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AFRIKA/1134: Nordafrika - Wo bleibt die Freiheit? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 5/2012

Wo bleibt die Freiheit?
Neue islamistische Akteure in Nordafrika erschweren die politische Transformation

Von Hanspeter Mattes



In den Staaten des "arabischen Frühlings" hat der politische Wandel vor allem zu einer stärkeren Präsenz islamistischer Parteien geführt. Auch die radikalen Salafisten sind vielfach im Aufwind. Die "Nichtislamisten" sind zersplittert. Es steht zu befürchten, dass letztlich der Autoritarismus nur die Farbe wechselt.


In den nordafrikanischen Staaten war der religiöse Sektor wie alle anderen Bereiche auch unter den Bedingungen der bis Anfang 2011 vorherrschenden autoritären Herrschaft eng kontrolliert. Die Kontrollinstanz variierte allerdings dabei von Staat zu Staat. Legten in Marokko und in Libyen die Staatschefs selbst, also König Mohammed VI. als Kommandeur der Gläubigen und Revolutionsführer Qaddafi als Verkünder seiner neuen Islampolitik, die Richtung des religiösen Diskurses fest, war es in Tunesien der vom Präsidenten eingesetzte Mufti der Republik und sein Diwan sowie in Algerien der vom Präsidenten bestellte Höchste Islamische Rat, die hier eine Führungsrolle innehatten.

In allen Staaten oblag dabei die operative Kontrolle der Imame, der Moscheen und des Religionsunterrichts den nachgeordneten Ministerien für religiöse beziehungsweise islamische Angelegenheiten (vgl. im Detail Sigrid Faath: Staatliche Religionspolitik in Nordafrika/Nahost - Ein Instrument für modernisierende Reformen?, Hamburg, GIGA 2007, [1]). Die Kontrolle des Staates erstreckte sich aber auch auf jene Parteien und zivilgesellschaftlichen Gruppen, die sich für eine Aufwertung der Rolle der Religion im Staate einsetzten. Diese Akteure waren wegen des Konflikts mit dem formal säkularen Staatsziel Opfer politischer Gegenmaßnahmen und deshalb teilweise wie die ägyptischen Muslimbrüder oder die marokkanische Bewegung Gerechtigkeit und Wohlfahrt (Al-Adl wal-Ihsane) höchstens geduldet, in der Regel aber verboten.

Nur in Ausnahmefällen wurden islamistische Parteien, wenn sie sich zur staatlichen Ordnung bekannten und Gewalt abschwörten, als Parteien legalisiert. Beispiele waren die marokkanische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) oder die algerische Bewegung für eine Gesellschaft des Friedens (MSP).


Der politische Umbruch schafft neue Aktionsräume und Rahmenbedingungen

Der seit Januar 2011 in allen nordafrikanischen Staaten feststellbare politische Umbruch veränderte die Struktur des religiösen Sektors in Abhängigkeit von der Intensität der lokalen politischen Entwicklungen. Die Veränderungen waren zwangsläufig in jenen Staaten, in denen es zu Regimewechseln kam wie in Tunesien (14. Januar 2011), Ägypten (11. Februar 2011) und Libyen (August 2011) umfangreicher und grundlegender als in Marokko und Algerien, wo die politischen Proteste deutlich schwächer waren und die nachfolgenden politischen Reformen begrenzter ausfielen.

Der Aufschwung islamistischer Gruppen und die Forderung, die Scharia stärker zum gesellschaftlichen Referenzpunkt zu machen, waren zu Beginn der Proteste zunächst nicht zu erwarten gewesen, weil die Muslimbrüder und andere islamistische Gruppen trotz ihres hohen Organisationsgrades keine federführende und mobilisatorische Rolle spielten. Es waren vielmehr Jugendliche, Gewerkschafter, Frauengruppen und Menschenrechtsaktivisten, die - ohne Bezug zur Religion - spontan demonstrierten und Gerechtigkeit, Freiheit und Würde einforderten. Ihre Spontanität und ihr geringer Organisationsgrad waren aber genau jene politischen Defizite, die bei den eingeleiteten Wahlprozessen dafür sorgten, dass ihre Vertreter kaum in den neuen Parlamenten vertreten sind.


