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ASIEN/608: Sri Lanka - Ein verlorenes Land (medico international)


medico international - rundschreiben 01/10

Ein verlorenes Land

Von einer Reise durch den Norden Sri Lankas im Jahr Eins nach dem Krieg.

Von Thomas Seibert


Hält man sich nur an Namen und Titel, könnte "Manik Farm" - offiziell als "Welfare Camp" bezeichnet - für ein ländliches Entwicklungsprojekt stehen. Tatsächlich ist Manik Farm ein weites, staubiges, stacheldrahtgesichertes Areal ausgebreitet unter wolkenlosem Himmel und sengender Sonne, einer der furchtbarsten Orte der Welt. Tagsüber ist es hier so gut wie nie unter 30 Grad heiß und nachts nur wenig kühler. Fällt doch einmal Regen, verwandelt sich das Gelände im Nu in Matsch, ergießen sich Kot und Urin aus den Sickergruben rund um die wenigen Toiletten zwischen den endlosen Reihen der längst zerfledderten Plastikzelte. Zum Glück - so muss man wohl sagen - wurden mittlerweile zwischen den Wegen Gräben ausgehoben, die das Wasser in stinkende Kanäle entlang der Hauptachsen des Geländes abführen. Dort stehen auch die Masten, die das Flutlicht tragen, das nachts über das Lager strahlt, und die Lautsprecher, über die der Insasse Soundso zur Kommandantur bestellt wird.

Eingerichtet nach dem Ende des srilankischen Bürgerkriegs im März 2009, lebten hier bis zum November 300.000 Vertriebene aus dem früher von der tamilischen Guerilla LTTE kontrollierten Gebiet im Norden Sri Lankas. Heute leben hier noch bis zu 90.000 Männer, Frauen, Alte, Kinder. Einige von ihnen treffen wir auf dem Rundgang durch die wohl schlimmste "Zone" des Lagers. Ihre Kleidung ist längst abgetragen, staubig wie alles hier, sie selbst sind bis auf die Knochen abgemagert, gezeichnet von der gnadenlosen Hitze. Nach nun schon einem Jahr. Uns begleiten Kollegen unserer tamilischen Partnerorganisation SEED, die wir seit dem Tsunami 2004 kennen. Damals schon erklärten sie uns, dass man den Tsunami-Überlebenden nur helfen könne, wenn man die Opfer des Krieges nicht vergäße. In den SEED-Siedlungen, die wir dann unterstützten, fanden beide Platz; der Krieg hat später auch sie zerstört. In Manik Farm haben die Kollegen Nothilfe geleistet, anfangs in 12-Stunden-Einsätzen. Heute betreuen sie dort Kinder mit Behinderungen, organisieren psychosozialen Beistand.


Wehe den Besiegten

Kern des Elends bleibt - jenseits der Hitze, des Staubs, der Enge, der Unterversorgung an schlicht Allem, jenseits auch der unmittelbar gewaltsamen Missachtung - das tagtägliche Nichtstun seit einem Jahr, und das Nichtwissen vom eigenen Zuhause, den Zurückgebliebenen, von dem, was "draußen" geschieht. Die Frauen zeigen uns Fotos ihrer "verschwundenen" Männer und Söhne, verletzt, gefangen, hoffentlich nicht getötet. Sie fragen uns, warum sie immer nur Reis, Linsen, Mehl, Öl und Salz bekommen, warum die NGOs kein "complementary food" liefern, Gewürze, Gemüse, Obst, irgendwas, das der Pampe, die sie essen müssen, wenigstens die Andeutung eines Geschmacks verleihen, sie mit Nährstoffen anreichern würde. Als wir sagen, dies geschehe, um Druck auf die Regierung auszuüben, das Lager so schnell wie möglich aufzulösen, antworten sie wörtlich, dass sie das politisch verstünden und richtig fänden, doch trotzdem auch daran litten. Deutlicher kaum ist auf den Punkt zu bringen, was das Dilemma von Hilfe ausmacht, einerseits unmittelbar der Not abzuhelfen, andererseits den Bedingungen zu widerstreiten, die solche Not erst hervorbringen.


Ein dreissigjähriger Krieg

Seit Ende der Kolonialherrschaft 1948 wurde Sri Lanka von der singhalesisch-buddhistischen Mehrheitsgesellschaft dominiert, waren die Tamilen des Nordens wie die ebenfalls tamilischen Plantagenarbeiter und -arbeiterinnen des zentralen Hochlands, aber auch Moslems und Christen Bürger und Bürgerinnen zweiter Klasse. Zu ersten größeren Unruhen kam es in den 1950er Jahren, verstärkt nach der Öffnung zum Weltmarkt ab 1977, mit der sich die soziale Situation im ganzen Land erheblich verschlechterte und es auch im singhalesischen Süden zu Aufständen kam. Im bewaffneten tamilischen Widerstand wurden die autoritären Liberation Tiger of Tamil Eelam (LTTE) zur stärksten Kraft; im Auf und Ab des Krieges kontrollierten sie zuletzt den größten Teil des Nordens und Ostens. Nach dem beiderseits aufgekündigten Waffenstillstand von 2002 gelang es der Armee durch bis dahin unerhörten Materialeinsatz, die Rebellen vollständig zu besiegen; die LTTE existiert heute nicht mehr. medico kam nach den Tsunami 2004 nach Sri Lanka, unterstützte neben Rück- und Wiederansiedlungsprojekten im Norden bald auch Menschenrechts- und Friedensaktivistinnen.


