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AFRIKA/1347: Marokko - Der Sommer des Palasts (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 148/Juni 2015
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Der Sommer des Palasts

Marokkos Monarchie erstickt die Demokratie mit Reformen

von Ilyas Saliba


Kurz gefasst: Ein Reformprozess führte 2011 in Marokko zu einer neuen Verfassung, über die in einem Referendum abgestimmt wurde. Beide Ereignisse können als direkte Reaktion auf die Proteste und Auseinandersetzungen in dem Königreich im Frühling 2011 verstanden werden. Doch kennzeichnen Reform und Wahl einen Wandel hin zu echter Partizipation und einer demokratisch kontrollierten konstitutionellen Monarchie? Welche Außenpolitik der europäischen Regierungen kann Marokko in einem Prozess des Übergangs zur Demokratie unterstützen?


Die damalige EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton erklärte am 6. Juli 2011: "Die vorgeschlagenen Reformen sind eine wichtige Antwort auf die legitimen Wünsche des marokkanischen Volkes." Dieses Statement vermittelt die positive Wahrnehmung der politischen Ereignisse in Marokko während der arabischen Aufstände im Jahr 2011 durch europäische Regierungen und Politiker. Doch markieren die Reformen wirklich einen Wandel hin zu einer gezähmten, konstitutionellen Monarchie? Und wie sollte eine Außenpolitik der europäischen Regierungen gegenüber Marokko aussehen, die einen Übergang zur Demokratie unterstützt?

Die Politik im alaouitischen Königreich wird weiterhin vom Palast dominiert. Ob man das heutige Marokko nun eine "defekte Demokratie" oder eine "Monarchie mit demokratischen Elementen" nennt - das Jahr 2011 war bemerkenswert. Das Königreich erlebte konstitutionelle Reformen, die das Resultat eines anscheinend demokratischen Prozesses aus Konsultationen und Partizipation und eines daran anschließenden Verfassungsreferendums waren. Diese Ereignisse sind in der Ära von König Mohammed VI. beispiellos. Die Konsultationen und das Referendum können als direkte Reaktion auf die umfangreichen Proteste im ganzen Königreich im Frühling 2011 verstanden werden.

Die von den arabischen Aufständen in Tunesien und Ägypten inspirierte "Bewegung des 20. Februar" war in der Lage, unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen zu mobilisieren und die größten Demonstrationen der vergangenen mindestens zehn Jahre in Marokko zu organisieren. Die heterogenen Gruppen und Personen, die sich unter dem Schirm der "Bewegung des 20. Februar" versammelten, verband einzig ihre Kritik an den repressiven und korrupten autokratischen Praktiken im Königreich. Die Reaktion des Palasts darauf war bemerkenswert rasch und effektiv.

König Mohammed VI. leitete den Prozess der Verfassungsreform ein und legte am 9. März 2011 in einer Grundsatzrede die Ziele und Leitlinien fest. Es gab jedoch kein gewähltes Gremium wie etwa eine verfassungsgebende Versammlung, das einen Entwurf ausarbeitete und die neue Verfassung hätte diskutieren können. Stattdessen setzte der König eine Kommission zur Revision der Verfassung ein. Abdellatif Menouni, ein enger Berater des Königs, leitete diese Kommission, so dass der Palast jederzeit die Kontrolle über das Verfahren behielt. Ein neu etabliertes beratendes Gremium mit dem Namen mécanisme de suivi sollte das Interesse des Königshauses an einem inklusiven und partizipatorischen Ansatz signalisieren. Das Gremium initiierte Anhörungen mit politischen und gesellschaftlichen Akteuren, in denen diese ihre Forderungen im Zusammenhang mit der Revision der Verfassung äußern konnten. Die meisten etablierten politischen Parteien, Gewerkschaften, Unternehmensverbände und Nichtregierungsorganisationen nahmen an diesen Anhörungen teil. Einige entscheidende Organisationen, darunter die wichtigste Gewerkschaft des Landes, die Confédération démocratique du travail, sowie drei linksgerichtete Parteien boykottierten die Anhörungen jedoch und kritisierten den Mangel an Glaubwürdigkeit wegen der Zusammensetzung der Kommission und die fehlende Transparenz bei den Entscheidungsverfahren. Auch die "Bewegung des 20. Februar" nahm aus den gleichen Gründen nicht an den Anhörungen des beratenden Gremiums teil.