Sowohl bei der Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung in Tunesien am 23. Oktober 2011, der vorgezogenen Parlamentswahl in Marokko am 25. November 2011 als auch bei den Parlamentswahlen in Ägypten Dezember 2011/Januar 2012 siegten nahezu erdrutschartig die angetretenen islamistischen Parteien und sorgten dafür, dass aus dem "arabischen" inzwischen ein "islamischer Frühling" wurde.

In Tunesien errang die seit den neunziger Jahren verbotene und erst im Frühjahr 2011 zugelassene Erneuerungspartei Ennahda unter Führung von Rachid Ghannouchi 89 der 217 Sitze in der Verfassunggebenden Versammlung, weil sie sich in den Augen der Bevölkerung als langjährige Opposition gegen das Regime Ben Alis vermarkten konnte. Entsprechend der Vereinbarung der drei größten Wahlsieger bei den Wahlen vom 23. Oktober 2011 (Ennahda, die sozialdemokratische Attakatoul und der nationalistische Kongress für die Republik) fiel das Amt des Premierministers im Dezember 2011 an den Generalsekretär der Ennahda-Partei, Hamadi Jebali. Jebali besetzte im neuen am 24. Dezember 2011 vereidigten Kabinett die meisten Ressorts, darunter die Ressorts Äußeres, Inneres, Justiz, Religion, Menschenrechte, Hochschulwesen, mit Ennahda-Mitgliedern.


In Marokko konnte die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung ihre Präsenz im Parlament auf 107 Sitze (von insgesamt 395) gegenüber 2007 mehr als verdoppeln und hatte damit gemäß Verfassungsmodifikation vom Juli 2011 das Recht, den Regierungschef zu stellen. Auch in Marokko wird die neue Regierung von Parteimitgliedern der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung dominiert.


Überwältigend war mit rund 70 Prozent der Plätze der Sieg der Islamisten in Ägypten, wo die neu gegründete Partei der Muslimbrüder, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), 127 der insgesamt 332 über Parteilisten zu vergebenden Sitze erreichte. Die gleichfalls neu gegründete Partei der salafistischen Bewegung, die Partei des Lichts (Nour-Partei), die deutlich radikalere Positionen als die Muslimbruderschaft vertritt, wurde aus dem Stand heraus mit 96 Sitzen zweitstärkste Kraft. Säkular-liberal orientierte Parteien blieben abgeschlagen auf hinteren Plätzen; mit 36 Sitzen schnitt die Wafd-Partei noch am besten ab. Bei diesem Wahlergebnis war klar, dass sowohl der Parlamentspräsident als auch die meisten Vorsitzenden der Parlamentskommissionen von der FJP geleitet werden.

Kritik der säkular-liberalen Parteien und der Zivilgesellschaft gab es, als im März 2012 die Muslimbruderschaft auch die 100 Mitglieder der Kommission zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung nahezu ausschließlich mit eigenen Gefolgsleuten besetzten, sodass Kopten und selbst Azhar-Vertreter resignierten und sich aus der Kommission zurückzogen. Ende März 2012 stellte schließlich die Muslimbruderschaft mit Khairat al-Shater einen eigenen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl im Juni 2012 auf.

Khairat al-Shater, der am 4. April explizit in einem Interview ankündigte, sein politisches Ziel sei "die Umsetzung der Scharia", hat gute Chancen, gewählt zu werden. In der ägyptischen Presse häufen sich indessen die kritischen Kommentare zur politischen Dominanz der Muslimbrüder: Die Revolution von 2011 habe nur die Akteure ausgetauscht, aber nicht die autoritären Strukturen aufgebrochen. Die Omnipräsenz der Partei Husni Mubaraks, der Nationaldemokratischen Partei, sei durch die Omnipräsenz der Muslimbrüder und ihrer FJP ersetzt worden.


Neue religiöse Akteure und Parteien

Nach dem Sturz der langjährigen Machthaber in Tunesien, Ägypten und Libyen nahmen die neuen Staatsführungen die Kontrollmechanismen zurück und gewährten politische Freiräume. Diese Maßnahmen führten zu einer Explosion zivilgesellschaftlichen Engagements. Es wurden Hunderte von neuen Parteien und Vereinigungen und eine Vielzahl neuer Zeitungen und Zeitschriften gegründet. Die islamistischen Strömungen nutzten diese Chance und gründeten seit Frühjahr 2011 zahlreiche eigene Organisationen.


