und in großen Teilen erfolgreicher Bestandteil des europäischen Projekts.

Die Schaffung einer einheitlichen Währung - des Euro - hatte und hat das Ziel, diese europäische Integration und Zusammenarbeit weiter zu entwickeln. Mit der Schaffung dieses einheitlichen Währungsraums verbunden war dabei immer auch das Ziel, die politische Zusammenarbeit zu vertiefen und einen gemeinsamen Wohlstandsraum zu schaffen. Die bereits bei Beginn der Währungsunion existierenden Unterschiede zwischen wirtschaftlich starken und weniger starken Regionen Europas sollten durch gemeinsames Handeln verringert werden. Gemeinsame Strukturfonds zum Aufbau leistungsfähiger Infrastruktur in den schwächeren Regionen der EU und der Währungsunion, die Öffnung der Arbeitsmärkte und die Arbeit weiterer Institutionen wie der Europäischen Investitionsbank dienten diesem Ziel.

Die Bundesrepublik Deutschland war und ist einer der großen politischen wie wirtschaftlichen Gewinner dieser europäischen Entwicklung und der Einführung des Euro. Nicht zuletzt die deutsche Einheit und die Wiedererlangung der vollen Souveränität Deutschlands wären ohne die vorangegangene europäische Einigung nicht möglich geworden. Zudem profitiert Deutschland als Exportnation von einer gemeinsamen stabilen Währung in Europa. Schnelle Abwertung benachbarter Währungen in Europa und die damit einhergehende Verteuerung deutscher Waren und Dienstleistungen gehören der Vergangenheit an. Rund 60 Prozent der deutschen Exporte entfallen auf Europa, mehr als 40 Prozent auf den Euro-Raum. Der politische Kampfbegriff der Konservativen und Liberalen in Deutschland gegen die sogenannte "Transferunion" in Europa verschleiert also nur, dass diese Transferunion bereits in zwei Richtungen existiert: Staatlichen "Nettozahlungen" Deutschlands stehen private "Nettogewinne" unseres Landes durch den Verkauf von Waren und Dienstleistungen ins europäische Ausland entgegen.

Millionen deutscher Arbeitsplätze hängen an der sozialen und wirtschaftlichen Lage unserer Nachbarländer. Deutschlands Beteiligung an staatlichen Hilfs-, Förder- und Investitionsprogrammen für andere Mitgliedsstaaten der EU liegen also im nationalen Eigeninteresse unseres Landes!

Allerdings existierte von Anfang ein "Geburtsfehler" dieser Währungsunion: der gemeinsame Währungsraum wurde ohne eine gemeinsame Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik aufgebaut. Lediglich die Europäische Zentralbank als Hüterin der Geldwertstabilität wurde als neue Institution für die Zusammenarbeit innerhalb der Euro-Zone nach dem Vorbild der Bundesbank aufgebaut. Für alle anderen wirtschaftspolitischen Ziele eines gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraums - hohes Beschäftigungsniveau, stetiges Wirtschaftswachstum und ausgeglichener Außenhandel - wurden weder gemeinsame Ziele, Maßnahmen oder Instrumente geschaffen.

Im Gegenteil: seit Ende der 80er Jahre setzte sich mehr und mehr die reine (Binnen-) Markt Ideologie neoliberaler Ökonomen durch. Allein die Freiheit im Waren-, Arbeitskräfte-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr sollte über gemeinsame Wettbewerbsbedingungen innerhalb des Binnenmarktes für Effizienz, Innovation und Wachstum sorgen. Der Wettbewerb der Standorte, Unternehmen und Arbeitnehmer wurde zum zentralen Maßstab für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Europas. Nicht mehr politisches Handeln - wie bisher im Aufbau eines gemeinsamen Europas - sollte Wettbewerbsfähigkeit, wirtschaftlichen Wohlstand und soziale Sicherheit ermöglichen, sondern dies war nun Aufgabe "des Marktes".

