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ASIEN/949: Nepal - Kaum Wiederaufbauhilfe für ethnische Minderheiten (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. Juli 2015

Nepal: Nicht Erdbeben töten, sondern Häuser - Kaum Wiederaufbauhilfe für ethnische Minderheiten

von Robert Stefanicki


Bild: © Robert Stefanicki/IPS

Der 70-jährige Chiute Tamang und seine Familie verloren ihr Haus bei dem Erdbeben im April 2015
Bild: © Robert Stefanicki/IPS

KATMANDU (IPS) - Der 70-jährige Chiute Tamang arbeitete auf dem Feld, als am 25. April in Nepal die Erde zu beben begann. Er hielt sich an einem Baum fest. Seine Frau und seine Tochter waren zu dem Zeitpunkt im Haus, konnten sich aber ins Freie retten. Im Handumdrehen verwandelte sich das Gebäude in einen Steinhaufen.

"Nicht Erdbeben töten, sondern Häuser", besagt eine Binsenweisheit, die sich in dem Himalaja-Staat bewahrheitet hat. Fast alle Opfer hatten unter den Trümmern ihrer Häuser den Tod gefunden, die aus Steinen und Lehm gebaut worden waren. Den teureren Zement kann sich in der Bevölkerung kaum jemand leisten.

In Chiutes Dorf Ramche in der Hügellandschaft des Distrikts Dhading, etwa 40 Kilometer nordwestlich von Katmandu entfernt, sind 168 der 181 Häuser nicht mehr bewohnbar. Wie aus dem jüngsten Bericht der Regierung hervorgeht, wurden bei dem Beben 607.212 Gebäude in 16 Distrikten beschädigt. 63 Prozent dieser Häuser standen in Gebieten, die von Angehörigen der Tamang, einer buddhistischen Ethnie tibeto-burmanischen Ursprungs, bewohnt werden. Die etwa 1,35 Millionen Tamang machen in Nepal nur einen kleinen Teil der rund 27 Millionen Einwohner aus.


Arme Minderheiten durch Beben besonders hart getroffen

Von den 8.844 offiziell registrierten Erdbebentoten gehörten mehr als 3.000 der Tamang-Minderheit an. Mehr als die Hälfte von ihnen lebten in verarmten Gemeinden. Ein ebenso hoher Prozentsatz war weiblich.

Ramche ist ein typisches Tamang-Dorf. Einige Bewohner besitzen kleine Felder, auf denen sie Mais und Kartoffeln anbauen. Von den Ernten können die Familien aber nur zwei bis drei Monate im Jahr leben. Den Rest der Zeit müssen sie sich anderswo als Arbeiter verdingen. Die Menschen in Ramche berichten, dass auch ihre Vorfahren bereits arm waren. Nach Jahrhunderten der Ausbeutung hat die Ungleichheit in Nepal tiefe Wurzeln geschlagen.

Die Herrscher in Katmandu hatten in den Angehörigen der Volksgruppe stets billige Arbeitskräfte gefunden. Tamang durften weder in die Staatsverwaltung noch in das Militär aufgenommen werden. Auch heute sind sie kaum in den Führungsebenen von Streitkräften, Polizei und Politik anzutreffen.

Der buddhistische Glauben schützt die Tamang nicht davor, in das Kastensystem der herrschenden Hindu eingeordnet zu werden. Die Mächtigen im Land gehören den Kasten der Brahmanen, Newar und Chhetris an, die auf die Tamang heruntersehen.

Die wirtschaftliche Not hat zunehmend indigene Bauern in die Städte getrieben. In Katmandu machen sie etwa die Hälfte aller Träger und die meisten Taxifahrer aus, die ihre Gäste in dreirädrigen Gefährten befördern. Untersuchungen haben ergeben, dass ein unverhältnismäßig großer Teil der Tamang im Zusammenhang mit Straftaten im Gefängnis sitzt. Auf die Unterstützung der Regierung hat diese Ethnie nie zählen können.


Bild: © Robert Stefanicki/IPS

Gebäude fielen bei dem Beben zusammen wie Kartenhäuser
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Auch nach dem Erdbeben waren die Tamang sich selbst überlassen. Die Bewohner von Ramche halfen sich gegenseitig. Eine kleine Unterstützung durch eine Hilfsorganisation reichte ihnen aus, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen.


Nach einer Woche Hilfe von der EU

Erst eine Woche nach der Katastrophe erhielten die Menschen in Ramche Decken, Zeltplanen und Moskitonetze vom Europäischen Amt für humanitäre Hilfe (ECHO). In diesen Tagen stehen alle Bewohner vor den Baracken der nepalesischen Organisation ADRA Schlange, wo Wasser in großen Eimern mit dem blauen EU-Logo, Zahnbürsten, Zahnpasta, Wasserreinigungstabletten, Damenbinden und Antibabypillen ausgegeben werden.

Chiute Tamangs Familie verbrachte die ersten Tage nach dem Einsturz ihres Hauses in einer provisorischen Unterkunft, die rasch aus Holz zusammengezimmert und mit einer Plane abgedeckt worden war. Auch die Ziegen, ihr wertvollster Besitz, zogen mit ein, um nicht von Tigern und Leoparden gerissen zu werden.

Nach einer Woche lieh sich Chiute Geld, um eine neue Bleibe zu bauen. Das Haus besteht aus einem Holzrahmen und Wellblech, die spartanische Einrichtung aus einfachen Betten, Schränken und einen Gaskocher. Die Bauarbeiten zogen sich eine Woche lang hin, da das Holz aus größerer Entfernung nach Ramche gebracht werden musste. Erst als das Haus schon stand, kam auch Hilfe von der nepalesischen Regierung. Jede Familie, die durch das Beben ihr Dach über dem Kopf verloren hat, kann ein Darlehen von umgerechnet etwa 150 US-Dollar beantragen. Chiute hat inzwischen die Hälfte davon zurückgezahlt.

Sein Dorfnachbar Deepak Bhutel erhielt einen höhere Summe, weil er seine Frau und die 18-monatige Tochter bei der Katastrophe verloren hat. Das Geld würde ausreichen, um ein solides Haus zu bauen. Der 29-jährige will aber einen Notgroschen zurückbehalten und zieht mit der älteren Tochter, die wie er überlebt hat, in eine mit Wellblech verkleidete Hütte ein. (Ende/IPS/ck/16.07.2015)


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http://www.ipsnews.net/2015/07/earthquakes-dont-kill-buildings-do-or-is-it-inequity/

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IPS-Tagesdienst vom 16. Juli 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juli 2015

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