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ASIEN/820: China - Macht- und Richtungskämpfe (Sozialismus)


Sozialismus Heft 9/2012

Macht- und Richtungskämpfe
Die KP Chinas vor dem XVIII. Parteitag

von Helmut Peters



Die Situation Chinas am Vorabend des XVIII. Parteitages der KP Chinas unterscheidet sich wesentlich von der des vorangegangenen Parteitages. 2007, vor der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise, konnte China unter ausgesprochen günstigen Bedingungen das rasante Tempo seiner wirtschaftlichen Entwicklung fortsetzen und auf dem Wege zu einer globalen Macht seinen internationalen Einfluss deutlich ausdehnen. Heute sieht sich die KP Chinas einer ausgesprochen komplizierten und kritischen Lage gegenüber.


Die "Risikogesellschaft"

Mit der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise und der Euro-Schuldenkrise sind die internationalen Bedingungen für die bisherige arbeitsintensive und exportorientierte Wachstumsweise der chinesischen Wirtschaft stark geschrumpft. Die weitere Entwicklung Chinas wird in erster Linie vom Übergang zu einer kapital- und technikintensiven, nachhaltigen und innovativen Wirtschaftsweise mit der Binnennachfrage als Haupttriebkraft abhängen. Das aber bedingt, über alle sozialen Interessengegensätze hinweg eine Umverteilung des Nationaleinkommens zugunsten der breiten Masse des Volkes vorzunehmen.

Die KP Chinas sieht sich zugleich ernsten politischen Problemen gegenüber. Chinesische Medien berichten von einer "Risikogesellschaft", die durch eine Anhäufung vieler alter und neuer Widersprüche gekennzeichnet sei. Aus den offiziellen Veröffentlichungen ist unschwer zu erkennen, dass heute die eigentliche Gefahr in der Isolierung der regierenden KP Chinas von der breiten Masse des Volkes besteht. Die Widersprüche zwischen der praktischen Politik und den Interessen großer Teile des Volkes sind nicht zu übersehen. Korruption, Amtsmissbrauch und Privilegien unter den Führungskadern wie Bürokratie und Ignoranz der Bevölkerungsinteressen im Machtapparat haben die Beziehungen zwischen Partei und Bevölkerung deutlich beschädigt. Die Regierung vermochte es nicht, zumindest die anhaltende soziale Polarisierung zu stoppen und die drückende soziale Ungerechtigkeit zu mindern.

Außenpolitisch sieht sich Beijing einem massiven geostrategischen Druck des USA-Imperialismus ausgesetzt. Am Beispiel des Syrienkonflikts wird deutlich, dass Washington alle Möglichkeiten ausnutzt, um das internationale Ansehen Chinas zu untergraben und seinen weltweiten Einfluss einzudämmen. Hier reiht sich auch die neue Strategie Washingtons für die asiatischpazifische Region ein. Die Verstärkung der militärischen Präsens der USA in dieser Region, die Wiederbelebung militärischer Bündnissysteme aus der Zeit des Kalten Krieges wie die Ausnutzung und Schürung territorialer Konflikte zwischen einer Reihe asiatischer Länder und China laufen daraus hinaus, in Asien eine antichinesische Front aufzubauen und die politische Initiative gegenüber China in die Hand zu bekommen. Washington setzt offenbar alles daran, sich eine günstige außenpolitische Ausgangsposition für die zu erwartende entscheidende Auseinandersetzung mit China zu schaffen, die im Zeichen der neuen industriellen Revolution stehen dürfte und in der die amerikanischen Strategie auch eine Veränderung der Machtverhältnisse in China durch eine "Arabellion" einkalkuliert.

So wird auch an der gegenwärtigen Chinapolitik Washingtons deutlich, dass das weitere Schicksal Chinas und seine künftige Rolle in der internationalen Politik in erster Linie von der Lösung seiner inneren Probleme und Widersprüche abhängen wird. Aufschlussreiche Überlegungen zu dieser Problematik hat der Direktor des Amerika-Instituts an der Akademie für Forschungen zu den internationalen Beziehungen der Gegenwart, Yuan Peng, vorgelegt. "Die wirklichen Herausforderungen für China sind nicht die augenblicklichen, sondern die der kommenden 5-10 Jahre. Die wirklichen Schwierigkeiten sind nicht die der internationalen Lage und an der Peripherie, sondern die Systemreform und die Ökologie im Innern. Die wirkliche Bedrohung ist nicht der militärische Konflikt, die Schwierigkeiten liegen in nichtmilitärischen Bereichen wie im Finanzwesen, im Sozialen, im Internet und in der Außenpolitik."(1)