Mit Ausnahme Marokkos, wo die PJD die islamistische Parteienlandschaft dominiert und gegenwärtig wenig Spielraum für neue religiös geprägte Parteien lässt, wurden in allen anderen nordafrikanischen Staaten islamistische Parteien neu gegründet oder zumindest bereits bestehende legalisiert. In Ägypten gründete nicht nur die Muslimbruderschaft am 30. April 2011 ihre eigene Partei, die FJP, sie bekannte auch offensiv ihre Absicht, den künftigen politischen Prozess mitgestalten zu wollen, auch wenn sie zunächst auf die Aufstellung eines eigenen Präsidentenkandidaten verzichten wollte und diesen Schritt überraschend erst im März 2012 verkündete.

Eine Überraschung war auch, dass sich die Salafisten, die besonders in den ärmeren Bevölkerungsschichten Anhänger haben und sich eigentlich nicht als "politische" Bewegung verstehen, am 12. Mai 2011 zur Gründung einer Partei, der Partei des Lichts, unter Vorsitz von Emad Abd El-Ghaffour, entschlossen. Damit wollten sie ihr Anliegen, die Wiedereinführung der Scharia, im politisch-parlamentarischen Raum besser umsetzen. Keine Überraschung hingegen war die Legalisierung der bereits 1996 als Abspaltung von den Muslimbrüdern gegründeten moderat-islamistischen Zentrumspartei Wasat. Nicht zugelassen wurde bislang die bereits 1974 gegründete Befreiungspartei (Hizb al-Tahrir), die sich gegen die Staatsform der Republik ausspricht und für die Wiedereinführung des Kalifats plädiert.


Militante Aktivisten und Einzelprediger

In Tunesien gründeten sich seit Januar 2011 über 100 neue Parteien, darunter auch mehrere islamistische. Neben der von Rachid Ghannouchi präsidierten Ennahda-Partei sind dies etwa die Partei für Würde und Gleichheit, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung und die Partei der Nation. Die Dominanz der Ennahda sorgt aber dafür, dass diese Parteien weder im öffentlichen Leben groß in Erscheinung treten noch bei den Wahlen im Oktober 2011 eine Rolle spielten. Wie im Falle Ägyptens wurde auch in Tunesien der islamistischen Befreiungspartei, der Salam-Partei und der Sunniten-Partei vom Innenministerium die Legalisierung verweigert.

In Algerien führte die Reform des Parteiengesetzes Ende 2011 dazu, dass dem Innenministerium neue Richtlinien zur Zulassung politischer Parteien an die Hand gegeben wurden und entsprechend der Neuregelung Anfang 2012 mehrere neue islamistische Parteien legalisiert wurden, darunter die Front für den nationalen Wandel von Abdelmajid Menasra und die Front für Gerechtigkeit und Entwicklung von Ahmad Jaballah. Die Führer der drei in der "Grünen Allianz" zusammengeschlossenen islamistischen Parteien, die MSP (unter Führung von Bouguerra Soltani), die algerische Ennahda (unter Führung von Fateh Rebai) und die Reformbewegung (Bewegung El Islah) von Hamlaoui Akouchi gaben sich anlässlich einer Pressekonferenz am 2. April 2012 siegesgewiss. Sie sind überzeugt, dass sie wegen ihres Führungspersonals und ihrer Programme die für den 10. Mai angesetzten Legislativwahlen zur algerischen Nationalversammlung gewinnen und damit den Siegeszug islamistischer Parteien in Nordafrika vollenden werden.

In Libyen kam es gleichfalls seit 2011 zu einer Wiederbelebung islamistischen Gedankenguts. Auch wenn erst im Juni 2012 Wahlen zu einem 200-köpfigen verfassungsgebenden Nationalrat stattfinden werden, so sprach der amtierende, von dem ehemaligen Richter Abd al-Jalil geleitete Übergangsrat bereits am 3. August 2011 in seiner provisorischen Verfassungserklärung davon, dass Libyen eine Republik werde, in der die Scharia zur Anwendung komme. Mehrere der seit Sommer 2011 neu entstandenen politischen Parteien, darunter die im Januar 2012 gegründete Partei für Reform und Entwicklung sowie die Anfang März gegründete Partei der libyschen Muslimbrüder (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) verfechten diese Vorgabe und fanden im Vorsitzenden des neu geschaffenen Fatwa-Rates, der neuen obersten religiösen Einrichtung Libyens, Scheich Sadiq al-Ghariani, einen mächtigen Verbündeten.

