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AFRIKA/1199: Somalia im Visier externer Mächte (inamo)


inamo Heft 71 - Berichte & Analysen - Herbst 2012
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Somalia im Visier externer Mächte

Von Volker Matthies



Einen fundierten historischen Rückblick auf die Entwicklungslinien Somalias liefert Volker Matthies. Der Politikwissenschaftler und Professor i.R. skizziert, wie Somalia aufgrund seiner geopolitisch wichtigen Lage am Horn von Afrika in den Interessenfokus und dadurch in Stellvertreterkriege externer Mächte geriet. Seit 1991 sind alle von diesen Mächten bemühten Friedensbestrebungen mehr oder weniger gescheitert. Laut Matthies ist auch 2012 kein Ende des Konflikts in Somalia abzusehen, und zwar aus drei Gründen: Zum einen sei das von Al-Shabaab ausgehende terroristische Potential noch immer vorhanden, zum anderen müsse der Westen sich von seiner klassischen Machtpolitik und reflexartig geäußerten Feindbildern gegenüber dem politischen Islam in Somalia verabschieden. Auf regionaler Ebene müsse jedwede somalische Regierung den Sicherheitsbedürfnissen der Nachbarn Äthiopien und Kenia entgegenkommen.


Für die Analyse der Einwirkung externer Mächte auf die Konfliktdynamik in Somalia sind drei Aspekte von grundlegender Bedeutung:

Zum Ersten war die für außerregionale Mächte wichtigste Ressource Somalias dessen geopolitische Lage am südlichen Ausgang des Roten Meeres, am Golf von Aden und am nordwestlichen Indischen Ozean. In dieser Hinsicht wurde Somalia zum Objekt klassischer internationaler Interessen- und Machtpolitik. Die Attraktivität Somalias für externe Mächte lag also nicht in irgendwelchen wertvollen ökonomischen Ressourcen oder politischen Potenzen im Lande selbst begründet, sondern war eher von abgeleiteter geostrategischer Art (Stützpunkte, maritime Strategien etc.). Doch gab es durchaus auch Schwankungen des geopolitischen Kurswertes Somalias, bedingt durch militärtechnologische Entwicklungen sowie durch Veränderungen in der regionalen und weltpolitischen Konstellation. Hingegen hatte und hat vor allem das Nachbarland Äthiopien sowohl historisch als auch gegenwärtig vitale sicherheitspolitische Interessen an Somalia selbst.

Zum Zweiten unterlag auch die auf Somalia bezogene internationale Aufmerksamkeit konjunkturellen Schwankungen. Der großen geopolitischen Wertschätzung des Landes im Ost-West-Konflikt folgte mit dem Ende dieses Konfliktes und des damit zusammenhängenden geopolitischen Bedeutungsverlustes Somalias seit 1988 eine wachsende internationale Indifferenz, allerdings auch mit bedingt durch die Enttäuschung im Westen über das repressive Barre-Regime sowie durch die Dominanz anderer Krisenregionen (Golfkrieg und Zerfall der UdSSR). Somit wurde der sich ausbreitende somalische Staatszerfall und Bürgerkrieg zwischen 1988 und 1992 kaum zur Kenntnis genommen. Doch im Zusammenhang mit der medial vermittelten Hungersnot, der spektakulären US-Militärintervention und den UN-Missionen stieg die Aufmerksamkeit für die Geschehnisse in Somalia 1992/93 erneut stark an. Mit dem Abzug der USA und dem Ende der UN-Mission 1995 nahm das internationale Interesse an Somalia infolge der Frustration über den Misserfolg jedoch wiederum deutlich ab. Doch seit 2001 und besonders in den Jahren 2006-2007 richtete sich im Kontext des globalen Anti-Terror-Krieges und insbesondere im Zusammenhang mit dem Aufstieg der islamischen Gerichtshöfe und der äthiopischen Militärintervention sowie der nachfolgenden Expansion der radikalislamistischen Al-Shabaab die internationale Aufmerksamkeit von neuem auf die Vorgänge in Somalia, allerdings nicht im Sinne humanitärer Solidarität oder friedenspolitischer Engagements, sondern primär unter der Perspektive möglicher vom Lande ausgehender terroristischer Bedrohungen. Zudem ist mit dem Anwachsen der Piraterie vor Somalias Küsten und der damit einher gehenden Bedrohung einer der weltweit wichtigsten Seehandelsrouten das Land auch unter diesem Aspekt in den Blickwinkel internationaler sicherheitspolitischer Besorgnis gerückt.