Das Kernproblem ist die KP Chinas

In einem vor nicht allzu langer Zeit veröffentlichten Beitrag aus der Parteischule des ZK war zu lesen, das Problem der KP Chinas würde darin bestehen, dass sie den Übergang von einer "Revolutionspartei" zu einer "Regierungspartei" noch nicht vollzogen hätte. Das ist nicht von der Hand zu weisen. So kommt die Macht in China immer noch aus den "Gewehrläufen", d. h. sie beruht im Kern immer noch auf den Streitkräften, die allein und direkt der KP Chinas unterstellt sind. Die Partei behält sich auch weiter vor, über Verfassung und Gesetz zu stehen. Die verbreitete Verletzung der Gesetze, das heutige Ausmaß des Machtmissbrauchs und der ideologisch-moralischen Probleme unter den Führungskadern kamen jedoch erst mit der Marktwirtschaft, in der Kooperation mit dem ausländischen Kapital.

Die Partei definiert sich seit Anfang des Jahrhunderts nicht mehr über die Klassenherkunft ihrer Mitglieder. Für die Aufnahme neuer Mitglieder wurden auf Vorschlag des damaligen Generalsekretärs Jiang Zemin "die ideologischen Hindernisse für eine weitergehende Teilnahme der Privatunternehmer und anderer Vermögender an der Politik beseitigt".(2) Die Schwäche der KP Chinas, ihre unzureichende Verankerung in der Arbeiterklasse, ist eklatant. Arbeiter machen etwa 10 % der Parteimitglieder aus. Sie sind in den Macht- und Führungsorganen so gut wie nicht vertreten. Die eigentliche Basis der Partei bilden hingegen gesellschaftliche Eliten verschiedenen sozialen Charakters.

Mit der Marktwirtschaft und den damit verbundenen westlich-bürgerlichen Einflüssen haben sich in der Partei unterschiedliche und gegensätzliche Ideologien verbreitet.

Cheng Enfu, Rektor der Akademie für Marxismus an der Chinesischen Akademie für Gesellschaftswissenschaften, schätzt ein, dass die Auseinandersetzungen zwischen sieben ideologischtheoretischen Strömungen geführt werden.(3) Das Schicksal des Sozialismus in China hängt seiner Ansicht nach davon ab, ob sich "die innovative Schule des Marxismus zur Hauptströmung des Denkens unter den Akademikern und Politikern Chinas entwickeln wird".

Die offizielle Einschätzung, die chinesische Gesellschaft sei eine sozialistische, ist politisch-pragmatischen Charakters. Sie ist nicht wissenschaftlich begründet.

Die ökonomischen Verhältnisse der Volksrepublik funktionieren im Wesen nach den Gesetzen des Kapitals, und die kapitalistische Ausbeutung der Arbeiterklasse und anderer Werktätiger überwiegt bei weitem. Der autoritäre Charakter der Macht und die bürokratische Praxis schränken die Teilhabe der breiten Volksmassen an der Ausübung der politischen Macht im Grunde auf das Wahlrecht ein.(4) Und in der Realität verbleibt die sozialistische Orientierung der KP Chinas bei der Schaffung eines "allgemeinen Wohlstands". In der praktischen Politik der Partei dominiert das Nationale über das Soziale. Auch ihr letztlich angestrebtes Ziel ist ein nationales: die Renaissance der chinesischen Nation.

Aus der Sicht der KP Chinas hat die heutige chinesische Gesellschaft ihren Klassencharakter "überwunden". An seiner Stelle erscheinen klassenindifferente Beziehungen der nationalen Zusammenarbeit zwischen allen sozialen Schichten, so auch zwischen Kapital und Arbeit. Gleichermaßen wird anstelle der internationalen Klassenauseinandersetzung mit dem Kapitalismus/Imperialismus auf Beziehungen zwischen "entwickelten Ländern" und "Entwicklungsländern" orientiert. In offiziellen Verlautbarungen gibt es keine klassenmäßige Einschätzung der Weltlage. Die KP Chinas konzentriert sich für ihre internationale Politik im Innern auf die Entfaltung des Patriotismus, eines national(istisch)en Geistes, ohne den proletarischen Internationalismus einzubeziehen.

