Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

EUROPA/803: Bürgerliche Krisenpolitik im sozialdemokratisch-schwedischen Modell (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2010

Bürgerliche Krisenpolitik im sozialdemokratisch-schwedischen Modell

Von Sven Jochem


Schweden ist das bekannteste Modell für eine hegemoniale sozialdemokratische Politik. Seit 2006 regiert eine bürgerliche Koalition den schwedischen Wohlfahrtsstaat, und kurz vor den Wahlen im September 2010 ist es Zeit, ein Resümee zu ziehen.


Die Reichstagswahl im Jahr 2006 endete mit einer Überraschung. Zur Zeit der Wahl waren die öffentlichen Haushalte konsolidiert, der Arbeitsmarkt dynamisch und die Zukunftsaussichten rosig. Obwohl sozialdemokratische Minderheitsregierungen nach der ökonomischen Krise zu Beginn der 90er Jahre den Wohlfahrtsstaat erfolgreich reformierten, errang eine bürgerliche Koalition mit knappem Vorsprung die absolute Mehrheit. Die bürgerliche "Allianz für Schweden" setzt sich aus Konservativer Partei, liberaler Volkspartei, der ehemals agrarisch geprägten Zentrumspartei sowie den noch jungen Christdemokraten zusammen.


Projekte der bürgerlichen "Allianz für Schweden"

Diese Koalition stellt eine Zäsur in der schwedischen Parteiengeschichte dar. Die Sozialdemokraten konnten ihre Hegemonie auch darauf aufbauen, dass das bürgerliche Lager gespalten und programmatisch zerstritten war. Nach der verheerenden Wahlschlappe im Jahr 2002 veränderte die Konservative Partei ihre programmatische Ausrichtung. Sie titulierte sich selber nicht nur als "Neue Konservative Partei ", sondern trat offensiv auch als "neue Arbeiterpartei" auf, die den Wohlfahrtsstaat verbessern, nicht abbauen wollte. Die bürgerliche Politik sollte noch stärker die (aus kontinentaleuropäischer Perspektive bereits sehr hohe) Beschäftigung ausweiten. Steuersenkungen wurden nur in Aussicht gestellt, wenn die finanzielle Solidität der öffentlichen Haushalte dadurch nicht gefährdet wird. Zusätzlich intensivierte die "Neue Konservative Partei" die Zusammenarbeit im bürgerlichen Lager. Zwischen den vier bürgerlichen Parteien wurde ein gemeinsames Wahlprogramm ausgehandelt, die ehemaligen programmatischen Differenzen wurden ausgeglichen.

Wie löste die bürgerliche "Allianz für Schweden" ihre Wahlversprechen ein? Ein erstes zentrales Ziel der Regierung bestand darin, das System der in Schweden freiwilligen Arbeitslosenversicherung zu reformieren. Die Versicherung wird von den Gewerkschaften getragen und stellt für sie wichtige Machtressourcen dar. Während die bürgerlichen Parteien sie zu Beginn der 90er Jahre noch verstaatlichen wollten, bestand die Strategie diesmal darin, die staatlichen Transferzahlungen für die Arbeitslosenversicherung zu kappen. Dies hatte zur Folge, dass sich die Kosten für die Arbeitnehmer erhöhten. Sehr viele von ihnen kündigten daraufhin ihre Arbeitslosenversicherung und traten gleichzeitig aus den Gewerkschaften aus. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad im sozialdemokratischen Modell sinkt seither dramatisch.

Ein zweites Projekt der bürgerlichen Koalition bestand darin, den öffentlichen Sektor in seiner großen Bedeutung für die schwedische Ökonomie zurückzuführen. Eine solche Politik wurde zum Teil schon von sozialdemokratischen Regierungen der Vergangenheit eingeschlagen. Allerdings forcierten die bürgerlichen Parteien die Schleifung ehemals staatlicher Monopole (beispielsweise die Apotheken), sie verkauften staatliche Anteile an prominenten Betrieben und führten die Beschäftigung im öffentlichen Sektor zurück. Diese politische Stoßrichtung wird auch an der familienpolitischen Offensive der bürgerlichen Allianz deutlich. Seit 2008 ermöglicht die Regierung den Kommunen, ein Betreuungsgeld an die Eltern derjenigen Kinder auszuzahlen, die nicht öffentliche Betreuungseinrichtungen aufsuchen.