Nach Beginn der politischen Umbrüche gewann die islamistische Bewegung insgesamt an Handlungsspielraum und Freiräumen; einzelne Prediger und militante Gruppen machen immer wieder durch Aktionen von sich reden. Allerdings ist es schwierig, die Dimension der islamistischen Bewegung jenseits der Parteien einzuschätzen. Genauere Kenntnisse hinsichtlich ihrer Führungspersonen, ihrer Mitgliederzahl und ihrer Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt, um ihre gesellschaftlichen Ziele durchzusetzen, fehlen. Ihre Gesellschaftskonzeption wird in der Regel auf eine Forderung verkürzt, die Wiedereinführung der Scharia. Eine Fülle von Einzelereignissen zeigt jedoch, bei allen Defiziten der Informationslage über Mitglieder und Strukturen, dass diese Gruppen dynamisch sind und ihre Mitglieder sich durch eine hohe Aggressivität auszeichnen.


Dies gilt vor allem für die salafistischen Gruppen, die sich besonders in Ägypten und in Tunesien manifestieren, aber auch in Algerien und Marokko für Übergriffe auf Bars oder in ihren Augen nicht schicklich gekleidete Frauen verantwortlich sind. In Tunesien, wo sie sich unter dem schwarzen Salafistenbanner sammeln, stürmten zum Beispiel am 9. Oktober 2011 etwa 300 Salafisten in Tunis den Fernsehsender Nessma TV wegen der "gotteslästerlichen" Ausstrahlung des Films "Persepolis"; militante Anhängerinnen der Bewegung in Vollverschleierung wollen seit Ende 2011 an der Universität Manouba die Zulassung des Niqab (Vollschleier) an der Universität durch Sit-ins und Blockaden erstreiten.

Ende März 2012 verbrannte ein salafistischer Student ohne scharfe Gegenreaktion der Ennahda-Regierung die tunesische Staatsflagge; ebenfalls Ende März 2012 stürmten mehrere Hundert Salafisten das Theater im Zentrum von Tunis, um die Absetzung "unislamischer" Stücke zu erzwingen, griffen die orthodoxe Kirche in Tunis, Avenue Mohamed VI., an und am 5. April setzten Salafisten in Le Kef eine Schule aus Protest über das Niqabverbot in Brand.

Die Salafisten, die sich in Ägypten um wortgewaltige Prediger wie Scheich Hazem Salah Abu Ismail, Abdel Moneim El Shahat, Scheich Yassir al-Burhami oder Scheich Abi-Ishaq al-Huwayni sammeln und in Tunesien in Saif Allah Ben Hassine alias Abou Yadh einen charismatischen Anführer haben, versuchen ihren Einfluss vor allem über die Kontrolle von Moscheen auszuweiten. Anfang April 2012 sollen nach tunesischen Angaben bereits rund zehn Prozent der 5000 tunesischen Moscheen von Salafisten kontrolliert werden (in Algerien sollen bis zu 80 Prozent der Moscheen außerhalb der staatlichen Kontrolle durch das Religionsministerium liegen; insbesondere in den Großstädten kontrollieren Salafisten wichtige Moscheen in bevölkerungsreichen Wohnarealen), sodass sogar die gemäßigtere Ennahda über diese Konkurrenz beunruhigt ist.


Dabei sorgte Ennahda selbst in den letzten Monaten durch die Einladung prominenter fundamentalistischer wahhabitischer Prediger aus Saudi-Arabien und den kleineren Golfstaaten wie Scheich Wajdi Ghunim und die Organisation von Rundreisen für diese Prediger dafür, dass deren Plädoyers etwa für die Wiedereinführung der Beschneidung von Frauen, die Einführung des islamischen Strafrechts gepaart mit antizionistischen Hasstiraden und Aufrufen gegen die Juden unwidersprochen unter die Bevölkerung gebracht wurden (vgl. zur "triumphalen Rundreise" von Scheich Ghunim [2]).