Jiang Zemin hatte seinerzeit vorausgesagt, dass die Abschaffung der ideologischen Hemmnisse für die Aufnahme von Privatunternehmern, also der Bourgeoisie, und "anderer neuer Schichten" "einen wichtigen Einfluss auf die Regierungsgrundlage und Regierungsweise der kommunistischen Partei, auf die Zukunft und Politik Chinas ausüben wird".(5) Das ist wohl eingetreten. Sonst hätten die Demokratische Liga und andere "demokratische Parteien" auf einer offiziellen Veranstaltung zum 91. Jahrestag der Gründung der KP Chinas in Beijing kaum vorgeschlagen, die KP Chinas umzubenennen. Ihren Vorschlag begründen sie damit, dass heute Bezeichnungen wie "Volkspartei", "Einheitspartei" oder "Republikanische Partei" für die KP der gesellschaftlichen Entwicklung und der gegenwärtigen Lage Chinas eher entsprechen und die große Einheit aller Nationalitäten des Landes besser ausdrücken würden.

Die heutige politische, ideologische und organisatorische Beschaffenheit und die Orientierung der KP Chinas sind augenscheinlich nicht mehr ausschließlich aus den nationalen Gegebenheiten und objektiven Bedingungen des Landes zu erklären.


Reform am Kreuzweg. Der Fall Bo Xilais

Der Übergang zu einer neuen Wachstumsweise der chinesischen Wirtschaft fordert von der KP Chinas, den Reformkurs neu zu justieren. In der Parteiführung dominierende Kräfte orientieren mit dem mit der Weltbank vereinbarten Projekt "China 30" auf eine noch umfassendere Nutzung der Marktwirtschaft. Andere Kräfte wie die "Neue Linke" und Teile der nicht an der politischen Macht beteiligten "roten Nachkommen"(6) lehnen diese Orientierung vehement ab bzw. stellen sie infrage. So sehen Letztere in der bisherigen Reformpolitik einen "Widerspruch zum ursprünglichen Ziel der Revolution", weil nur eine Minderheit der Menschen "gute Tage" habe.(7) Gewissermaßen Hoffnungsträger dieser Kräfte war offensichtlich das Mitglied des Politbüros und Parteisekretär der zentral unterstellten Stadt Chongqing, Bo Xilai. Bo hatte berechtigte Aussicht, in den Ständigen Ausschuss des neuen Politbüros aufzusteigen. Damit verband sich wohl die Erwartung, die verstärkte marktwirtschaftliche Orientierung der Partei abblocken und angesichts der negativen sozialen Auswirkungen die Abkehr von der bisherigen Reformpolitik einleiten zu können.

Bos Vater, Bo Yibo, war Mitglied des Politbüros des ZK der KP China, General der VBA im Bürgerkrieg und einer der beiden führenden Wirtschaftspolitiker nach Gründung der Volksrepublik gewesen.(8) Bo Xilai selbst wurde nach einer dreijährigen Tätigkeit als Handelsminister Ende 2007 in die Funktion des Parteisekretärs von Chongqing eingesetzt. In dieser Tätigkeit entwickelte er das "Chongqinger Modell". Kennzeichen dieses Modells wurden eine stärkere Einflussnahme des Staates auf die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft, die Rückbesinnung auf kollektive Werte der Volksrepublik aus den 1950er Jahren, die Einbeziehung der Bürger in die Entscheidung über wichtige Aufbauprojekte, die Wiederbelebung von revolutionären Liedern aus der Ära Maos(9) und eine kompromisslose Bekämpfung der Korruption ohne Ansehen von Person und Rang, die Hunderte von "schwarzen Elementen", darunter auch hochgestellte Beamte, ins Gefängnis brachte. Die vernichtende Kritik des Ministerpräsidenten Wen Jiabao, Bo hätte dabei eine Politik praktiziert, die an die "Kulturrevolution" erinnern würde, ist schon seltsam; denn die Chongqinger Kampagne gegen Korruption stand unter der Leitung der örtlichen Kommission für Recht und Politik(10), fand die Zustimmung des Leiters der Zentralen Kommission für Politik und Recht, Zhou Yongkang, und bewegte sich danach auch im Rahmen der Befugnisse dieser Institution.(11)