Das Ergebnis ist bekannt: trotz aller Strukturfonds und europäischer Programme wuchsen die wirtschaftlichen Unterschiede in der EU. Nationalen Regierungen fehlte in der Währungsunion das Instrument der Abwertung ihrer Währung zur Verbesserung ihrer Wettbewerbssituation. Was übrig blieb, war vor allem die Reduzierung von Arbeits- und Sozialkosten - und/oder die wachsende Verschuldung privater und/oder staatlicher Haushalte.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/2009 trug in Europa zu einer massiven Erhöhung der Verschuldung bei. Das Fehlen jeder gemeinsamen und abgestimmten Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik, als Geburtsfehler der gemeinsamen Währung, erschwert das Beherrschen der Krise.

Alle Instrumente, die derzeit zur Behebung der europäischen Finanz- und Wirtschaftskrise beraten und ggf. eingesetzt werden, müssen deshalb nachhaltig darauf ausgerichtet sein, diese seit den 80er Jahren einseitige und falsche Ausrichtung der Europäischen Union auf einen reinen Binnenmarkt zu beseitigen - zugunsten einer abgestimmten Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik mit dem Ziel schrittweise die wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede in Europa in den kommenden Jahrzehnten zu verringern und dabei das Leben aller Menschen auf unserem Kontinent zu verbessern.

Wenn wir also die politischen und die wirtschaftlichen Erfolge des europäischen Projekts und auch der gemeinsamen Währung erhalten und fortschreiben wollen, bedarf es einer grundlegend anderen Politik, die den Geburtsfehler der Währungsunion ebenso beseitigt wie die Reduktion Europas auf einen reinen Binnenmarkt. Deutschlands Bereitschaft, dabei mit öffentlichen Mitteln in den Aufbau unserer Nachbarländer zu investieren, steht der wirtschaftliche Erfolg als europäische Exportnation und Millionen von Arbeitsplätzen gegenüber. Mehr noch: wenn Deutschland seinen Export und die damit verbundenen Arbeitsplätze nachhaltig sichern will, muss es im Gegenzug in den Wirtschaftsaufbau seiner europäischen Nachbarn investieren und zu den damit verbundenen Transferleistungen bereit sein.

Deutschland kann selbstbewusst und optimistisch an diese Veränderung der europäischen Politik herangehen. Es besitzt eine starke Basis im industriellen Sektor und im verarbeitenden Gewerbe ebenso wie bei Dienstleistungen, eine erfolgreiche Mischung aus hochinnovativem, flexiblem und produktivem Mittelstand und großen Unternehmen, exzellent ausgebildete und engagierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und eine gute und ausbaufähige Infrastruktur.

Sozialdemokratische Politik in Deutschland will diese Erfolgsbedingungen für unser Land erhalten und weiterentwickeln. Das erfordert andere politische Schwerpunkte als heute. Um erfolgreich bleiben zu können sind vor allem steigende Bildungsinvestitionen, Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit in der Energieversorgung und auch eine angemessene Beteiligung der Arbeitnehmer am wirtschaftlichen Erfolg durch faire Tariflöhne und ein leistungsfähiges soziales Sicherungssystem dringend nötig.


II. Die Verursacher der Krise klar benennen - gegen eine verkürzte Krisenanalyse!

Die momentane, von Kanzlerin Merkel und den mehrheitlich konservativen Regierungen geprägte Europapolitik weist in die gegenteilige Richtung. Die allein auf Austerität gegründete fiskalische Koordinierung ist der falsche Weg. Es fehlen Mechanismen für eine verbesserte gemeinsame Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik in Europa. Die ökonomische Analyse, auf welcher der Europäische Fiskalpakt beruht, verkennt viele der Krisenursachen und wird ohne ergänzende Investitionsimpulse die Krisensymptome verschärfen. Denn die ökonomischen und sozialen Folgen einer einseitig auf Ausgabenkürzungen abzielenden Politik sind fatal. Für viele Länder in Europa bedeuten sie Rezession, Massenarbeitslosigkeit und Erosion der Demokratie. Europa droht daran zu zerbrechen. So hat sich in den vergangenen zwei Jahren die europäische Krise nicht entspannt, sondern verschärft, und die Kreditrisiken, für die Deutschland haften muss, sind nicht gesunken, sondern massiv gestiegen.