Zum Dritten hat es seit 1991 weit über ein Dutzend extern initiierter Versuche zur Friedensstiftung sowie Regierungs- und Staatsbildung in (Süd-) Somalia gegeben, die aber bislang allesamt mehr oder weniger gescheitert sind. Bei diesen Friedensbemühungen kamen fast alle Konzepte, Methoden und Instrumente der Konfliktbearbeitung zum Einsatz, die insbesondere seit dem Ende des Ost-West-Konflikts von den UN und der internationalen Gemeinschaft favorisiert und erprobt wurde: die Militärintervention in Gestalt einer "humanitären Intervention" (UNITAF), die "robuste" UN-Blauhelmmission (UNOSOM II), die diplomatisch-politische Mediation durch dritte Parteien (u.a. durch Äthiopien, Djibouti, Kenia und die UN), die Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen sowie die Aktivierung "traditionaler" Konfliktregelungsmechanismen. Ken Menkhaus zufolge ist Somalia "das Land mit der größten Differenz zwischen dem, was die internationale Gemeinschaft bewirken will, und dem, was sie erreicht" (INFO Konflikte und Friedensarbeit, Nr. 39, Mai 2009, Editorial). Das wiederholte Scheitern internationaler Friedensbemühungen in Somalia ist daher erklärungsbedürftig.


Phasen der Einwirkung externer Akteure auf die Konfliktdynamik in Somalia - territoriale Teilung, Grenzziehung und Politiken in der Kolonialzeit
In dieser Zeit wurden durch die Aufteilung der Somaligebiete (zwischen Äthiopien: Ogaden; Großbritannien: Britisch-Somaliland und nordöstlicher Grenzdistrikt Kenias; Italien: Italienisch-Somaliland; und Frankreich: Französisch-Somaliland/Djibouti), die Grenzziehungen und die unterschiedlichen Kolonialpolitiken Großbritanniens (schwache koloniale Penetration) und Italiens (starke koloniale Penetration) strukturelle Grundlagen für die postkolonialen Konfliktpotentiale (äthiopisch-somalischer Konflikt, Nord-Süd-Gegensatz in Somalia) gelegt.


Kalter Krieg am Horn von Afrika 1963-1988: Somalia im Ost-West-Konflikt
Von 1963 bis 1977 bestand eine Allianz Somalias mit der UdSSR als Gegengewicht gegen die Allianz Äthiopiens mit den USA. Als Entgelt für die Gewährung von Stützpunkten für die Sowjet-Marine erhielt Somalia sowjetische Militär- und Wirtschaftshilfe. Im Zuge der äthiopischen Revolution von 1974 und des äthiopisch-somalischen Ogadenkrieges 1977/78 erfolgte ein abrupter Allianzwechsel der UdSSR von Somalia nach Äthiopien und nachfolgend der USA von Äthiopien nach Somalia. Dabei wurde keine Strategie kooperativer Krisenprävention durch die UdSSR und die USA betrieben; allenfalls kam es zu einem kurzfristigen Krisenmanagement zur Verhütung einer weiteren Eskalation des Krieges. Destruktive Langzeitwirkungen des Kalten Krieges für Somalia waren die Militarisierung der Gesellschaft und die massenhafte Ausbreitung von Handfeuerwaffen durch sowjetische und amerikanische Waffenlieferungen. Durch die Allianz mit den USA in den 1980er Jahren kam es zu einer Stärkung des durch die Niederlage im Ogadenkrieg und den wirtschaftlichen Niedergang geschwächten Barre-Regimes und dessen Repressionspotentials. Insgesamt trugen diese Folgen des Kalten Krieges am Horn von Afrika mit zu der Genese des somalischen Bürgerkriegs und Staatszerfalls bei.