Im westtunesischen Jendouba praktizierte Anfang März 2012 eine Gruppe jüngerer Salafisten Selbstjustiz, als sie einem gestellten Dieb in Anwendung der Scharia die Hand amputierten; der Imam Lotfi Kallel wurde wegen seiner liberalen Ansichten am 11. März 2012 in Tunis von einer "Gruppe Vollbärtiger" ermordet. Arabische Zeitungen sprachen in diesem Zusammenhang davon, dass vor allem Tunesien beziehungsweise der "arabische Westen" (Maghreb) derzeit fruchtbare Erde für wahhabitische Mission geworden sei.


Zerstörung von Sufischreinen

Ein besonders Phänomen, das seit der zweiten Jahreshälfte 2011 in Libyen und seit Anfang 2012 in Tunesien zu beobachten ist, ist die Zerstörung von Sufischreinen und Marabouts, also Heiligengräbern, die im Volksislam eine wichtige Rolle spielen, für Salafisten aber Götzendienerei ist. Die Profanierung von Heiligenschreinen wie auch christlicher Gräber und Kriegsgräber aus dem Zweiten Weltkrieg wurde zuerst aus Libyen vermeldet, wo die salafistische Bewegung insbesondere in der konservativen ostlibyschen Provinz Barqa (Cyrenaika) aktiv wurde.

In der Cyrenaika, aus der bereits in den neunziger Jahren die meisten libyschen Jihadisten stammten, die auf Seiten Osama Ben Ladins in Afghanistan kämpften, hatten sich nach der Befreiung des Territoriums von der Herrschaft Qaddafis im Februar 2011 schnell Hunderte von radikalen Islamisten reorganisiert und in schwer bewaffneten Gruppen (mit Namen wie Katiba Abu Talib usw.) zusammengeschlossen. Diese kämpften entweder in eigenen Brigaden gegen die qaddafischen Streitkräfte oder konsolidierten die Lage in der Cyrenaika. Nach dem Sturz Qaddafis traten sie mit Forderungen wie der Gründung eines ostlibyschen Emirats, in dem die Scharia gelten soll, an die Öffentlichkeit. In Westlibyen haben die Salafisten im März 2012 mehrfach versucht, das berühmte Grabmal des Sidi Abdalsalam al-Fituri in Zliten zu stürmen und zu zerstören, sie konnten aber bislang jedes Mal von der wachsamen lokalen Bevölkerung daran gehindert werden.


Folgen für die interne Entwicklung

Aber auch prominenten libyschen islamistischen Predigern wie Scheich Ali Muhammad al-Sallabi, die seit 2011 die neuen Handlungsspielräume für sich nutzen, gehen solche Entwicklungen zu weit. Sallabi gründete deshalb bereits im November 2011 eine Partei, die Nationale Versammlung für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, die nach türkischem AKP-Vorbild einen moderaten Islam vertritt. Gegenwärtig ist jedoch vollkommen offen, welche politische beziehungsweise religiös-politische Strömung künftig in Libyen dominieren wird.


Die Öffnung der politischen Handlungsspielräume in den nordafrikanischen Staaten und die damit einhergehende neue Dynamik der islamistischen Bewegung hat Konsequenzen für die politische Gesamtentwicklung Ägyptens und der Maghrebstaaten. Durch die Umbruchprozesse vervielfachten sich die politischen Akteure, die gestalterisch in politische und gesellschaftliche Prozesse eingreifen wollen. Die Lösung der anstehenden gesamtgesellschaftlichen Fragen wird dadurch verzögert und komplizierter. Gerade Ägypten, Libyen, Tunesien, aber auch Algerien stehen vor einer überfälligen Reform ihrer Verfassungen, die hitzige Debatten auslösen wird.

Auseinandersetzungen sind insbesondere zu erwarten um die Ausgestaltung der neuen Verfassung (Präsidialregime, parlamentarisches System); die Rolle der Religion im postrevolutionären Staat (Soll die Scharia die Quelle der Rechtsprechung oder nur eine der Quellen sein? Soll die Scharia überhaupt Referenzpunkt sein?); die Frage, wie viel Zentralstaat und wie viel Dezentralisierung beziehungsweise Föderalismus eingeführt werden soll; die Frage, wie zukünftig das Verhältnis zwischen Staatswirtschaft und Marktwirtschaft aussehen soll und schließlich die Fragen, wie (und wie viele) Frauen- und Minderheitenrechte konstitutionell abgesichert werden sollen.