Nicht nur in den von der Krise besonders betroffenen Staaten, sondern in Europa insgesamt droht das Vertrauen der Menschen in die Europäische Union und die Problemlösungsfähigkeit demokratischer Politik überhaupt zu schwinden. Rechte Parteien, die gegen die Idee der europäischen Einheit Stimmung machen und alte Gräben neu aufreißen wollen, gewinnen vielerorts an Zulauf.

Die gegenwärtige Krise Europas ist ganz wesentlich die Folge der Finanzmarktkrise. Seit 2008 ist die Arbeitslosigkeit in Spanien von 11,3 % auf heute 24,3 %, in Griechenland von 7,7 % auf 21,5 %, in Portugal von 8,5 % auf 15,4 % und in Irland von 6,3 % auf 15 % gestiegen. 17,4 Millionen Menschen sind heute in den Ländern des Euroraums arbeitslos. Die Jugendarbeitslosigkeit ist in einigen Staaten auf bis zu 50 % angestiegen. Zugleich rutscht die Eurozone weiter in die Rezession. Die öffentliche Verschuldung in Europa ist nach 2008 vor allem auch deshalb gestiegen, weil Staaten gezwungen waren, Banken zu retten und für faule Kredite im Privatsektor zu haften. Deutschland hatte 2008 gesamtstaatlich noch einen ausgeglichenen Haus-halt. Dann stieg der deutsche Schuldenstand rapide, insbesondere durch die Übernahme der neu errichteten Abwicklungsanstalten für Banken durch den Staat, von 73,5 % auf 83,2 % des BIP. Im Falle Irlands etwa noch weitaus dramatischer von unter 50 % auf mehr als 100 % des BIP. Nun gilt es, diese Verschuldung zurückzuführen. Daneben müssen wir die Verursacher und Nutznießer der Krise an den Krisenkosten beteiligen. Denn insbesondere im Fall von Irland und Spanien war und bleibt der Bankensektor der zentrale Krisenherd. Wir müssen die Lehren aus der Finanzmarktkrise ziehen, um zu Stabilität in Europa zurückzukehren.

Durch die Fehler der konservativen Politik in Europa werden die Banken und nicht die Menschen in den von der Krise betroffenen Staaten wie Griechenland, Irland, Portugal und Spanien unterstützt. Durch Entscheidungsunfähigkeit hat die schwarz-gelbe Koalition in Berlin die EZB gezwungen, Staatsanleihen im Wert von über 220 Mrd. Euro zu kaufen und den Banken über eine Billion Euro zu 1 Prozent zu schenken, womit sie Staatsanleihen zu einer weit höheren Verzinsung kaufen. Banken werden zu Lasten von Staaten und Steuerzahlern saniert, ohne dass es zur durchgreifenden Regulierung und zur Vorsorge für künftige Krisen kommt. Damit muss Schluss sein. Wir brauchen endlich eine konsequente Finanzmarktregulierung, und eine Durchsetzung des Haftungsprinzips.

Zu hohe Schulden bringen die Staaten in eine gefährliche Abhängigkeit von den Finanzmärkten und sind auf Dauer unsozial, weil immer mehr hart erarbeitete Steuermittel in Form wachsender Zinsbelastung an die Kapitalgeber fließen. Auf tragfähige Haushalte ausgerichtete konjunkturgerechte Schuldenregeln in ganz Europa sind daher sinnvoll. Dauerhafter Schuldenabbau aber wird nur mit wirtschaftlicher Dynamik und mit Wachstum in neuen innovativen und zukunftsfähigen Branchen gelingen.

