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INNEN/2396: Rede Sigmar Gabriel "Die Kommunen als Ort der sozialen Demokratie"


SPD-Pressemitteilung 061/13 vom 15. Februar 2013

Rede des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel zum Thema: Die Kommunen als Ort der sozialen Demokratie

bei der Bundesdelegiertenversammlung der Bundes-SGK am Freitag, dem 15. Februar 2013, in Würzburg.



- Es gilt das gesprochene Wort -

Ich bin gerne nach Würzburg zur 15. Ordentlichen Delegiertenversammlung der Bundes-SGK gekommen. Aus vielen Gründen. Zwei möchte ich besonders hervorheben: Seit dem 1. Mai 2008 bist Du, lieber Georg Rosenthal, Oberbürgermeister der Stadt Würzburg. Viele haben damals geschrieben, Du habest Dich "überraschend" gegen Deine Mitbewerberin von der CSU durchgesetzt. Ich meine: Du hast Dich verdient und zu Recht durchgesetzt!

Und ich bin sicher: Christian Ude wird sich im Herbst auch verdient und zu Recht gegen Horst Seehofer durchsetzen - das finde ich noch nicht einmal wirklich überraschend, bei der Leistung, die Horst Seehofer in und für Bayern abliefert! Und ich bin aus einem zweiten Grund gerne hier: Kommunalpolitik ist mir eine Herzensangelegenheit.

Die Menschen, die sich kommunalpolitisch engagieren, versorgen das Gemeinwesen mit Energie und der Erfahrung, dass nur gesunde und funktionsfähige Kommunen unsere Demokratie als Orte der sozialen Demokratie lebendig halten!

Die Kommunalpolitik der SPD, die Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker, sind dabei auch Kraftzentren und Impulsgeber unseres Gemeinwesens, weil wohl nirgendwo die Arbeit und die Zusammenarbeit, auch der Streit mit Menschen über die Frage, wie sich unser Gemeinwesen entwickeln soll, so unmittelbar erfahrbar ist, wie in den Städten und Gemeinden.

Wenn der ehrenamtliche Ratsherr oder die hauptamtliche Oberbürgermeisterin über den Marktplatz gehen und angesprochen werden, dann müssen sie mindestens davon ausgehen, dass sie am Wochenende danach die gleichen Leute wieder treffen und sie gefragt werden: "Sag mal, wie weit bist Du denn eigentlich? Ich habe Dir doch letzte Woche gesagt, worum Du Dich kümmern sollst."

Und es ist für Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker nicht möglich, darauf zu verweisen, sie hätten im Parlament jetzt erst mal einen Ausschuss gegründet oder einen Arbeitskreis. Auf Dauer wird dieses Angebot nicht verfangen und ausreichen! Das ist auch der Unterschied zwischen Bundes-, Landes-, und Kommunalpolitikern: Bundestags- oder Landtagsabgeordneten gelingt es ja gelegentlich, am nächsten Wochenende eine andere Stadt aufzusuchen.

Wir müssen nicht jeden Tag über den gleichen Marktplatz laufen, wo wir auf die gleichen Probleme angesprochen werden, die die Menschen vor Ort bewegen. Fest steht für mich: Die Kommunalpolitik ist auch eine Schule der Demokratie. Wir haben lange über eine Organisationsreform der SPD diskutiert. Wenn ich könnte, wie ich wollte, hätte ich gefordert: Keiner darf zum Landtag oder Bundestag kandidieren, der nicht wenigstens eine Legislaturperiode in der Kommunalpolitik zugebracht hat! Das wäre eine bessere Ausbildung für die Politik als der Sitzungssozialismus, den wir manchmal gemeinsam miteinander pflegen.