"Missed Opportunities" bei der Konfliktprävention 1988-1991
Womöglich gab es in diesen Jahren verpasste Präventionschancen bei der Verhütung des somalischen Bürgerkriegs und der kriegsbedingten Hungersnot, doch wurden solche Chancen offenbar aus schwindendem geopolitischen Interesse ("strategischer Wertverlust" Somalias nach dem Ende des Kalten Krieges) und einer damit einhergehenden internationalen Indifferenz nicht bzw. nicht ausreichend genutzt. Nach schweren Menschenrechtsverletzungen vor allem im Nordwesten des Landes ging die Patronagemacht USA zwar auf Distanz zum Barre-Regime, doch folgte daraus leider keine konzertierte politische Strategie zur Eindämmung von Gewalt und Staatszerfall. Vielmehr ließen die USA ihren langjährigen Verbündeten gleichsam abrupt "im Stich" und trugen durch die hierdurch bedingte Reduzierung des externen Ressourcenzuflusses an Somalia mit zu der Verschärfung der dortigen Lage bei.


"Operation enttäuschte Hoffnungen": das Scheitern von UN und USA 1992-1995
Im veränderten Kontext der nachbipolaren "Neuen Weltordnung" und des sich anbahnenden "Humanitären Interventionismus" in Kooperation von UN und USA avancierte Somalia nunmehr zu einem Experimentierfeld neuartiger internationaler Konfliktbearbeitungskonzepte, um den dortigen Krieg und die medial stark beachtete Hungersnot einzudämmen. Doch gelang weder der Militärintervention UNITAF ("Operation Neue Hoffnung") noch der "robusten" UN-Mission UNOSOM II eine Entwaffnung der somalischen Gewaltakteure und eine Wiederherstellung funktionaler Staatlichkeit. Es gab keine klare politisch-strategische Vision, die den gesellschaftlichen Verhältnissen in Somalia und der dortigen Konfliktdynamik angemessen war. Vielmehr lag der Schwerpunkt der internationalen Bemühungen unter Zeitdruck auf einem Ausgleich zwischen rivalisierenden Warlords und der Schaffung einer nationalen, gesamtstaatlichen Regierung, die jedoch nicht zustande kam. Die Etablierung einer solchen Regierung galt als wesentliche Erfolgsbedingung für einen respektablen Abzug der UN. Durch ihre politische Aufwertung der Warlords und deren kriegsökonomische Verwertung der internationalen humanitären Hilfe trug die gescheiterte UN-Mission sogar noch zur Verfestigung der Bedingungen für eine Verstetigung des gewaltsamen Konfliktaustrags im Lande bei. So verwandelte sich die "Operation Neue Hoffnung" in eine "Operation Enttäuschte Hoffnung", die wesentlich zur Frustration der internationalen Gemeinschaft gegenüber Somalia beitrug.


Regionalisierung der Konfliktbearbeitung 1996-2004

Nach dem Abzug von USA/UN und vergeblichen Bemühungen der EU im Jahre 1995 engagierten sich nachfolgend ab 1996 im Kontext der Regionalorganisation Intergovernmental Authority on Development (IGAD) und mit Unterstützung der UN verschiedene Regionalstaaten im somalischen Friedensprozess, die dabei jedoch bemüht waren, ihre jeweiligen regionalpolitischen Interessen geltend zu machen: Äthiopien, Djibouti und Kenia. Ende 2004 kam es zur Etablierung einer somalischen Übergangsregierung (TFG), die aber hochgradig von Äthiopien abhängig war, daher in Somalia vielfach als "Marionettenregierung" mit geringer interner Legitimation galt, und der es erst 2006/2007 gelang, im Lande selbst Fuß zu fassen.