Bo Xilai wurde am 15. März "wegen schwerer Vergehen" gegen die Parteidisziplin und die staatlichen Gesetze als Parteisekretär von Chongqing abgelöst und am 10. April seiner Mitgliedschaft im Politbüro und im ZK enthoben. Danach soll über seinen Ausschluss aus der Partei beraten worden sein. Bos Verbindungen in Kreise hochrangiger Militärs scheinen auf dem Hintergrund von Problemen der Parteiführung mit Teilen der hohen Generalität über das Verhältnis von Partei und Streitkräften zu seinem Sturz beigetragen zu haben. Die konkreten Umstände seines Falles scheinen gut organisiert, zumindest voll ausgenutzt worden zu sein. Hier hinein passt auch die gleichzeitige Beschuldigung und Verurteilung seiner Frau, einen britischen Geschäftsmann getötet zu haben, was Bos Ansehen zusätzlich belastet.

Bos Absetzung bedeutet nicht das Ende der Auseinandersetzung zwischen den beiden Fronten in der Reformfrage; denn die Probleme, an denen sie sich entzündete, bestehen weiter. Nicht zu übersehen ist ein anderer Aspekt in dieser Auseinandersetzung: die Entwicklung von Massenprotesten unter der Bevölkerung gegen die Missachtung ihrer Interessen durch Vertreter der örtlichen Machtorgane.


Neues Projekt des Parteiaufbaus

Nach dem Fall Bo Xilais hat die Führung der KP Chinas ihre ideologischpolitische Vorbereitung des Parteitages im Rahmen eines neuen Projekts für den Parteiaufbau verstärkt.

Im September 2009 hatte das 4. Plenum des XVII. ZK der Partei den "Beschluss des ZK der KP Chinas über einige wichtige Frage der Verstärkung und Vervollkommnung des Parteiaufbaus in der neuen Situation" angenommen.(12) Mit diesem neuen Projekt sollte der Aufbau einer marxistischen Partei durch Reformen und Neuerungen vorangebracht werden. Dazu wurden sechs Grundprobleme in der Partei aufgelistet, die durch die Reform in etwa fünf Jahren gelöst werden sollten. Darunter nehmen die innerparteiliche Demokratie, die Lage unter den Führungskadern, die Reform des Kadersystems breiten Raum ein. Kader sollen moralisch und fachlich zur Ausübung ihrer Funktion befähigt sein und das Vertrauen der Massen besitzen. Ihre soziale Herkunft hingegen spielt keine Rolle. Gefordert wird, eine große Zahl befähigter junger Kader und mehr weibliche Kader und Kader aus nationalen Minderheiten auszubilden. Mit dem Beschluss wurde auch begonnen, das gesamte Parteileben für die gesellschaftliche Öffentlichkeit transparenter zu gestalten.

Dem Projekt wurde damals eine weitreichende Bedeutung für die Bewältigung der internationalen Finanzkrise, die Gewährleistung einer stabilen und relativ schnellen Entwicklung der Wirtschaft, dem allseitigen Aufbau der "Gesellschaft des Kleinen Wohlstands" und der Schaffung einer neuen Lage beim Aufbau des "Sozialismus chinesischer Prägung" beigemessen. Die KP Chinas als regierende Partei "auf lange Zeit" sollte in diesem Prozess ein qualitativ neues Niveau erreichen, das "ideologisch und politisch der Entwicklung der Zeit entspricht".

Das neue Projekt des Parteiaufbaus am Vorabend des XVIII. Parteitages steht zugleich im Zeichen der Schlussfolgerungen aus den vorangegangenen Auseinandersetzungen. Generalsekretär Hu Jintao mahnte in seiner Rede vor hochrangigen regionalen Führungskadern am 23. Juli nachdrücklich die Einheit und Geschlossenheit der Partei auf der Grundlage ihrer bisherigen Reformstrategie an.(13) Ungewöhnlich war dann schon, dass der designierte Nachfolger Hus, Xi Jinping, einen Tag später diese Rede auf seine Weise für die Auswertung in der Partei auslegte.(14)