Es ist schon ein zentraler Punkt, dass sich die Parteien nach Möglichkeit aus der Kommunalpolitik aufbauen sollten, denn ein starkes und erfolgreiches, soziales und lebenswertes Deutschland ist eben ohne gute und lebenswerte Städte und Gemeinden nicht denkbar. Deswegen müssen wir Städte und Gemeinden immer wieder in den Mittelpunkt der politischen Debatte rücken. Nur wenn wir das tun, gewinnen wir Glaubwürdigkeit!

Und natürlich wollen wir als SPD eine starke sozialdemokratische Kommunalpolitik. Und der Ort, wo sozialdemokratische Kommunalpolitik gemacht wird, das ist die SGK. Deswegen haben wir auch, viele von Euch wissen das, im Juni 2012 einen Beschluss auf dem Parteikonvent gefasst, der alle Mitglieder der SPD, die kommunale öffentliche Wahlämter oder Mandate in kommunalen Vertretungskörperschaften innehaben, auffordert, Mitglieder der SGK zu werden.

Ich würde ja als alter Kommunalo noch darüber hinaus gehen und sagen: Man braucht kein kommunales Mandat, um Mitglied der SGK zu werden! Das geht auch ohne! Denn wahr ist auch: Wir müssen selbstkritisch zugeben, dass es uns auch in der SPD nicht immer gelungen ist, kommunale Belange angemessen zu berücksichtigen. Es gibt aber auch viele gute Beispiele gerade aus den letzten Jahren, in denen die SPD in Bund und Land sehr genau wusste, dass sie die Städte und Gemeinden nicht alleine lassen darf. Ich erinnere an die Konjunkturprogramme während der Finanzkrise, die gezielt auf die Städte und Gemeinden zugeschnitten waren.

Sie haben vor allen Dingen im Handwerk und in den mittelständischen Betrieben Arbeitsplätze gesichert und geschaffen. An der verbesserten Infrastruktur, angefangen von den Straßen bis zu den öffentlichen Einrichtungen, kann heute jeder sehen, dass es sich lohnt, in die Substanz unserer Städte und Gemeinden zu investieren.

Die Übernahme der Grundsicherung im Alter - bis zum Jahr 2016 auf über 5 Mrd. Euro aufwachsend - ist maßgeblich auf Druck der SPD zustande gekommen. Das sorgt dafür, dass Städte, Gemeinden und Kreise Luft zum Atmen bekommen. Denn sie sorgen für den Erhalt oder den Ausbau der Infrastruktur, die für unsere wirtschaftliche Entwicklung existenziell ist. Es wird gerne übersehen, dass über 60 % der öffentlichen Infrastrukturinvestitionen von den Städten und Kreisen kommen!

Es gab und gibt immer wieder die Gefahr in allen Parteien, auch in der SPD, dass die Politik im Kopf einer Hierarchie folgt. Das ist auch einer der Gründe, warum an den Kommunalwahlen immer weniger Menschen teilnehmen.

Im Alltagsbewusstsein der meisten Menschen scheint irgendwie das besonders Wichtige die Bundespolitik zu sein, ein bisschen weniger wichtig die Landespolitik, und irgendwie die Letzten, die die Hunde beißen, sind die Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker. Das ist eine Erfahrung, die ich gelegentlich auch von SPD-Kommunalpolitikern selbst erzählt bekomme.

Schon das sollte uns alarmieren: Eigentlich müssen wir erst einmal dafür sorgen, dass die Menschen einen anderen Blick auf die Kommunalpolitik bekommen. Sie stellt nicht die Fußtruppen der Politik, danach der Bund die Kavallerie und die Länder die Artillerie.

Am Ende muss dann die Kommunalpolitik als Infanterie den anderen hinterherrennen.

Klar ist, und wir sollten dies auch klar machen: Es gibt diese Hierarchie in der Politik nicht!

Wie ist der öffentliche Nahverkehr organisiert? Gibt es genug Förderung für Kinder und Jugendliche? Gibt es eine Musikschule? Werden die Vereine gefördert? Gibt es ordentliche Sportstätten? Gibt es genug bezahlbaren Wohnraum? Wie ist die öffentliche Gesundheitsversorgung? Gibt es Angebote im sozialen Bereich für die, die irgendwie Hilfe brauchen?