Anti-Terror-Krieg am Horn von Afrika: Zerschlagung der Union islamischer Gerichtshöfe 2006-2008

Im Kontext des Anti-Terror-Krieges geriet Somalia seit 2001 in das Visier der USA, die in dem zerfallenen Staat mit seinen kriegsökonomischen Strukturen Rückzugs- und Operationsräume von Al-Qaida vermuteten. Äthiopien avancierte hierbei zu einem strategischen Verbündeten der USA. US-amerikanische Spezialeinheiten durften Stützpunkte auf äthiopischem Territorium entlang der Grenze zu Somalia nutzen und von dort aus operativ tätig werden. Der äthiopische Geheimdienst arbeitete eng mit amerikanischen Diensten zusammen. Zugleich benutzte das äthiopische Regime den Terrorismus-Diskurs, um unliebsame interne bewaffnete Kräfte und unbewaffnete Oppositionsgruppen als "Terroristen" zu diskriminieren und zu bekämpfen. Seit dem Jahre 2003 verschärften sich die Auseinandersetzungen (gezielte Tötungen und Entführungen) zwischen somalischen Islamisten und ihren von Äthiopien und den USA unterstützten Widersachern in Mogadishu. Seit Oktober 2004 konnte geradezu von einem "Schmutzigen Krieg" in der somalischen Hauptstadt gesprochen werden, der sich mit dem Jahre 2005 noch intensivierte. Anfang 2006 versuchten die USA, den wachsenden Einfluss der Scharia-Gerichte im Norden Mogadishus zu konterkarieren, indem sie diesen ein dubioses Bündnis von Kriegsherren entgegenstellten.

Als sich vom Juni bis Dezember 2006 der von großen Teilen der somalischen Bevölkerung begrüßte Aufstieg der "Union Islamischer Gerichtshöfe" (UIG) gegenüber der schwachen und unpopulären Übergangsregierung (TFG) sowie diversen Warlords vollzog, verdichteten sich im Westen diesbezügliche Bedrohungsvorstellungen. Die UIG war ein heterogenes und locker gefügtes Bündnis von Klan-Interessen und religiös-ideologischen Strömungen ohne eine zentrale Organisationsstruktur und Führung, hervorgegangen aus dem Zusammenschluss verschiedener lokaler und regionaler Scharia-Gerichte und deren Milizverbänden. Nach langen Jahren des Krieges brachte die Erstarkung des politischen Islam in Somalia womöglich die Chance einer wachsenden Befriedung und Sicherheit im Lande mit sich, doch wurde diese Chance durch die externe Furcht vor einem "Zweiten Afghanistan" und einer "Talibanisierung" in Somalia zunichte gemacht. Im Dezember 2006 kam es zu einer von den USA und Äthiopien erwünschten Militärintervention dieses Landes in Somalia, die zu einer raschen Zerschlagung der islamischen Gerichtsmilizen führte. Erst im Januar 2009 zogen sich die äthiopischen Interventionstruppen wieder zurück. Doch war mit diesem militärischen Erfolg keineswegs eine nachhaltige Stabilisierung Somalias verbunden. Vielmehr hatte die von den USA aktiv unterstützte äthiopische Intervention die Erstarkung radikaler Islamistengruppen (vor allem Al-Shabaab) sowie einen langwierigen Abnutzungskrieg gegen die äthiopischen Invasoren und die Truppen der somalischen Übergangsregierung zur Folge, verbunden mit einer humanitären Katastrophe vor allem in der Hauptstadt Mogadishu (15-20.000 Kriegstote, Hunderttausende von Flüchtlingen). So erwies sich die Eskalation der Gewaltkonflikte in Somalia als eine äußerst destruktive und kontraproduktive Folgewirkung des Anti-Terror-Krieges der USA und ihrer Verbündeten am Horn von Afrika.