Wir brauchen eine Weichenstellung in Richtung Realwirtschaft: Weniger spekulative und kurzfristig angelegte Wertabschöpfung, mehr innovative Wertschöpfung in Produktion und produktionsnahen Dienstleistungen, mit mehr Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung sowie in Infrastrukturen, die den Strukturwandel befördern, etwa die dringend erforderlichen Stromnetze. Zu diesem Richtungswechsel gehört eine entschlossene Regulierung und eine gerechte Besteuerung der Finanzmärkte. Investitionen in neues Wachstum dürfen nicht zu neuen Staatsschulden führen. Ihre Finanzierung kann vielmehr durch die Einnahmen aus einer Finanztransaktionssteuer sowie einer besseren Ausschöpfung der vorhandenen Mittel abgesichert werden.


III. Der Fiskalpakt greift zu kurz - unsere Forderungen für
mehr Wachstum und Beschäftigung in Europa

Zahlreiche Fragen in Zusammenhang mit dem Fiskalpakt sind noch völlig ungeklärt, da die Bundesregierung es unterlassen hat, die Öffentlichkeit umfassend zu informieren. Insbesondere ist unklar, wie sich sein Regelungsinhalt innerstaatlich auswirkt und wie er umzusetzen ist. Deswegen ist der von der Bundesregierung vorgesehene Umsetzungszeitplan so zu gestalten, dass eine angemessene Beratung und Klärung der offenen Fragen - insbesondere der verfassungsrechtlichen Probleme - möglich ist. Ggf. muss die Bundesregierung auch bereit sein, die Ratifizierung des Fiskalpakts von der Ratifizierung des Europäischen Stabilitätsmechanismus zu trennen.

Die SPD fordert die Bundesregierung auf, sich durch Beschluss des Bundeskabinetts verbindlich zu verpflichten, den Fiskalpakt durch eine europäische Initiative zur Einführung der Finanztransaktionssteuer ebenso wie durch, nachhaltige Investitionen zur Beschäftigungssicherung und ein Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit zu ergänzen:

1. Wir fordern eine verbindliche Stärkung der Einnahmen der öffentlichen Haushalte durch die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, notfalls auch im Wege der verstärkten Zusammenarbeit, deren Aufkommen für wirtschaftlich nachhaltige Investitionsprogramme eingesetzt werden kann.

2. Wir fordern ein Europäisches Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit und für Chancen und Perspektiven der jungen Generation. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit ist rasch und entschieden zu bekämpfen. Dazu gehören die Erleichterung der europaweiten Mobilität, eine "Jugendgarantie" mit dem Recht auf Aus- und Weiterbildung sowie ein europäisches Bündnis für Ausbildung und Arbeitsplätze. Ziele und Maßnahmen gegen Jugendarbeitslosigkeit müssen europaweit vereinbart und finanziell abgesichert werden.

3. Wir fordern einen Europäischen Investitions- und Aufbaufonds mit einer Übereinkunft zur verbindlichen Finanzierung und Durchführung von europaweiten Programmen zur Förderung eines nachhaltigen und tragfähigen Wachstums, zur Stärkung der Binnennachfrage sowie zur Förderung von gerecht entlohnter Beschäftigung:

- Eine wirksame Nutzung der EU-Strukturfonds und einen Beschluss, die EIB zu stärken. Zur Finanzierung eines schnell wirkenden Wachstums- und Beschäftigungsprogramms müssen kurzfristig die bisher ungenutzten Strukturfondsmittel der EU verwendet werden, wobei die Kofinanzierungsregeln flexibler gestaltet werden müssen. Die EIB muss unter anderem durch Stärkung ihres Stammkapitals im europäischen Institutionengefüge aufgewertet werden und neben dem Rettungsschirm ESM, der Kredithilfen für Staaten bereitstellt, mehr Investitionen in die Wirtschaft mobilisieren.