Was uns im Alltag besonders wichtig ist, wird nicht entschieden im Bundestag, nicht entschieden in Düsseldorf, sondern es wird in den Rathäusern, in den Kreistagen von ehrenamtlichen Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern, von engagierten Oberbürgermeistern, Bürgermeistern und Landräten entschieden!

Wir müssen deutlich machen, dass es keine soziale Gesellschaft in Deutschland gibt, wenn es nicht auch immer eine soziale Gemeinde und eine soziale Stadt gibt. Diese Haltung bildet den Mittelpunkt unserer Politik. Sie ist nicht irgendwo am Rande des politischen Geschehens verortet.

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir eine Renaissance der Kommunalpolitik, der Gemeinden und der Städte in den nächsten Jahren erleben werden. Schon heute setzt sich zunehmend durch, dass Oberbürgermeister hinterher Ministerpräsidenten werden. In Schleswig-Holstein haben wir es mit Thorsten Albig geschafft. In Niedersachsen wird der Oberbürgermeister von Hannover, Stephan Weil, Ministerpräsident. Stephan, dazu nochmals ganz herzlichen Glückwunsch!

Und Christian Ude hat so schlechte Chancen nicht, ich habe es eingangs gesagt, endlich die Demokratie auch in Bayern einkehren zu lassen!

Bevor ich Landes- und später Bundespolitiker wurde, war ich Ratsherr in meiner Heimatstadt Goslar und anschließend auch Kreistagsabgeordneter. Und es hat mir nicht geschadet - das hoffe ich zumindest!

Es ist vielleicht kein Zufall, dass es diejenigen sind, die in ihrem Alltag, jeden Tag, zeigen müssen, dass sie sich bei den Menschen verständlich machen können, und zwar auch dann, wenn man den Menschen sagen muss, "was Ihr da wollt, hört sich gut an, geht aber nicht".

Kommunalpolitik besteht ja nicht darin zu sagen: "Das finden wir eine gute Idee, das machen wir." Allzu häufig besteht sie darin zu sagen, "das ist eine gute Idee, aber haben wir kein Geld für die Umsetzung". Trotzdem gewinnen sie die Wahlen und werden in Direktwahlen gewählt.

Deswegen ist es vielleicht kein Zufall, dass aus der Kommunalpolitik Menschen die Landes- und wahrscheinlich auch Bundespolitik mitbestimmen wollen.

Wahrscheinlich hat das damit zu tun, dass Franz Müntefering mit einem Spruch Recht hatte, den ich vor ein paar Jahren gehört habe: "Wo das Große wichtiger wird, da wird auch das Kleine wichtiger."

Wo die Globalisierung, die Europäisierung jeden Tag wichtiger wird, wollen Menschen auch einen Ort haben, wo sie sich noch auskennen, wo sie sich sicher fühlen, wo sich Dinge im Nahbereich so entwickeln, dass sie sich dort gut aufgehoben fühlen.

Denn das, was wir Globalisierung und Europäisierung nennen, erscheint vielen Menschen so, als ob die Welt sich jeden Tag ein bisschen schneller dreht, sich jeden Tag etwas verändert. Das erleben sie auch im Arbeitsleben.

Keiner von uns kann ihnen versprechen, dass diese Veränderungen jetzt beendet sind, dass die leichter zu tragen werden. Nein, die Veränderungen sind da und sie werden weitergehen.

Aber genau so wie Menschen Veränderungen und auch Herausforderungen bewältigen müssen, genau so gibt es die Sehnsucht danach, wenigstens irgendwo einen Ort zu haben, bei dem sie sich gut aufgehoben fühlen und sich auskennen. Das kann die Familie sein. Bei vielen ist sie es aber nicht mehr. Das sind hoffentlich auch der Betrieb und der Arbeitsplatz. Aber allemal ist es der Ort, wo wir wohnen und leben, wo Menschen mit uns gemeinsam versuchen, vernünftig zu leben.