Diese Reden wie die sie begleitenden Kommentare der offiziellen Medien thematisieren ein Grundproblem: Der Schlüssel für die Entwicklung Chinas liegt bei der Partei. Deshalb müsse zuerst die Frage gestellt und beantwortet werden, was für eine Partei braucht das Land und wie muss sie aufgebaut werden, um den neuen Herausforderungen wie den Erfordernissen einer langfristigen Regierung durch die KP Chinas gerecht werden zu können. Diese neuen Herausforderungen Chinas werden jetzt international in den "Auswirkungen der Finanzkrise" und im "zunehmenden Konkurrenzdruck", im Lande selbst im ökonomischen und gesellschaftlichen Wandel und in den damit verbundenen Aufgaben von Reform, Entwicklung und Stabilität gesehen. Auf diesem Hintergrund, heißt es in einem Kommentar aus der Führung, würden die "vier großen Risiken" (Nachlassen im Bewusstsein, Unzulänglichkeit der Fähigkeiten zur Regierung des Landes, Lösen von den Massen und negative Erscheinungen wie Korruption) noch stärker ins Gewicht fallen. Damit würde es noch schwerer werden, die "vier großen Prüfungen" (Regieren auf lange Zeit, Reform und Öffnung, Marktwirtschaft und äußeres Umfeld) zu bestehen.(15)

Hu Jintao sieht den "Marxismus-Leninismus" noch als Teil der Leitideologie der Partei, Xi Jinping nicht. Xi will die aufzubauende Partei ausschließlich am "Marxismuschinesischer Prägung"(16) orientieren und alle ihre Mitglieder mit den Ergebnissen der "marxistischen Theorie chinesischer Prägung" bewaffnen. In diesem Sinne läuft gegenwärtig die Kampagne für die Schaffung einer "fortschrittlichen und ausgezeichneten Theorie" und die Entwicklung eines "reinen und fortschrittlichen Charakters" der Partei.

Xis Ausführungen verbleiben im Plakativen, im Allgemeinen. So sieht er die "politischen Vorzüge" der erneuerten Partei darin, dass sie an "vorderster Front der Zeit" stehe und an der "richtigen Richtung" der gesellschaftlichen Entwicklung festhalte. Nachzuprüfen wird seine Aussage sein, dass sich die neue Partei auf die "besten Elemente der chinesischen Arbeiterklasse(17) und des chinesischen Volkes" konzentrieren werde. Das Wort Demokratie taucht nur im Zusammenhang mit der herkömmlichen Auslegung des Prinzips des demokratischen Zentralismus auf.

Das neue Projekt beruht auf dem Gedanken, dass die Partei in den Massen wurzelt und ihre Kraft aus den Massen kommt. Darin wird die Garantie gesehen, dass alle Schwierigkeiten überwunden werden können. Es heißt sogar, die allseitige Stärkung des Parteiaufbaus diene letztlich dazu, dem Volk besser zu dienen und "für das Volk zu regieren". In der gesamten Arbeit der Partei müssten sich Willen, Interessen und Forderungen der Massen ausdrücken. Es käme vor allem darauf an, die wichtigsten und dringendsten Probleme der Massen zu lösen, damit sie "die Früchte von Reform und Entwicklung... dem gesamten Volke zugute kommen".

Es wird abzuwarten sein, ob und inwieweit sich die Partei auf diesem Weg in den kommenden fünf Jahren wie hier beschrieben erneuern und entwickeln wird. Unbedingt anzumerken ist jedoch, dass - wie bisher schon - die Heranführung und unmittelbare demokratische Teilnahme des Volkes an der Ausübung der politischen Macht über Wahlen hinaus auch jetzt kein Thema sind.

Insbesondere die Rede Xi Jinpings widerspiegelt die aktuellen Auseinandersetzungen inner- und außerhalb der Partei. Das betrifft nicht nur die Parteiproblematik, sondern auch die Theorie und Praxis des Sozialismus und die Entwicklungsstrategie.

Xi hebt über alle Maßen und undifferenziert hervor, dass die Ergebnisse von über 30 Jahren Reform und Öffnung die "hervorragende Lage Chinas" umfassend beweisen würden, dass der "Sozialismus chinesischer Prägung" in China tief verwurzelt sei, den nationalen Gegebenheiten entsprechen würde und eine starke Lebenskraft habe. Allein dieser Sozialismus würde "das Volk wohlhabend machen und China kräftig entwickeln". Auf dieser Grundlage werde die erneuerte Partei "einen wohlhabenden, starken, demokratischen, zivilisatorischen und harmonischen sozialistischen modernen Staat mit Kurs auf die Verwirklichung der großen Renaissance der chinesischen Nation aufbauen".