Gegenwärtig zeichnet sich in allen nordafrikanischen Staaten eine zunehmende Polarisierung zwischen Islamisten auf der einen Seite und den "Nichtislamisten" auf der anderen Seite ab, wobei beide Lager in sich heterogen sind. So vertreten Muslimbrüder, Salafisten und andere islamistischen Gruppen in Einzelfragen und hinsichtlich der operativen Umsetzung durchaus unterschiedliche Auffassungen, auch wenn sie hinsichtlich des Ziels, der Einführung des letztendlich persönliche Freiheiten gering schätzenden islamistischen Gesellschaftsmodells, einig sind. Aber auch die Gruppe der "Nichtislamisten", die für eine Reduzierung des religiösen Einflusses auf die Politik eintreten, ist zersplittert und umfasst ein breites Spektrum, das beispielsweise Vertreter eines toleranten, an die Moderne angepassten Islam, Atheisten und Anhänger liberaler, säkularer Politikvorstellungen sowie Verfechter der universellen Menschenrechte und der Geschlechtergleichstellung umfasst.


Diese in sich heterogenen Kräfte versuchen zwar gegenwärtig in Tunesien einen so genannten "modernistischen Pol" zu formieren, um den Islamisten politisch Paroli zu bieten. Die hohe Gewaltbereitschaft der salafistischen Basis und der Ennahda-Miliz lassen jedoch befürchten, dass deren physische und rhetorische Aggressivität wirkt und die islamistische Bewegung sich mittelfristig durchsetzt. Es ist kein gutes Omen, wenn zum Beispiel die handgreiflichen Angriffe auf den für seine religionskritischen Schriften bekannten tunesischen Professor Hamadi Redissi im Februar 2012 nicht massiv von der islamistisch-dominierten Regierung verurteilt und die Angreifer juristisch belangt werden.

Es ist auch kein gutes Omen, wenn der Ennahda-Führer Rachid Ghannouchi in einem Interview meint, die Jugend dürfte nicht vom Gedankengut eines Hamadi Redissi oder eines Mohamed Talbi - der für die Abschaffung der Scharia und einen liberalen Islam plädiert - beeinflusst werden (vgl. Hamadi Redissi: Le Pacte de Nadjd ou comment l'islam sectaire est devenu l'islam, Paris 2007 sowie: La Tragédie de l'islam moderne, Paris 2011; Mohamed Talbi: Plaidoyer pour un islam moderne, Paris 1998). Die Islamisten erzeugen gegenwärtig einen steigenden Moralisierungsdruck. Es ist zu befürchten, dass am Ende der "arabische Frühling" der Bevölkerung nicht mehr Freiheit gebracht hat, sondern der Autoritarismus nur die Farbe wechselte.


Hanspeter Mattes (geb. 1951); Studium der Entwicklungsökonomie und Volkswirtschaft (Diplom-Volkswirt) sowie der Politischen Wissenschaft (Dr. phil.) in Heidelberg, Arabischstudium in Tunesien 1976/77; seither weitere zahlreiche, teils mehrmonatige Forschungsaufenthalte in Nordafrika und den Sahelstaaten; seit 1983 Mitarbeiter am Deutschen Orient-Institut Hamburg. Von 2005 bis 2007 Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des Leibniz-Instituts für Globale und Regionale Studien (GIGA), Berlin. Seit Februar 2007 Stellvertreter des Direktors am GIGA Institut für Nahost-Studien, Hamburg. Umfangreiche Publikationstätigkeit zu Politik und Wirtschaft in Nordafrika.


Verweise:
[1] www.giga-hamburg.de/dl/download.php?d=/content/imes/menastabilisierung/pdf/faath_studieReligionspolitik_volltext.pdf
[2] tunisien-tunisien.blogspot.de/2012/02/mais-qui-est-ce-wajdi-ghunim.html *

Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
66. Jahrgang, Heft 5, Mai 2012, S. 227-231
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. August 2012