Deswegen sage ich: Der Wunsch nach einer sicheren Heimat ist nichts aus dem letzten oder vorletzten Jahrhundert, sondern er hängt ganz eng mit dem Thema Globalisierung und Europa und Veränderungen der Welt zusammen.

Deswegen ist es unsere Aufgabe, sichere Städte und Gemeinden, Heimat zu erhalten und zu schaffen, damit sich die Menschen in unserem Land wohlfühlen und manches an Belastungen besser ertragen können.

Manchmal werde ich gefragt, wie kommt das eigentlich, dass es gegen alles, was wir machen, eine Bürgerinitiative gibt? Egal, ob du ein Kraftwerk, eine Stromleitung, eine Windmühle oder einen Bahnhof bauen willst: Was immer du machst - immer hast du irgendwie vor Ort eine Bürgerinitiative, die dagegen ist.

Ich glaube, das hat etwas damit zu tun, dass sich Menschen häufig in unserer Gesellschaft sehr verunsichert fühlen und dass sie in Sichtweite des Ortes, wo sie wohnen, dann am Ende gar keine Veränderung mehr wollen. Wenigstens da, wo sie leben, soll alles so bleiben, wie es ist. Manchmal geht es so weit, dass selbst das Schlechte so bleiben soll, wie es ist.

Ich war vor geraumer Zeit in Halle an der Saale in Sachsen-Anhalt. Da gibt es in der Mitte der Stadt fünf große Hochhäuser. Die stehen seit über 20 Jahren leer. Die einzigen, die da gelegentlich vorbeikommen, sind Polizei und Feuerwehr, wenn dort "dummes Zeug" gemacht wird.

Die Oberbürgermeisterin von Halle hat erklärt, wir müssen die Blocks irgendwann abreißen, sie machen an der Stelle keinen Sinn mehr. Jeder weiß, niemand wird dort wieder einziehen. Es gibt dafür keine Nutzung. Trotzdem gibt es eine Bürgerinitiative gegen den Abriss dieser Häuser, übrigens mit dem für uns vielleicht komisch anmutenden Spruch: "Jetzt wollt ihr auch noch die letzten Reste der DDR-Architektur beseitigen."

Am Anfang lacht man darüber. Aber wenn man ein bisschen nachdenkt, woher diese Einstellung kommt, stößt man darauf, dass die Menschen aus diesem Umfeld einmal stolz darauf waren, in dieser neuen Siedlung eine Wohnung zu bekommen. Diejenigen, die in den letzten 20 Jahren mit so viel Veränderungen zu tun hatten, wollen das Vertraute nicht verlieren.

Für mich ist das ein Zeichen dafür, dass wir einerseits starke Städte und Gemeinden brauchen, damit Menschen dort Nähe, Nachbarschaft, auch emotionale Sicherheit empfinden. Andererseits aber auch, dass wir ihnen tatsächlich wieder mehr soziale Sicherheit geben müssen. Nur dann werden sie bereit sein, Veränderungen mitzumachen und sie nicht als zusätzliche Belastung empfinden, weil sie schon sonst nicht wissen, wie sie ihren Lebensunterhalt bezahlen sollen.

Ich bin ganz sicher, es gibt eine Renaissance der Kommunalpolitik. Deswegen ist es auch das Dümmste, was man machen kann, wenn die jetzige Bundesregierung ausgerechnet das Programm "Soziale Stadt" zusammenstreicht.

Damit wachsen die Probleme in unseren Städten und Gemeinden statt dagegen anzugehen. Das ist der falsche Weg!

Wir wollen das Programm "Soziale Stadt" und die Städtebauförderung mit 700 Millionen Euro wieder verlässlich ausstatten.