Xi fordert, die allseitige Entwicklung der Gesellschaft "mit dem Menschen als das Wesentliche" entschlossen umzusetzen und "das Denken weiter zu befreien". Wieder diese allgemeine Formulierung, ohne mitzuteilen, wovon z. B. das Denken jetzt konkret befreit werden soll. Anscheinend bedeutet dies, wie die Neugestaltung der Veröffentlichungen in dem Zeitungs- und Zeitschriftenverlag "Nanfang" (Süden) zeigt, jetzt auch, dass eine kritische Begleitung der Politik der Partei selbst durch chinesische Medien nun gänzlich unerwünscht ist.


Parteitagswahlen

Zum ersten Mal in der Geschichte der KP Chinas ist eine Wahldirektive zu einem Parteitag veröffentlicht worden. Die Direktive sieht vor, aus den über 80 Millionen Parteimitgliedern 2270 Delegierte für den XVIII. Parteitag zu wählen. Sie sollen aus allen Bereichen der Gesellschaft kommen. Da die bisherigen Parteitage Gefahr liefen, "Delegiertenkonferenzen der Führungskader" zu sein, ist angewiesen, den Anteil der allgemeinen Parteimitglieder unter den Delegierten, um etwa 2 Prozent auf 32 Prozent zu erhöhen. 10 Prozent der Delegierten werden laut Direktive Arbeiter sein, in den zentral unterstellten staatlichen Unternehmen soll dieser Anteil allerdings "deutlich höher" ausfallen. Vorgesehen ist auch, im Verhältnis mehr Frauen als Delegierte zu wählen.

Über die Art und Weise der Wahl entscheidet die jeweilige Mehrheit der Mitglieder in den Wahleinheiten. Allgemein gilt jedoch die "Konkurrenzwahl". Sie wurde 1990 zunächst für die GO eingeführt und wird inzwischen als wichtiger Ausdruck der Demokratie angesehen. Gegenüber dem letzten Parteitag wurde die Zahl der Kandidaten gegenüber der Zahl der zu wählenden Delegierten um 5 Prozent auf 15 Prozent erhöht. Die Wahl der Parteitagsdelegierten auf Ebene der Provinzen, Autonomen Gebiete und regierungsumnittelbaren Städte konnte planmäßig im Juli abgeschlossen werden.

Ein besonderer Schwerpunkt in Vorbereitung des XVIII. Parteitages wurde auf den umfassenden Wechsel der Führungsschicht der Provinzen und gleichgestellten administrativen Einheiten gelegt. Auf 16 der 31 Parteikonferenzen der Provinzen und gleichgestellten Einheiten wurden Parteisekretäre gewählt, die erst einige Monate zuvor von der zentralen Führung offensichtlich mit der Maßgabe ihrer späteren Wahl eingesetzt worden waren. Insgesamt wurden vor den Wahlen auf diese Weise 78 führende Funktionen auf der Ebene der Provinzen und Ministerien neu besetzt. Drei Aspekte scheinen dabei entscheidend gewesen zu sein - der politische Aspekt, d. h. die künftige unbedingte Absicherung der zentralen Politik in den Regionen; der ökonomische Aspekt, d. h. der Aufbau fähiger regionaler Führungen für die Bewältigung des wirtschaftlichen Aufbaus in den kommenden zehn Jahren; und die Entwicklung der Kaderreserve.

Das Rotationssystem beim Einsatz der Kader zwischen Zentrale und Regionen wie zwischen den Regionen wurde ausgedehnt. Nur zwei der gewählten Parteisekretäre sind noch in ihren Heimatprovinzen tätig. Neben der politisch-moralischen Vita des Kaders spielte die Fähigkeit, gesellschaftliche Prozesse im Sinne der Parteipolitik wirksam und zielgerichtet zu leiten, auch für die Wahl der stellvertretenden Parteisekretäre und aller Mitglieder der Ständigen Ausschüsse des Provinzparteikomitees eine bestimmende Rolle. Diese Funktionen scheinen generell mit Personen besetzt worden zu sein, die sich zuvor längere Zeit in der Leitung regionaler Regierungen, Volkskongresse usw. bewährt haben. Medienberichte erhärten die Einschätzung, dass die Ständigen Ausschüsse der Parteikomitees auch auf den regionalen Ebenen als eigentliche Zentren der politischen Macht fungieren.(18)

In den Meldungen über den Verlauf und die Ergebnisse der Parteiwahlen findet die soziale Herkunft der Delegierten wie der gewählten Führungskader keine Beachtung. Deshalb bleibt unklar, ob der Anteil der Arbeiter unter den Parteitagsdelegierten tatsächlich erreicht wurde und ob sich in den regionalen Führungsgremien Kader aus Kreisen der Arbeiter und anderen Werktätigen der "ersten Front der Produktion" befinden.