- Einführung Europäischer Projektanleihen. Um weitere finanzielle Ressourcen für eine solche zielgerichtete europäische Wachstums- und Innovationspolitik zu erschließen und den Rückfluss von privatem Kapital in investive Verwendungen in Gang zu setzen, sind europäische "Projektanleihen" ein geeignetes Instrument, zu deren Umsetzung sich die Bundesregierung bekennen muss.

- Verwendung der Mittel aus einer Finanztransaktionssteuer.

4. Wir fordern die Einsetzung einer hochrangigen Kommission, welche Vorschläge zur stärkeren Trennung von Geschäfts- und Investmentbanking sowie zur Regulierung der Schattenbanken und Eindämmung der Rohstoffspekulation macht. Die SPD fordert die Bundesregierung weiter auf, endlich ein europaweit einheitliches Restrukturierungs- und Abwicklungsregime für in Schieflage geratene Kreditinstitute zu vereinbaren.

5. Die Länder haben zur Erreichung der grundgesetzlich verankerten Schuldenbremse bis 2020 jeweils eigene ambitionierte Konsolidierungspfade beschritten. Wir fordern die Zusicherung, dass die Regelungen des Fiskalpaktes mit einer für alle staatlichen Ebenen gemeinsam geltenden Neuverschuldungsgrenze den Ländern keine weitere Verschärfung ihrer Pfade auferlegen. Die Schuldenregel des Grundgesetzes hat die kommunalen Haushalte vom Neuverschuldungsverbot für die Länder ausgenommen. Es muss sichergestellt werden, dass aus den Kommunalhaushalten keine neuen Konsolidierungsrisiken für die Länder erwachsen. Das Budgetrecht der Landtage darf über die geltenden Regelungen des Grundgesetzes hinaus nicht eingeschränkt werden.

6. Wir fordern, dass das Europäische Parlament an den Europäischen Räten, den Euro-Gipfeln und Tagungen zum Fiskalpakt beteiligt und seine Stimme bei den Entscheidungen angehört wird. Zugleich fordern wir, dass dem Bundestag und dem Bundesrat in Deutschland beim Fiskalpakt die gleichen Rechte wie bei Änderung und Umsetzung der Verträge der Europäischen Union eingeräumt werden. Nur ein starkes Europäisches Parlament und eine umfassende Beteiligung der nationalen Parlamente können sicherstellen, dass es nicht zu einem Rückbau der europäischen Demokratie kommt, indem immer mehr Entscheidungen allein von den europäischen Regierungen getroffen werden.

Die SPD koordiniert bereits jetzt ihre diesbezüglichen Aktivitäten und politischen Positionierungen auf das Engste mit den europäischen Schwesterparteien und im Rahmen der Sozialdemokratischen Partei Europas. Diese europaweite Koordinierung der sozialdemokratischen und progressiven Kräfte werden wir unter Einbeziehung der Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft weiter aktiv vorantreiben.

IV. Europa neu ausrichten - durch eine Wirtschaft-, Finanz- und Sozialunion

Darüber hinaus treten wir dafür ein, dass die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Europäischen Union umfassend neu ausgerichtet wird. Die Antwort auf die Krise darf nicht weniger Europa sein. Stattdessen müssen wir jetzt mehr Europa wagen, um ein anderes, wirtschaftlich stärkeres und sozial gerechteres Europa aufzubauen. Nur wenn es uns gelingt, auf diese Weise auch die Menschen wieder neu für Europa zu gewinnen, hat das europäische Einigungsprojekt eine Zukunft.

Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der EU muss enger koordiniert und ihre Beschlüsse müssen verbindlicher werden. Dazu gehört insbesondere, einen Steuersenkungswettlauf zu verhindern, der unsolidarisch ist und am Ende allen schadet. Es gilt, den Einstieg in gemeinsame Bemessungsgrundlagen und Mindeststeuersätze zu finden. Steuerflucht und Steuerhinterziehung sind europaweit zu bekämpfen. Die bisher gemeinschaftsrechtlich getroffenen Entscheidungen zur Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und der Überwachung wirtschaftlicher Ungleichgewichte sind umzusetzen und einzuhalten. Alle EU-Mitgliedstaaten müssen ihren Beitrag leisten, damit die wirtschaftlichen Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone abgebaut werden können. Eine verbindliche gemeinsame, demokratisch abgestimmte Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik muss Europa auf einen innovationsgetragenen, nachhaltigen Wachstumskurs bringen und die Verschärfung der fiskalpolitischen Kontrolle ergänzen. Erst wenn dies gelingt, ist der Geburtsfehler der Währungsunion behoben, die gemeinsame Währung ohne eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik aufzubauen.