Damit packen wir die großen Herausforderungen an: sozialer Zusammenhalt, Integration, demografischer Wandel und altersgerechter Umbau, Klimaschutz und Klimaanpassung. Das Programm "Soziale Stadt" wird das Herzstück und Leitprogramm der Städtebauförderung. Denn die soziale Gesellschaft beginnt in der Sozialen Stadt!

Daneben müssen wir endlich das Thema Wohnen und Miete in den Mittelpunkt unserer Politik rücken. Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier haben dafür Vorschläge gemacht:

Stärkere Begrenzung der Möglichkeit von Mieterhöhungen (15 % in 4 Jahren statt 20 % in 3 Jahren) nicht nur im Bestand, sondern auch bei Neuvermietungen: Hier fordern wir eine Begrenzung der Mieterhöhungsmöglichkeit auf 10% über der Vergleichsmiete.

Wenn nun gesagt wird, das würde die Investitionstätigkeit behindern, dann frage ich: Renditen von 4, 5, 6% beim Wohnungsbau sind deutlich mehr, als man zurzeit an den Finanzmärkten erzielen kann. Und auch die geltenden großzügigen Regeln haben offensichtlich nicht zu einem Investitionsboom geführt.

Die Notwendigkeit eines solchen Vorgehens wird auch im Entwurf des Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung unterstrichen.

Die Wirklichkeit, die in der ersten Version des Berichts beschrieben wird, kann man nämlich weder ignorieren noch "ressortabstimmen", wie das die Bundesregierung getan hat. Und wer nicht glaubt, wie es in unserem Land aussieht, soll die Städte besuchen, die dringend einen Ausbau der Programme ?soziale Stadtentwicklung? brauchen. Dann wird sichtbar, was nicht nur auf dem Papier steht.

Natürlich sind die Probleme in den Städten und Gemeinden unterschiedlich. Wir haben Gemeinden, ich komme auch aus so einer Region, die hatten einen dramatischen Einwohnerverlust, wie ihn auch große Städte in Ostdeutschland oder in NRW verkraften müssen. Wir haben mit Leerständen zu kämpfen. Wir wissen nicht, wie wir die öffentliche Infrastruktur aufrecht erhalten sollen.

Kindertagesstätten, Schulen, Poststellen gibt es schon in den meisten Gemeinden nicht mehr, Läden auch nicht. Hausärzte fehlen, Fachärzte sowieso. Diese Situation sprecht Ihr ja in einem Eurer Anträge an, und schlagt weiterführende Lösungen vor: Ihr sprecht Euch insbesondere gegen das Gießkannenprinzip aus, und für eine stärkere Fokussierung der Förderung, die Investition in individuelle Stärken. Ich halte das für weiterführend.

Auf der anderen Seite haben wir auch das genaue Gegenteil in Deutschland: wachsende Städte, in denen es immer schwieriger wird, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Vor allem sind Familien oder Menschen, die nicht so hohe Einkommensverhältnisse haben, davon betroffen. Wir haben also eine ganz ungleichgewichtige Entwicklung.

Und die hat natürlich etwas damit zu tun, dass der demografische Wandel überall zu spüren ist und dass ebenso die Bedingungen, Lohn und Arbeit zu finden, in Deutschland sehr unterschiedlich geworden sind.

Das bedeutet aber nicht, dass wir ein Ziel aufgeben dürfen, das in der Verfassung unseres Landes vorgegeben ist und das in den letzten Jahren dieser neoliberalen Debatte meistens ignoriert worden ist. Der Auftrag lautet, annähernd ausgeglichene Lebensverhältnisse überall in Deutschland zu schaffen. Nicht "gleiche" Lebensverhältnisse. Es geht nicht um Nivellierung.

Das Leben auf der Hallig Hooge wird sich nach wie vor von Bochum unterscheiden. Das soll auch so sein.