In diesen Wahlen setzte sich der Trend zur Verjüngung der Leitungskader fort. Das Durchschnittsalter der Parteisekretäre auf Provinz- und gleichgestellter Ebenen liegt knapp unter 60 Jahre. Sichtbar ist das zielgerichtete Bestreben, junge Kader, darunter in größerer Zahl Hochschulabsolventen, beginnend an der Basis, vorrangig auf dem Dorf, systematisch aufzubauen und sie im Maße ihrer Fähigkeiten nach einer gewissen Zeit der Bewährung in höheren Funktionen einzusetzen. Der Anteil der Frauen hat sich nicht nur unter den Parteitagsdelegierten, sondern auch in den regionalen Führungsfunktionen erhöht. Erstmals wurde eine Frau zum Sekretär eines Provinzparteikomitees (Fujian) gewählt. Unter den Mitgliedern der Ständigen Ausschüsse der Parteikomitees der Provinzen, Autonomen Gebiete und Regierungsunmittelbaren Städte befinden sich knapp 11 Prozent Frauen. Kader der nationalen Minderheiten scheinen entsprechend den Festlegungen unter den Parteitagsdelegierten und in den regionalen Führungsorganen vertreten zu sein.

Die Wahlen widerspiegeln den Trend der Parteipolitik, sich noch stärker als bisher auf die Bildungselite zu stützen. Im Ergebnis der diesjährigen Wahl auf Ebene der Provinzen und dergleichen sind 97 der 404 Mitglieder der Ständigen Ausschüsse promoviert, vor allem in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen und Technik. Darunter befinden sich auch Parteisekretäre (Liaoning, Guangsxi) und stellvertretende Parteisekretäre (u. a. in Liaoning, Anhui, Shanxi, Innere Mongolei, Hebei und Hunan).


Zusammenfassung

Mit der Entmachtung Bo Xilais ist der innerparteiliche Macht- und Richtungskampf erstmals wieder öffentlich geworden. Schon daran zeigt sich die kritische Situation, in der sich die Partei befindet. Die derzeit dominierenden Kräfte in der Parteiführung stehen offensichtlich gegen jeden Versuch, die bisherige marktwirtschaftliche Entwicklung Chinas wesentlich zu korrigieren oder gar zurückzunehmen.

Teilt der Parteitag die Position Xi Jinpings, dann hätte die KP Chinas mit dem "Marxismus chinesischer Prägung" ihren theoretischen Standort auch offiziell verändert.

Im Ergebnis der Parteiwahlen wurden auf regionaler Ebene Führungskerne geschaffen, deren erste Aufgabe es sein dürfte, die politische Linie der Zentrale in den einzelnen Landesteilen effektiv durchzusetzen.


Helmut Peters ist Sinologe und lebt in Berlin.


Anmerkungen:

(1) Renmin Ribao - Auslandsausgabe v. 31.7.12

(2) Jiang Zemin, Rede zum 80.Jahrestag der Gründung der Partei, in: Bericht über die Lage Chinas 2003, Beijing 2003, S. 252, chines.

(3) Cheng Enfu, Seven Currents of Social Thoughts and their Development in Contemporary China with Focus on Innovative Marxism. In: Heinz Dieterich (Coordinator): Analytical Principles for the Transition Model to 21st Century Participatory Democracy, Goettingen, Germany, Aktiv Druck und Verlag GmbH, May 2012, S.94-105. Cheng nennt und beschreibt folgende Strömungen: Neoliberalismus (wachsender Einfluss), "Demokratischer Sozialismus" (Ablehnung des Marxismus als führende Theorie, für konkurriende Parteien und Regierungsrotation, Sozialismus auch ohne Umgestaltung kapitalistischen Eigentums möglich), "Neue Linke" (für starke Regierung, gegen kapitalistische Globalisierung und marktwirtschaftliche Reformen als Ursache für soziale Polarisierung), die "Strömung der Wiederbelebung" (Gesellschaft des Altertums als Ideal, durchdringe bereits alle Ideologien), "Eklektischer Marxismus" (Revisionismus im Sinne Lenins), "Traditioneller oder orthodoxer Marxismus" (Fahne Mao Zedongs hoch halten) und "Innovativer Marxismus" (passt sich der grundlegenden Richtung des ZK an).