Aufstieg und Niedergang von Al-Shabaab 2008-2012

Seit Juni 2008 vollzog sich unter Vermittlung der UN der erfolgreiche Prozess einer erneuerten Regierungsbildung zwischen der alten Übergangsregierung und moderaten Islamisten. Dieser alt-neuen somalischen (Übergangs-)Regierung stand eine Friedensmission der Afrikanischen Union (AMISOM) mit Truppen aus Uganda und Burundi zur Seite. Dennoch kam es zu keiner Befriedung Südsomalias. Die ehemalige kampfkräftigste Miliz der UIG, Al-Shabaab ("Die Jugend"), die als terroristische Untergrundorganisation die Hauptlast des Widerstandes gegen die äthiopische Besatzung geleistet hatte, erwies sich in den folgenden Jahren als der hartnäckigste und machtvollste Gegner der neuen Regierung und deren Verbündeten innerhalb und außerhalb des Landes. Die Vereinten Nationen, die Afrikanische Union, die Europäische Union und die USA standen auf Seiten der somalischen Übergangsregierung und unterstützten diese durch Finanztransfers sowie militärische Ausrüstungs- und Ausbildungsmaßnahmen. Die USA führten darüber hinaus einen geheimen "Drohnenkrieg" gegen militante somalische Islamisten.

Al-Shabaab als radikalster Vertreter des politischen Islam in Somalia war gut organisiert, schulte ihre Kämpfer militärisch und ideologisch, verfügte über ein Unterstützungsumfeld in der Diaspora, hatte wohl auch gewisse Verbindungen zum globalen Jihadismus, was sich nicht zuletzt in der Rekrutierung etlicher ausländischer "Gotteskrieger" manifestierte. Ideologisch war sie jedoch durchaus nicht homogen, da in ihr zwei Grundströmungen wetteiferten: eine global orientierte jihadistische und eine eher nationale, pan-somalische. Al-Shabaab konnte vor allem in den Jahren 2009 und 2010 die Kontrolle über weite Teile Zentral- und vor allem Südsomalias (einschließlich der Hauptstadt Mogadishu) erlangen und dort regierungsähnliche Funktionen ausüben. Mit repressiven Maßnahmen sorgte sie für Ordnung und bekämpfte kriminelle Machenschaften. In manchen Regionen wurde der Vormarsch von Al-Shabaab von der lokalen Bevölkerung sogar erwünscht und begrüßt. Der Erfolg von Al-Shabaab gründete sich vor allem auf folgende Faktoren: ihre Popularität als Widerstandskämpfer gegen die äthiopischen Okkupanten und die korrupte, ineffektive und weithin unbeliebte alt-neue Übergangsregierung (TFG), die sich in den Augen vieler Somali zu sehr an Äthiopien und den Westen band; die Attraktivität ihrer islamistischen Ideologie für eine in langen Zeiten des Krieges orientierungslos gewordene Jugend in Somalia und auch in der Diaspora; ferner ihre finanziellen Anreize für die Rekrutierung junger Männer, die als Kämpfer für somalische Verhältnisse sehr gut bezahlt wurden; schließlich ihre Fähigkeit, in den von ihr beherrschten Gebieten für Ruhe und Ordnung zu sorgen, wenngleich auch oft durch brutale Repression.

Doch seit August 2011 begann der Stern von Al-Shabaab zu sinken, als sie sich einer Gegenoffensive von Regierungstruppen der TFG und der AMISOM beugen und sich aus Mogadishu zurückziehen musste. Zudem hatte sie sich durch ihre restriktive Haltung in der sich zuspitzenden Hungerkatastrophe viele Sympathien in der Bevölkerung verscherzt. Der militärische Druck ihrer Gegner hielt auch nachfolgend weiter an und verschärfte sich noch, sodass Al-Shabaab weitere Rückschläge hinnehmen und viele ihrer Positionen räumen musste.