Aber es darf nicht so sein, dass schon das Leben an sich, unabhängig von der Frage, ob man da leben will oder nicht, dazu führt, dass meine Chancen, aus meinem Leben was zu machen, drastisch schlechter sind als an anderer Stelle in Deutschland.

Deswegen ist es gerade unsere Aufgabe, der Sozialdemokratie, insbesondere der Kommunalpolitik, zu sagen, wir stellen uns dieser Aufgabe.

Wir wollen sie weder dort ignorieren, wo die Städte und Gemeinden schrumpfen, noch dort, wo sie wachsen und normale Einkommensbezieher keinen bezahlbaren Wohnraum mehr bekommen.

Übrigens: wer sich manchmal darüber wundert, wieso eigentlich Rechtsradikale in der Mitte der Gesellschaft Zulauf haben, wird bei genauerem Hinsehen feststellen, dass dies nicht selten etwas mit den Zuständen vor Ort zu tun hat.

Wenn zum Beispiel kleinere Gemeinden ihre Jugendzentren und sogar Kindergärten schließen müssen und dann die NPD kommt und anbietet, dass sie sie kostenlos aufrecht erhält.

Spätestens da muss man doch merken, dass öffentliche Armut die Demokratie gefährdet und keine fixe Idee von Sozialdemokraten ist und man deshalb die öffentlichen Hände wieder vernünftig ausstatten muss.

Ich weiß, die Erhöhung des Spitzensteuersatzes, die Einführung einer Vermögenssteuer und eine stärkere Kapitalbesteuerung wie auch der von uns in unserem Finanzierungskonzept vorgeschlagene Subventionsabbau ist nicht überall ein Wahlkampfrenner.

Aber andererseits glaubt kaum noch jemand die Versprechen von CDU, CSU und FDP, die die Schulden abbauen, mehr für Bildung tun und gleichzeitig die Steuern senken wollen. Das nimmt ihnen kein Mensch ab.

Wenn wir etwas dagegen tun wollen, dass unsere Städte und Gemeinden absaufen, wenn wir mehr in Bildung investieren wollen, wenn wir die Leute nicht alleine lassen wollen, dann werden wir in Deutschland die öffentlichen Hände auch mit mehr Geld ausstatten müssen. Das haben wir in unserem Finanzkonzept unterlegt. Und das ist ein ehrliches Konzept, das wir vor der Bundestagswahl entwickelt haben!

Wir brauchen einen Investitions- und Entschuldungspakt für die Kommunen! Denn die Kommunen haben - Ihr wisst das - einen Investitionsstau von 100 Milliarden Euro, und Kassenkredite von über 40 Milliarden Euro!

Deswegen werden wir die Schuldentragfähigkeit der Kommunen durch den kommunalen Anteil der Rücknahme der schwarz-gelben Klientelgesetze, des Subventionsabbaus und der Einführung eines gerechteren Steuersystems mit annähernd 4 Milliarden Euro verbessern.

Teil des Investitions- und Entschuldungspaktes ist auch die Weiterentwicklung der Gewerbesteuer durch Einbeziehung der freien Berufe und Ausweitung der Hinzurechnungen (Kommunalmodell).

Wichtig ist ferner, das fordert Ihr ja auch in Eurem finanzpolitischen Leitantrag, eine Entlastung von steigenden Sozialausgaben. Deswegen haben wir auf der Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung durch den Bund bestanden.

Bund und Länder haben sich auf Initiative der SPD-regierten Länder darauf verständigt, in der nächsten Legislaturperiode unter Berücksichtigung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen auch die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen zu reformieren.

Und für uns ist klar: Das Geld dafür muss auch von denen kommen, die mit Hilfe des ganzen Landes sehr, sehr wohlhabend geworden sind. Es ist keine Frage von Sozialneid, den Spitzensteuersatz zu erhöhen, sondern es hat etwas mit sozialem Patriotismus für das eigene Land zu tun, das mitgeholfen hat, dass einige wohlhabend geworden sind!