Manche der partizipierenden Gruppen reichten Vorschläge für den neuen Verfassungstext ein. Ein formelles Verfahren, wie diese Vorschläge zu debattieren oder in die eigentliche Arbeit des Komitees einzubringen wären, gab es jedoch nicht. Vielmehr war die Diskussion der Beiträge und der Endfassung der Verfassung ausschließlich auf die vom König eingesetzte Kommission beschränkt. Weder das Parlament noch die Öffentlichkeit waren an einem Diskurs über die neue Verfassung formal beteiligt. Am 16. Juni wurde den Organisationen, die am mécanisme de suivi teilnahmen, ein schriftlicher Entwurf der Verfassung ausgehändigt - nur einen Tag, bevor die zweite wichtige Rede von König Mohammed VI. im Fernsehen ausgestrahlt wurde; zwei Wochen später stimmte das marokkanische Volk in einem Referendum mit einem einfachen Ja- oder Nein-Votum über die Verfassung ab. Diese kurze Zeitspanne zwischen der ersten Veröffentlichung des Entwurfs und dem Referendum verhinderte eine umfangreiche öffentliche Debatte über die Verfassung. Es wurde kein Forum für eine offene Diskussion eingerichtet. Es gab keine Möglichkeit, Änderungen des Verfassungstextes vorzuschlagen.

Das Referendum ergab eine eindeutige Mehrheit von 98,5 Prozent Jastimmen für die neue Verfassung gegen lediglich 1,5 Prozent Neinstimmen. Doch diese Zahlen sagen längst nicht alles. Von den ca. 35 Millionen Bürgern Marokkos sind fast 20 Millionen wahlberechtigt. Doch nur 13,4 Millionen Menschen registrierten sich für die Wahl, und nur 9,8 Millionen wählten auch tatsächlich. Dies bedeutet letztendlich, dass die Wahlbeteiligung unter den Wahlberechtigten nicht einmal 50 Prozent betrug. Das Königshaus erklärte, der konstitutionelle Reformprozess sei inklusiv und partizipatorisch verlaufen, obwohl er keine ernsthafte Debatte möglich gemacht und demokratische Standards verletzt hatte.


Bloße Kosmetik? Die Verfassung von 2011

Die neue Verfassung führte mehrere Veränderungen ein. Zunächst einmal wird der König nicht mehr als "heilig" bezeichnet. Seine Rolle als Führer der Gläubigen und seine Fähigkeit, in dieser religiösen Funktion die Politik zu beeinflussen, bleiben allerdings unangetastet. Nach wie vor kann öffentliche Kritik an den Handlungen des Königs zur Inhaftierung führen.

Die neue Verfassung garantiert umfangreiche Menschenrechte und fundamentale Freiheiten. Dies ist ganz sicher ein Schritt vorwärts. Andererseits werden einige der garantierten Rechte und Freiheiten durch andere konstitutionelle Prinzipien wie das Verbot von "Blasphemie" oder die Kriminalisierung "unkonventioneller" Beziehungen eingeschränkt.

Den Premierminister ernennt der König nun aus der stärksten Partei im Parlament. Außerdem schafft die Verfassung eine doppelte Kabinettstruktur: Der Regierungsrat wird vom Regierungschef geleitet, der Ministerrat vom König. Beide Exekutivorgane bestehen aus den Ministern und dem Premierminister.

Der Ministerrat unter Vorsitz des Königs hat jedoch das Vetorecht über alle Entscheidungen des Regierungsrats. Vielfältige Kontrollmechanismen und Vetorechte verstärken ein intransparentes System der exekutiven Entscheidungsfindung, in dem der König letztlich die Vetomacht über praktisch alle Entscheidungen des Premierministers und seiner gewählten Regierung besitzt.

Unter der neuen Verfassung hat das Parlament stärkere legislative Befugnisse erhalten und kann nun Gesetze zu mehr politischen Themen verabschieden als zuvor. Doch wichtige Politikbereiche wie Außen- und Sicherheitspolitik oder religiöse Angelegenheiten sind Domäne des Palasts und bleiben weiterhin von der parlamentarischen Kontrolle ausgenommen. Zudem kann der König das Parlament auflösen, vorausgesetzt, er informiert den Premierminister und den Präsidenten des Verfassungsgerichts. Die neue Verfassung garantiert auch die Unabhängigkeit der Justiz, die aber paradoxerweise unter Aufsicht des Königs steht.

Zusammengefasst bietet die neue Verfassung nur sehr begrenzte Verbesserungen, was demokratische Standards betrifft. Der Palast kontrolliert noch immer alle bedeutenden politischen Entscheidungen. Die Macht der Krone wurde durch die neue Verfassung kaum eingeschränkt. Es existieren weiterhin keine effektiven Kontrollmechanismen oder Gegenspieler, die die Macht des Palasts ernsthaft einschränken.


