Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

ASIEN/751: Pakistan - Bevölkerung in Stammesgebieten Geisel der Taliban, Flüchtlinge berichten (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 17. Juni 2011

Pakistan: Bevölkerung in Stammesgebieten Geisel der Taliban - Flüchtlinge berichten

Von Ashfaq Yusufzai


Peschawar, 17. Juni (IPS) - Angesichts der geplanten Intensivierung der Militäroffensiven in den Stammesgebieten im Nordwesten Pakistans verschanzen sich die Taliban offenbar hinter der lokalen Bevölkerung. Sie hindern tausende Menschen daran, die Region zu verlassen, um sich vor den erwarteten Kämpfen in Sicherheit zu bringen.

Einigen Zivilisten ist die Flucht aus den Hochburgen der selbsternannten Gotteskrieger in den Stammesgebieten unter Bundesverwaltung (FATA) gelungen. Sie konnten sich bis Peschawar, der Hauptstadt der Nachbarprovinz Khyber Pakhtunkhwa, durchzuschlagen.

"Zehn Stunden waren wir unterwegs, bis wir einen sicheren Ort erreichten, wo wir in ein Fahrzeug umsteigen konnten, das uns nach Peschawar brachte", schildert Abdul Jabbar, ein Gemüsehändler aus dem Bezirk Bajaur Agency, wo die Armee seit 2009 Militäreinsätze durchführt. "Die Taliban wollen, dass wir bleiben, weil sie uns als Puffer vor den geplanten Angriffen der Armee benutzen wollen."

"In etlichen Ortschaften sind tausende Männer, Frauen und Kinder fluchtbereit, seitdem sie von der geplanten Militäroffensive erfahren haben", berichtet der lokale Menschenrechtsaktivist Jawad Ali. Die Taliban verhielten sich ähnlich wie 2007 während der Armeeeinsätze im Swat-Bezirk in Khyber Pakhtunkhwa. Auch damals weigerten sie sich, die Menschen ziehen zu lassen. "Wir haben es hier mit einer alten Taliban-Strategie zu tun, Menschen als Schutzschilde zu missbrauchen."

Die Taliban hatten sich 2001 nach ihrer Vertreibung aus Afghanistan im Zuge einer US-geführten Militärintervention in den FATA abgesetzt. In den insgesamt 47.000 Quadratkilometer großen Gebieten leben fünf Millionen Menschen. Von dort aus starteten sie mit Unterstützung des Terrornetzwerks Al Kaida Angriffe auf die pakistanischen Streitkräfte, die wiederum mit Militäroperationen antworteten.

Derzeit führen die Streitkräfte in sechs der sieben Stammesbezirke Militäroperationen durch. Lediglich Nordwaziristan ist ausgenommen, wo eine drohende Militäroffensive zu Unruhen in der Bevölkerung geführt hatte.

"Die Taliban erlauben uns nicht, das Gebiet zu verlassen, denn sind wir erst weg, wären sie der Armee ausgeliefert", sagt Muhammad Nawaz, ein Lehrer aus dem Gebiet Mamozai in der Upper Orakzai Agency, einem Stützpunkt der Taliban.


Menschliche Schutzschilde

"Die militanten Krieger benutzen Zivilisten als menschliche Schutzschilde", versichert auch Javid Khan, der beigeordnete politische Bevollmächtigte Südwaziristans gegenüber IPS. Khan zufolge hat die Armee 96 Prozent der Region unter ihrer Kontrolle, will aber erst die Bevölkerung in Sicherheit bringen, bevor sie eine neue umfangreiche Offensive startet. Die Taliban hätten an Schlagkraft verloren und könnten sich nicht mehr lange halten, meint Khan. Sie hielten die Menschen als Geiseln und verzögerten somit die geplante Militärinvasion.

"Die Durchführung umfassender Militäroperationen ist problematisch, weil die Zivilbevölkerung in einigen FATA-Regionen festsitzt", bestätigt der stellvertretende politische Verwaltungsbeamte Jawad Alam. Die zwischen Afghanistan und Khyber Pakhtunkhwa gelegenen FATA sind der Zentralregierung in Islamabad unterstellt.

"Die Regierung hat bereits Vorkehrungen getroffen, um die vor den bevorstehenden Kämpfen fliehenden Menschen in Nordwaziristan unterzubringen. Doch die Taliban lässt sie nicht ziehen", so der Informationsminister von Khyber Pakhtunkhwa, Iftikhar Hussain.


Transportmittel werden rar

In Mohmand Agency berichten Einwohner, dass die Fahrzeuge ausgehen, die die Flüchtlinge in sichere Gebiete transportieren könnten, weil die Transportunternehmer selbst viel zu große Angst vor den Taliban haben. In einigen Gebieten hätten die Taliban Barrikaden errichtet, um Fahrzeuge an der Durchfahrt zu hindern.

"Meine Brüder, ihre Frauen und ihre Kinder sitzen in Mohmand Agency fest, weil ihnen die Taliban nicht gestatten wegzugehen", berichtet Bilal Khan. Ihm ist es gelungen, das Jalozai-Camp in der Nähe von Nowshera zu erreichen, einem von 25 Bezirken in Khyber Pakhtunkhwa. Er fürchtet um die Sicherheit seiner Familie.

"Das Leben in Bajaur ist hart, weil dort nichts mehr geht", betont Aziz Ali, ein Einwohner der Ortschaft Loi Sam in Bajaur, der bei Verwandten in Peschawar untergekommen ist. Alle Basare seien geschlossen und jede Aktivität zum Erliegen gekommen. (Ende/IPS/kb/2011)


Link:
http://ipsnews.net/news.asp?idnews=56102

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH


*


Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 17. Juni 2011
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2011