Das gilt auch mit Blick darauf, was in Europa passiert. Ich meine, es kann doch nicht wahr sein, dass wir für die Sanierung der Schulen, für Ausbildungsplätze im öffentlichen Dienst, für eine anständige kulturelle und soziale Versorgung angeblich kein Geld haben. Aber die Brüder an den Finanzmärkten, ich meine Zocker und Spekulanten, machen so weiter wie bisher und mussten bis heute keinen Cent dafür bezahlen, was sie an Milliardenschäden in Europa angerichtet haben.

Deshalb bin ich dafür, dass die SPD natürlich den Mut haben muss zu sagen, wie wir eine gerechtere Finanzierung in Deutschland erreichen und dann vor allem im Bereich Bildung und Kommunen für eine bessere Finanzierung sorgen wollen.

Wir wollen die soziale Stadtentwicklung und Integration zusammenbringen. Dazu benötigen wir jetzt ein auskömmlich finanziertes Programm, damit wir Städtebauentwicklung, Wohnen, bezahlbare Mieten, Integration und Bildung in unseren Städten wieder voranbringen können. Das wird unsere Aufgabe nach der nächsten Bundestagswahl sein.

Es gibt ganz viele in unseren Städten, die darauf warten!

Peer Steinbrück hat darauf reagiert und angekündigt, einen "Nationalen Aktionsplan Wohnen und Stadtentwicklung" auf den Weg zu bringen. Und das ist auch gut so! Weil wir nicht nur den Mund spitzen dürfen, sondern auch pfeifen müssen! Auf der Jahresauftaktklausur haben wir Maßnahmen beschlossen, die in diesen Plan gehören.

Wenn ich sage, wir müssen mehr für die Kinderbetreuung tun, dann stellt sich natürlich schnell die Frage: "Wofür gibt eigentlich die jetzige Regierung das Geld aus?"

Ich will das Thema Betreuungsgeld nicht überstrapazieren, aber ich will einmal darstellen, wie dieses Thema praktisch bei einigen ankommt:

Ich war vor einiger Zeit in einer Kindertagesstätte (in der Nähe der Zeche Zollverein, die sich in Trägerschaft der AWO befindet).

Dort gibt es auf Grund der Struktur des Stadtteils einen sehr hohen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund. Die Einrichtung hat viele Jahre dafür geworben, dass die Eltern ihre Kinder in diese Tagesstätte bringen, obwohl es Beiträge kostet.

Die Verantwortlichen haben gesagt, "Leute, Eure Kinder werden auf Dauer nur besser in Deutschland leben können, wenn sie eines können, die deutsche Sprache. Kein Kind darf zur Grundschule gehen, das nicht die deutsche Sprache beherrscht. Also schickt uns die Kinder. Wir machen ein ordentliches Sprachausbildungs-Programm."

Was geschieht? Die Eltern schicken ihre Kinder in diese Einrichtung. Nach Jahren haben sie es erreicht, dass ein ganz hoher Anteil dieser Kinder in die Kindertagesstätte geht.

Aber was kommt jetzt aus der Bundesregierung für ein Signal an diese Eltern, die das machen und bislang Beiträge zahlen? "April, April", das war alles nicht so gemeint, in Zukunft kriegt ihr 150 Euro im Monat, wenn Ihr Eure Kinder nicht dorthin bringt. Wie verrückt muss man eigentlich sein, um auf eine solche Idee zu kommen?

Angesprochen sind auch Politikfelder, die nicht zu allererst der Kommunalpolitik zugeordnet sind. Wir werden vieles in unseren Städten und Gemeinden nicht in den Griff bringen, wenn die Erwerbsarmut in Deutschland weiter ansteigt.

Dabei tritt auch das Verrückte in der aktuellen Rentendebatte offen zu Tage. Frau von der Leyen erfindet wieder als externes Raumschiff der Bundesregierung eine Zuschussrente, die die Bundesregierung erst beschließt, um sie dann wieder in Frage zu stellen.