Stabilität kostet einen hohen Preis

Viele, die sich mit den Entwicklungen nach dem Arabischen Frühling in den Nachbarländern beschäftigt haben, brachten die Sorge zum Ausdruck, dass grundlegendere Veränderungen im politischen System zu Instabilität führen und dem Anstieg von Extremismus Vorschub leisten könnten. Das Bedürfnis nach Stabilität und Sicherheit in einer im Umbruch begriffenen Region kann ein starker Anreiz dafür sein, sich mit kleinen Zugeständnissen zu begnügen und von Forderungen nach substanzielleren Veränderungen abzusehen.

Im konstitutionellen Reformprozess wurde es versäumt, fundamentale demokratische Standards einzuhalten. Die neue Verfassung hat die Machtverteilung im Königreich nicht verändert. Formell demokratische Institutionen wie die Regierung, das Parlament und die politischen Parteien unterliegen weiterhin der strengen Kontrolle durch eine parallele Regierungsstruktur, die vom Palast dominiert wird. Der Gewinner der Parlamentswahlen von 2011, die islamische "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (PJD), hat seitdem jedoch offener als andere politische Parteien zuvor auf die Eingriffe des Palasts in die Politik aufmerksam gemacht. Dies rückt die Rolle des Königs stärker in das Licht der Öffentlichkeit.

Demnach ist die Monarchie scheinbar gestärkt aus den Unruhen im Jahr 2011 hervorgegangen. Die politische Opposition ist gegenwärtig zwar geschwächt, doch ein erneutes Aufkommen von Protesten in der Zukunft kann auf keinen Fall ausgeschlossen werden. Nicht zuletzt deshalb, weil die neue Verfassung und der Prozess ihrer Entstehung offenkundig die meisten Forderungen der Protestierenden 2011 nach einem demokratischeren Marokko nicht erfüllt haben.

Eine kritische Bewertung des konstitutionellen Reformprozesses sollte abseits der geopolitischen Großwetterlage zu einer progressiveren und zielgerichteteren Außenpolitik gegenüber dem Königreich führen. Autokratie unter dem Deckmantel von Stabilität ist nicht nur ungerecht und unmenschlich, sondern langfristig auch unhaltbar. Wie die arabischen Aufstände 2011 offengelegt haben, schaffen die autokratischen Regime in der arabischen Welt nur eine oberflächliche Stabilität. Eine ernsthafte Demokratisierung aber ist der einzige Weg, langfristig Stabilität zu schaffen und zugleich die Sorgen der entrechteten und unterdrückten Bevölkerung aufzugreifen. Dies trifft für die gesamte Region zu, auch für die vom Westen favorisierten Regime wie das Königreich Marokko.

Angesichts der anhaltenden Schwächen der neuen Verfassung sollte die verbreitete Wahrnehmung eines Modellcharakters Marokkos für die Region korrigiert werden. Anstatt König Mohammed VI. für seinen pseudodemokratischen Reformprozess zu loben, sollten die europäischen Regierungen und die EU in einen kritischeren Dialog mit ihren marokkanischen Gegenübern eintreten. Um europäischen Forderungen nach Demokratisierung Nachdruck zu verleihen, sollten die Mitgliedsstaaten der EU offen über die Rücknahme etablierter wirtschaftlicher Privilegien Marokkos und die Beschränkung des Zugangs zum europäischen Markt diskutieren.

Die marokkanischen Institutionen, die das größte Potenzial haben, innerhalb des existierenden politischen Systems eine Veränderung herbeizuführen, sind das Parlament, die politischen Parteien und das Gerichtswesen. Diese Institutionen sollten bei der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in den Fokus rücken.

Schließlich sollten oppositionelle Organisationen wie palastkritische politische Parteien, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen, die den konstitutionellen Reformprozess kritisiert haben, unterstützt werden. Die demokratischen Kräfte im Land sollten durch eine aktive Zivilgesellschaft und die Förderung von Austausch mit ähnlichen Akteuren in anderen Ländern im südlichen Mittelmeerraum und in "Europa" gestärkt werden.


Ilyas Saliba ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am WZB und Program Associate im "Europe In The World"-Programm des Robert Schuman Centre for Advanced Studies am European University Institute in Florenz. Er forscht zu Transitionsprozessen und autoritären Regimen in der arabischen Welt.
ilyas.saliba@wzb.eu


Literatur

Benchemsi, Ahmed: "Morocco: Outfoxing the Opposition". In: Journal of Democracy, 2012, Vol. 23, No. 1, pp. 57-69.

Biagi, Francesco: The 2011 Constitutional Reform in Morocco: More Flaws Than Merits. Jean Monnet Occasional Paper No. 07/2014.

Madani, Mohammed / Maghraoui, Driss / Zerhouni, Saloua: "The 2011 Moroccan Constitution: A Critical Analysis". Stockholm: International Institute for Democracy and Electoral Assistance 2012.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 148, Juni 2015, Seite 30 - 33
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Oktober 2015

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