Eine gemeinsame europäische Haftung für einen Teil der Staatsschulden darf nicht länger ausgeschlossen werden. Wir benötigen einen europäischen Schuldentilgungsfonds mit gemeinsamer Haftung für den Teil der nationalen Altschulden, der 60% des BIP überschreitet, gekoppelt an einen verbindlichen Schuldenabbauplan, der die einzelnen Länder in die Pflicht nimmt. Solidarität ist wichtig, um die Stabilität unserer Währung zu sichern. Sie darf aber keine Einbahnstraße sein, sondern muss an Anstrengungen der Krisenstaaten für tragfähige Haushalte geknüpft sein.

Bei den EU-Haushaltsverhandlungen über den neuen Finanzrahmen muss ein grundlegender Strukturwandel erreicht werden - zugunsten von Beschäftigung, Wachstum, Innovation, Technologie, Ausbildung und Forschung. Im Gegenzug müssen die Mittel für die Landwirtschaft, die immer noch über 40% des EU-Haushalts ausmachen, reduziert werden. Die EU-Ziele für FuE-Investitionen müssen europaweit umgesetzt werden. Außerdem soll das EU-Budget für Forschung und Innovation auf 10 Prozent des EU-Haushaltes aufgestockt werden. Diese Ziele müssen durch gemeinsame europäische Ziele für die Steigerung der nationalen und europäischen Bildungsausgaben ergänzt werden (mindestens 6% des nationalen BIP und 6% des EU-Haushaltes für Bildung). Der EU-Haushalt soll die europäische Wachstumsstrategie mit konkreten Zahlen abbilden und damit zu einem wichtigen Planungsinstrument wachstumsorientierter Politik werden.

Die europäische Wirtschafts- und Finanzunion muss durch eine Sozialunion flankiert werden. Die Sozialunion muss ihr Fundament in einer sozialen Werteordnung mit starken sozialen Grundrechten haben, wie sie bereits in der EU-Grundrechtscharta angelegt sind. Diese dürfen nicht den Marktfreiheiten im europäischen Binnenmarkt untergeordnet werden, sondern müssen ihnen vorgehen. Mit einer sozialen Fortschrittsklausel muss dieses Prinzip vertraglich im europäischen Primärrecht festgeschrieben werden. In Europa muss gelten: gleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Lohn- und Sozialdumping darf kein Raum gegeben werden. Dazu müssen auch die Spielräume für Mitbestimmung in den europäischen Unternehmen erweitert, die Rechte der europäischen Betriebsräte gestärkt und der soziale Dialog zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern auf europäischer Ebene ausgebaut werden. Arbeitnehmer aus unterschiedlichen EU-Staaten dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern müssen die Chance haben, ihre Interessen gemeinsam zu vertreten.

Politisch ausgestaltet werden muss die europäische Sozialunion vor allem dadurch, dass soziale Ziele und Mindeststandards europäisch verbindlich vereinbart werden. In einem sozialen Stabilitätspakt müssen Ziele und Vorgaben für Sozial- und Bildungsausgaben gemessen am BIP der jeweiligen Staaten ebenso wie existenzsichernde Mindestlöhne in allen EU-Mitgliedstaaten gemessen am jeweiligen nationalen Durchschnittseinkommen festgeschrieben werden.

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Quelle:
SPD-Pressemitteilung 197/12 vom 11. Juni 2012
Herausgeber: SPD Parteivorstand, Pressestelle
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juni 2012