Mir ist das egal, denn die "Zuschussrente" ist eine Mogelpackung, die noch dazu die Ursachen von Altersarmut ausblendet. Wer aber über Altersarmut reden will, der darf über Erwerbsarmut nicht schweigen.

Und wir müssen dafür sorgen, dass in Deutschland endlich wieder gute Arbeit guten Lohn bekommt. Das ist auch wichtig, um in unseren Städten den sozialen Zusammenhalt zu sichern. Leider kann man in den Städten und Gemeinden derzeit dabei zusehen, wie unsere Gesellschaft immer mehr auseinanderfällt in die guten Stadtviertel, die keine Probleme haben, und die Stadtviertel, die es immer schwieriger haben.

Das gilt immer mehr für das ganze Land. Die soziale Spaltung unseres Landes, die kulturelle Spaltung hat in den letzten Jahren zugenommen.

Es ist unsere gemeinschaftliche Aufgabe, dass wir Deutschland wieder in ein soziales Gleichgewicht bringen. All das, was wir hier debattieren, von der Bildung über Erwerbsarmut, Förderung, Stadtentwicklung, hat etwas damit zu tun.

Es hat damit zu tun, dass man für Arbeit wieder anständig bezahlt wird. Und es hat damit zu tun, dass eine gute Bildung für alle nicht vom Geldbeutel abhängen darf und von dem Stadtteil, in dem man wohnt, ob man eine vernünftige Facharztversorgung in der Nähe hat, dass man eben nicht Krösus sein muss, um nach einem langen Arbeitsleben noch eine vernünftige Pflege bekommt und vieles andere mehr. Das sind für mich die Kernbestandteile von sozialdemokratischer Politik!

Ich glaube, wir kämpfen gemeinschaftlich darum, die soziale Markwirtschaft zurück zu erobern von denen, die sie ruiniert haben.

Ich plädiere dafür, dass wir dieses Jahr 2013, das 150. Lebensjahr der Sozialdemokratie, zu einem Jahr machen, in dem wir überall, im Stadtteil, in der Gemeinde, in der Stadt mit unseren Bürgerinnen und Bürgern darüber reden, was sie von sozialdemokratischer Politik erwarten, um Deutschland wieder in ein neues soziales Gleichgewicht zu bekommen.

Das machen wir auch bei der Aufstellung des Regierungsprogramms zur Bundestagswahl. Wir sprechen mit Bürgerinnen Bürgern über eine ganz einfache Frage. Sie lautet: "Was soll besser werden in Deutschland?"

Wir wollen mit den Menschen, die wir jeden Tag treffen, wieder darüber reden, wie wir in unseren Gemeinden, Städten und in Deutschland zusammenleben wollen.

Und ich bin sicher: Dabei kommt der kommunalen Ebene als zentrale Orte der sozialen Demokratie eine bedeutende Rolle zu.

Diese Rolle entwickelt Ihr in Euren guten inhaltlichen Anträgen zu Kommunalfinanzen, der Entwicklung der ländlichen Räume, der Energiewende, lokaler Demokratie und Beschäftigung. Vieles davon haben wir schon in unser politisches Handeln aufgenommen. Einiges müssen wir noch weiter diskutieren.

Mit dem Kommunalbeirat haben wir einen Ort, wo wir uns weiter austauschen. Damit die Forderungen der Kommunalpolitikerinnen und -politiker gehört, diskutiert und umgesetzt werden. Denn das ist gut für die Partei, und gut für die Menschen.

Ich bin der festen Überzeugung: Ein starkes und erfolgreiches, soziales und lebenswertes Deutschland ist ohne starke Landkreise und ohne starke Kommunen als Ort der Sozialen Demokratie nicht denkbar. Lasst uns gemeinsam weiter daran arbeiten!

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Quelle:
SPD-Pressemitteilung 061/13 vom 15. Februar 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Februar 2013