(4) Wie die SPD praktiziert auch die KP Chinas seit etwa 2007 bei den Parteiwahlen die Vorwahl mit Beteiligung von Nichtmitgliedern ("Wahl in zwei Stufen")

(5) Jiang Zemin, Rede zum 80. Jahrestag der Gründung der Partei, a. a. O.

(6) Dieser Begriff in chinesischen Medien meint die Kinder und Enkel der ersten Führungsgeneration unter Mao Zedong, z. B. den Enkel Maos, Mao Minyu, und die Tocher Ye Jianyings, Ling Zi.

(7) Liu Jin, Die "rote Nachkommen" diskutieren die Reform: Wir lassen nicht zu, dass es in China zu einem Chaos kommt, in: Nanfang Zhoumo v. 8.3.12

(8) Er hinterließ zwei Bände der Erinnerung an die Ära Mao Zedongs, die er durchaus kritisch begleitete.

(9) Diese Singebewegung fasste auch in anderen Landesteilen Fuß. Ich erlebte sie im Herbst 2010 im Beijinger Sommerpalast.

(10) Vergl. dazu die Ausführungen Bo Xilais am Tag der Offenen Tür der Chongqinger Delegation zur diesjährigen Tagung des NVK am 9. März in: Nanfang Zhoumo v. 17.3.12

(11) Die "Zentrale Kommission für Politik und Recht" mit ihren regionalen Vertretungen bis zur Kreisebene ist im Auftrag der Partei hauptverantwortlich für die Absicherung der politischen Macht nach innen. Sie steht über Verfassung und Gesetz. Sie kann, wenn erforderlich, Gerichtsurteile und Beschlüsse von Einrichtungen der öffentlichen Sicherheit aufheben und korrigieren, wenn nach ihrer Meinung damit die gesellschaftliche Ordnung und Stabilität nachteilig beeinflusst werden. Das Politbüro des ZK der KP Chinas hat seit den 1990er Jahren wiederholt über die Abschaffung dieser Einrichtung der Partei beraten. Die dafür notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit wurde jedoch auch auf seiner letzten Beratung im Juli d. J. nicht erreicht; gegen die Abschaffung dieser Institution sprachen sich der Generalsekretär Hu Jintao und der Ministerpräsident Wen mit der Begründung aus, dass dieser Schritt zum jetzigen Zeitpunkt die Reform negativ beeinflussen würde.

(12) Xinhua She v. 27.9.2009

(13) Xinhua She v. 23.7.2012

(14) Xinhua She v. 24.7.2012

(15) Xinhua Wang v. 5.8.2012

(16) Im Chinesischen heißt es "makesizhuyi zhongguohua", bisher im Deutschen häufig mit "Sinisierung des Marxismus" übersetzt. Offiziell wurde bisher von der "Anwendung der grundlegenden Prinzipien des Marxismus auf die chinesische Praxis" gesprochen, wobei diese Prinzipien nicht konkret benannt wurden. Davon ist nun nicht mehr die Rede. Ausgangs- und Bezugspunkt von Xi Jinping ist nicht der klassische Marxismus, sondern der "angewandte Marxismus" in Gestalt der Ideen Mao Zedongs, der "Theorie Deng Xiaopings", der "wichtigen Gedanken von den drei Vertretungen" und der "wissenschaftlichen Auffassung über die Entwicklung".

(17) Seit Mitte der 1950er Jahre betrachtet die KP Chinas die soziale Schicht der Intelligenz offiziell als Teil der chinesischen Arbeiterklasse. So erscheint die verstärkte Aufnahme von Angehörigen dieser Schicht, auch von Studierenden, als "Verstärkung der Klassenbasis" der Partei.

(18) Die Parteikomitees der Provinzen und gleichgestellten Einheiten praktizieren bis auf Tibet, Xinjiang und die Innere Mongolei das 2007 eingeführte Modell "ein Sekretär und zwei Stellvertreter", und ihre Ständigen Ausschüsse haben bis auf Xinjiang 10 Mitglieder.

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Quelle:
Sozialismus Heft 9/2012, Seite 18 - 22
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. November 2012