Die Dauer des Nachkriegs

Zum Jahreswechsel wurden in zwei Schüben über 200.000 Insassen Manik Farms entlassen. Genauer: Mit Unterstützung der "International Organisation for Migration" (IOM) busladungsweise weggekarrt und dort abgeladen, wo sie angegeben hatten, Verwandte zu haben. Zur Menge der derart "Rückgesiedelten" gehören auch die Entlassenen anderer, zum Teil sehr viel älterer Lager. Zum "Start bei Null" erhielten alle etwas Geld. Neues Geld, das der srilankische Präsident Rajapakse drucken ließ, um den Triumph über die Tamilen zu feiern: auf der einen Seite singhalesische Soldaten, auf der anderen Seite sein Konterfei.

Von "Rücksiedlung" ist die Rede, weil in dreißig Kriegsjahren nahezu alle, die im Norden leben, wenigstens einmal vertrieben wurden, wenigstens einmal schon neu anfangen mussten. Was das konkret heißt, sehen wir im Bezirk Manthai-West, einst ein Kernland der LTTE. Die singhalesische Armee hatte die Guerilla, und mit ihr die Zivilbevölkerung dort, Zug um Zug eingekreist und buchstäblich zusammengeschossen, trieb die überlebenden Guerillas samt der Zivilistinnen und Zivilisten dann vor sich her bis an die Ostküste, bei Mullaithivu. Dort schloss sie 300.000 Menschen auf einem Streifen von 10 auf 2 Kilometern ein, wobei die Guerilla ihrerseits die Leute gewaltsam an der Flucht hinderte. Die letzte Gruppe der Rebellen starb bei einem aussichtslosen Ausbruchsversuch; wer überlebte, kam nach Manik Farm.

Heute sieht man die Brutalität des Krieges daran, dass im tamilischen Kernland nicht ein Haus unbeschädigt blieb, jede Ruine von Einschusslöchern übersät ist. Zwischen den zerstörten Ansiedlungen weidet herrenloses Vieh. Übriggebliebene und "Rücksiedler" bessern die Ruinen mit Holz und Plastik aus, brechen dazu aus anderen Ruinen die Tür- und Fensterstürze, die Steckdosen heraus. Die Regierung repariert die Wege und Straßen, die braucht das Militär für den Nachkrieg. Soldaten finden sich überall, wo Leute wieder zu wohnen versuchen. Minen und nichtexplodierte Geschosse werden geräumt, NGOs leisten "Mine Risk Education", dennoch streifen die Leute durchs nichtgeräumte Gelände, zum Feuerholzsammeln, um ihr Vieh zu suchen. "Wir gehen täglich in die Dörfer und die Lager, sprechen mit den Erwachsenen, den Kindern, leisten Aufklärung auch mit Liedern, mit Tafeln, auf denen Bilder zeigen, was zu tun und was zu lassen ist", sagt uns der tamilische Kollege, mit dem wir durchs Land fahren, "doch nicht alle hören zu, die Not ist groß".


Am Beginn einer anderen Geschichte

Bis jetzt heißt "Rücksiedlung": Von einem Lager ins nächste kommen. In ein Dorf zurückkehren, in dessen Ruinen andere leben. Mit 10 anderen Familien auf dem Gartengrundstück eines Verwandten in der Stadt zelten. Für ungezählte Jüngere heißt "Rücksiedlung", ganz allein zurechtkommen müssen in Vavuniya, Mannar oder Jaffna. Man erzählt uns von Jugendbanden, von der zunehmenden Prostitution junger Frauen. Gänzlich verweigert wird "Rücksiedlung", wird überhaupt jedes Recht den Tausenden Insassen der sog. "Rehabilitation Camps", denen vorgehalten wird, aus freien Stücken für die LTTE gekämpft zu haben: Wo und bei wem sollen "Terroristen" worüber Beschwerde führen? Statt dessen beginnt die Regierung mit der Ansiedlung von Singhalesen, zuerst von Soldatenfamilien. Wenn sie dabei von "Rücksiedlung" spricht, beruft sie sich auf die Zeit um 500 v. Chr., als Einwanderer, die man sehr viel später Sinhalas nannte, erstmals den Norden Sri Lankas betraten.

"Es wird zwei Generationen dauern, bis wir hier wieder einen Anfang gefunden haben", sagt ein Kollege von SEED, "bis dahin geht es ums Überleben - das aber kann man so oder so angehen". Das So-oder-So hängt auch für SEED an einem Rücksiedlungsprojekt. Der Ort, den die Kolleginnen und Kollegen dafür gefunden haben, heißt Kanagarayankulam. Angefangen haben sie hier schon einmal, dann wurden die Leute vertrieben. Als sie zurückkamen, um wieder zu beginnen, waren die Bäume gefällt, fanden sie manche der Fundamente nicht wieder, auf denen sie einst Häuser errichtet hatten. Wer jetzt aus Manik Farm nach Kanagarayankulam kommt, wird immerhin über den Bau der Hütten und Wege mitbestimmen können, über die Anlage der Felder und Gärten, die Einrichtung der Vorschule, das Prozedere der Selbstverwaltung, den Frauenverband, den Sparverein, die "library society", die in einer der Hütten eine kleine Bibliothek einrichten wird: über all die Dinge, die zu dem Anfang gehören, der von jetzt an zwei Generationen brauchen wird.


Projektstichwort:

Mit Mitteln des BMZ wird medico das SEED-Rücksiedlungsprojekt Kanagarayankulam in den nächsten zwei Jahren mit 500.000 € unterstützen. Für geplante Menschenrechtsprojekte bitten wir dringend um Spenden. Stichwort: Sri Lanka.


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Quelle:
medico international - rundschreiben 01/10, Seite 18-21
Herausgeber: medico international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. April 2010