Piratenjagd vor Somalias Küsten 2008-2012

Zeitgleich mit der Bildung der neuen Übergangsregierung und der sich verschärfenden Konfrontation zwischen dieser und den radikalen Islamisten kam es zu einem spektakulären Boom der Piraterie vor Somalias Küsten, besonders in Nordost- und Zentralsomalia (Puntland und Galmudug). Hierdurch avancierte das Horn von Afrika wiederum zu einem "Hot Spot" der Weltpolitik. Ursprünglich entstand die Piraterie als spontaner Widerstand somalischer Fischer gegen fremde "Fischpiraten" in ihren Gewässern. Seit der Auflösung des somalischen Staates im Jahre 1991 drangen immer wieder Raubfischer in dessen ungeschützte Küstengewässer ein und plünderten die dortigen Fischbestände. Zudem kam es auch wiederholt zur illegalen Verklappung von Giftmüll an den Küsten Somalias. Aus ersten Akten des Widerstandes und der Selbsthilfe gegen solche Aktionen entwickelte sich die Piraterie nachfolgend zu einem einträglichen professionellen Gewerbe, von dem durchaus auch Teile der somalischen Bevölkerung profitierten. Das Geschäftsmodell der somalischen Piraten bestand in einem "maritimen Kidnapping" zur Erzielung von Lösegeldern für Schiffe und Mannschaften. Seit dem Jahre 2008 wurde die Piraterie vor Somalia zu einer ernsten Bedrohung der Schifffahrt in einem weltwirtschaftlich und sicherheitspolitisch hochsensiblen Seegebiet. Denn hier finden sich mit dem Suezkanal, dem Ausgang des Roten Meeres, dem Golf von Aden und dem nordwestlichen Indischen Ozean die Seewege zwischen Europa, dem Mittleren Osten und Ostasien, auf denen ein erheblicher Teil des Welthandels (einschließlich des Rohölhandels) abgewickelt wird. Darüber hinaus sind etliche der Anrainerstaaten politisch instabil sowie in innere und äußere Konflikte verstrickt. Durch den Einsatz von "Mutterschiffen" konnten die Piraten ihren Aktionsradius weit auf die Hohe See in den Indischen Ozean ausdehnen.

Mit der Resolution 1816/2008 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 2. Mai 2008 wurden die Küsten Somalias gleichsam zur Piratenjagd freigegeben. In Reaktion auf die Eskalation der Piraterie kam es zu einem wachsenden Einsatz von "Seesöldnern" auf Handelsschiffen sowie zu einem gewaltigen Flottenaufmarsch diverser Kriegsmarinen (u.a. der NATO, der EU, Russlands, Indiens und der VR China) im Golf von Aden und im Indischen Ozean, ohne dass es seither gelang, die somalische Piraterie mittels dieser "Kanonenbootdiplomatie" nachhaltig einzudämmen. Die Piraterie ist letztlich Folge und Symptom des Staatszerfalls und langjährigen Bürgerkrieges in Somalia und der dadurch bedingten Plünderung der natürlichen Ressourcen des Landes durch einheimische Gewaltakteure und deren ausländische Komplizen. Daher wird ein Ende der Piraterie wohl nur über eine Befriedung Somalias und eine Verbesserung der Lebensverhältnisse für seine Bevölkerung zu erreichen sein.


Konfliktbearbeitung durch externe Akteure

Wesentliche Gründe des wiederholten Scheiterns diverser externer Friedensbemühungen in Somalia waren:

1. die Bevorzugung von Warlords und bewaffneten Gruppierungen zu Lasten der nicht bewaffneten somalischen Bevölkerung und Zivilgesellschaft (Klangruppen und Klanälteste, Nichtregierungsorganisationen, Geschäftswelt, islamische Geistlichkeit und Wohlfahrtseinrichtungen, Diaspora etc.) und nicht-staatlicher, alternativer Ordnungssysteme. Hierdurch wurden immer wieder Chancen einer friedlichen Konfliktbearbeitung durch zivilgesellschaftliche Akteure und alternative Ordnungsstrukturen nicht oder nicht ausreichend wahrgenommen.

2. die divergierenden Interessen wichtiger Regionalstaaten (u.a. Äthiopien, Djibouti, Eritrea, Kenia), die viele Jahre lang die Konflikte in Somalia eher geschürt als gedämpft, Rivalitäten ausgenutzt, hegemoniale Absichten gehegt und eigene sicherheitspolitische Ziele verfolgt haben. Hierdurch kam es immer wieder zu einer Destabilisierung Somalias und zur Blockierung von Friedensprozessen.

3. die konzeptionell-strategischen Fehleinschätzungen und unangemessenen Verhaltensweisen westlicher Staaten und internationaler Organisationen, die, orientiert am Idealtypus westlicher Staatlichkeit, durchgängig auf das unrealistische Ziel einer Rekonstruktion von formaler Gesamt- und Zentralstaatlichkeit in Somalia fixiert waren. Dabei haben diese Akteure weder den Unterschied zwischen "Staatsbildung" und einer "Öffentlichen Ordnung" erkannt noch alternative Ordnungsmodelle jenseits überkommener Staatlichkeit (informelle, jedoch in unterschiedlichen Graden legitime und effektive lokale/regionale Herrschafts-, Ordnungs- und Sicherheitssysteme) angemessen gewürdigt. Dies waren und sind beispielsweise parastaatliche Gebilde wie Somaliland (seit 1991) und Puntland (seit 1998) in Nordsomalia, Scharia-Gerichtshöfe, diverse regionale Administrationen (wie z.B. der 2006 formierte "Galmudug-Staat") und traditionelle Autoritäten sowie Gewaltordnungen von Kriegsherren, (Clan-)Milizen und islamistischen Kampfverbänden in zentralen und südlichen Regionen Somalias. Vor allem das Beispiel der völkerrechtlich bis heute nicht anerkannten "Republik Somaliland" hat eindrucksvoll gezeigt, dass die Somali sehr wohl in der Lage sind, sich auf demokratische, effektive und friedliche Weise selbst zu regieren. Eine überwölbende "Staatlichkeit" könnte in Somalia wohl nur in Gestalt eines sehr "schlanken Staates" formiert werden, der viele Staatsfunktionen vorerst lokalen und regionalen Governance-Strukturen überlassen würde, wie es ja faktisch schon seit vielen Jahren der Fall ist.


Ausblick

Auf Sicht zeichnet sich noch kein Ende des Krieges in Somalia ab. Zwar haben der Abzug von Al-Shabaab aus Mogadishu und die nachfolgenden militärischen Erfolge der somalischen Armee im Verein mit den AMISOM-Truppen (vor allem aus Uganda und Burundi) sowie mit Interventionskräften aus Äthiopien und Kenia die Sicherheitslage in der Hauptstadt und in anderen Regionen (Süd-) Somalias entspannt und eine Normalisierung der Lebensverhältnisse ermöglicht, doch beherrscht Al- Shabaab noch immer Teile der ländlichen Regionen und ist weiterhin fähig, auch in den Städten terroristische Gewaltakte durchzuführen. Die aktuell anstehende Formierung einer neuen somalischen Regierung (im Süden des Landes) eröffnet unter diesen Rahmenbedingungen zumindest die Chance auf einen neuerlichen Friedensprozess. Dies muss jedoch ein inklusiver Prozess sein, der eine breite Akzeptanz unter den somalischen Konfliktparteien sowie in der somalischen Bevölkerung und Zivilgesellschaft findet.

Zur Ermöglichung eines eigenständigen Aussöhnungs- und Friedensprozesses in Somalia müssten die externen Mächte eine Abkehr von ihrer klassischen, militärisch gestützten Einmischungs-, Interessen- und Machtpolitik vornehmen sowie sich von undifferenzierten, alarmistischen Bedrohungsvorstellungen und Feindbildern hinsichtlich des politischen Islam in diesem Lande verabschieden. Namentlich die USA haben dessen Aufkommen eher als eine sicherheitspolitische und terroristische Bedrohung für sich selbst denn als eine friedenspolitische Chance für die Somali wahrgenommen und dementsprechend mit einer kontraproduktiven Militärlogik darauf reagiert. Dadurch stärkten sie gerade diejenigen politischen Kräfte, deren Aufstieg sie eigentlich hatten verhindern wollen.

Auf der regionalen Ebene müsste das Muster wechselseitiger Einmischungspolitik und die Logik der Stellvertreterkriege durchbrochen werden. Von zentraler Bedeutung hierfür bleibt eine friedliche Beilegung des schon lange schwelenden (Grenz-)Konflikts zwischen Äthiopien und Eritrea. Im Hinblick auf berechtigte Sicherheitsinteressen Äthiopiens im Ogadengebiet und Kenias in seinem Grenzgebiet zu Somalia muss jedwede somalische Regierung diesen Interessen entgegenkommen, um einen friedensverträglichen Modus Vivendi mit den Nachbarländern auszuhandeln.


Volker Matthies, Prof. i.R., Politikwissenschaftler, Schwerpunkt Friedens- und Konfliktforschung, regionale Spezialisierung auf das Horn von Afrika.

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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 71, Herbst 2012

Gastkommentar:
- Somalia am Scheideweg? Von Markus V. Hoehne

Somalia:
- Sozialstruktur und Konfliktverhalten unter Somali. Von Thomas Zitelmann
- Jenseits des Staates. Von Markus V. Hoehne
- Somalia im Visier externer Mächte. Von Volker Matthies
- Al-Shabaab am Wendepunkt? Von Roland Marchal
- Drogen und Krieg: Die Bedeutung von Qaat im somalischen Kriegsgeschehen. Von Jutta Bakonyi
- Zwischen Marginalisierung und Integration - somalische Flüchtlinge in Kenia. Von Tabea Scharrer
- Soziale Ursachen der Piraterie. Von Ralph Klein
- Wechselwirkung: Herrschaft und private Sicherheit. Von Stig Jarle Hansen und Stein M. Wilmann
- Glorreiche Halunken oder Abgehängte der Welt? Der Hamburger Piratenprozess. Von Anke Schwarzer

Ägypten:
- Ägyptens zweite Präsidentenwahl. Von Florian Kohstall

Iran:
- Der "Schiitische Halbmond": (K)eine reale Bedrohung sunnitischer Macht?! Von Henning Schmidt

Israel/Palästina:
- Ein Immigrant in seinem eigenen Land. Von Sami Michael
- Der Antisemitismus, über den man nicht berichtet. Von Amira Hass
- Gegen den Prawer-Plan. Von Adalah

Libanon:
- Präzedenzfall STL. Von Jörg Tiedjen
- Hizbullah ohne Syrien. Von As'ad Abu Khalil

Syrien:
- Flucht aus Syrien. Von Susanne Schmelter
- Syrische Opposition: Who's doing the talking? Von Charlie Skelton
- Die Zerstörung Syriens. Von Patrick Seale
- FSA - Wie man die Unterstützung verliert. Von Rita

Sudan:
- Sudan und Südsudan: Vereint in der Trennung. Von Roman Deckert und Tobias Simon

Wirtschaftskommentar:
- Ein Megaprojekt für Ostafrika - "Das Erdöl fließt nun mal nach Norden". Von Ruedi Küng

Zeitensprung:
- 1. Juli 2009: Der Mord an Marwa el-Sherbiny in Dresden. Von Dagmar Schatz

Kritik & Meinung:
- Alexander Flores zu Thomas Bauer: Kultur der Ambiguität | Thomas Ruttig zu Afghanistan-Literatur

Nachrichten//Ticker

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Quelle:
INAMO Nr. 71, Jahrgang 18, Herbst 2012, Seite 17 - 21
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Mai 2013