Das dritte Projekt der bürgerlichen "Allianz für Schweden" bestand darin, eine nach Einkommensunterschieden differenzierte Steuersenkung einzuführen. In Anlehnung an den US-amerikanischen "earned-income tax credit" wurden gestaffelte Steuerabzüge eingeführt. In mehreren Schritten verminderte sich seit dem 1. Januar 2007 die Steuerlast für die unteren Einkommensgruppen. Die Regierung verfolgt mit dieser Politik das Ziel, Arbeitsanreize für gering entlohnte Tätigkeiten zu verbessern. Indirekt bewirkt diese Politik eine partielle Verringerung der Steuerlast sowie des gesamtstaatlichen Steueraufkommens.

Am Vorabend der internationalen Finanzkrise konnte die bürgerliche Reformpolitik somit deutliche Akzente im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat setzen; weniger Staat und mehr Wahlfreiheit bzw. Eigenverantwortung waren die Schlagworte. Die schwedischen Gewerkschaften kritisierten diese Politik, und die linken Parteien unter der Führung der Sozialdemokratie reagierten mit einem strategischen Schachzug: Seit Dezember 2008 gibt es eine offizielle linke Parteienallianz zwischen Sozialdemokratischer Partei, Grüner Partei und Linkssozialisten. Seither wird an einem gemeinsamen Wahlprogramm gearbeitet und seit März 2009 liegen Ergebnisse vor. Die schwedische Sozialdemokratie hat sich von ihrer traditionellen Rolle als "natürliche" Regierungspartei in Minderheitsregierungen verabschiedet und strebt nun programmatisch vorbereitete Koalitionen im linken Lager an. Gegenwärtig findet der Parteienwettbewerb als Machtkampf zwischen zwei in sich mehr oder weniger programmatisch geschlossenen Blöcken statt.


Finanzkrise und Krisenpolitik

Die Finanzkrise impliziert neue Rahmenbedingungen für die schwedische Politik. Das sozialdemokratisch-schwedische Modell hat sich in den letzten Jahren verändert. Die Börsenumsätze stiegen rasant an, und die schwedischen Banken expandierten in atemberaubendem Tempo auf den osteuropäischen Märkten, vor allem im Baltikum. Das Kapital des schwedischen Bankensektors stieg in Relation zum schwedischen Bruttoinlandsprodukt von ca. 100 % im Jahre 2000 auf über 900 % im Jahre 2008.Hinzu kommt eine noch weiter angestiegene Verflechtung der schwedischen Ökonomie mit den internationalen Märkten. Daher traf die Finanzkrise die schwedische Ökonomie hart. Ähnlich wie in Deutschland kontrahierte die schwedische Ökonomie im Jahr 2009 um ca. fünf Prozent.

Die bürgerliche Koalition zögerte lange, bis sie nach Druck der Gewerkschaften, der Opposition aber auch einiger Ökonomen auf die Finanzkrise reagierte. Die Krisenpakete, die seit Herbst 2008 geschnürt wurden, überraschen in einigen Punkten.Nach ersten Stützungspaketen für den schwedischen Bankensektor erkannte die bürgerliche Koalition im Winter 2008/ 2009 explizit die herausragende Rolle des Wohlfahrtsstaates zur Dämpfung von konjunkturellen Einbrüchen an.Die sogenannten automatischen Stabilisatoren, die die inländische Kaufkraft mittels sozialpolitischer Sicherungsprogramme auch in Krisenzeiten stützen, sind in Schweden so hoch wie in keinem anderen OECD Land.

Ebenso überraschen die großzügigen Transferzahlen der nationalen Regierung an die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften. Sie sind die hauptsächlichen Arbeitgeber des schwedischen Wohlfahrtsstaates. Mit der Finanzkrise und den rückläufigen Steuereinnahmen drohen diesen Gebietskörperschaften weiter rückläufige Beschäftigungszahlen. Dies hat die bürgerliche Regierung mit den Budgets für das Jahr 2009 und 2010 abgewendet und sich bereit erklärt, Transfers an diese Gebietskörperschaften zu tätigen, um die dortige (staatliche) Beschäftigung zu stabilisieren.

Es überrascht auch, dass die bürgerliche Koalition zur Bekämpfung der Arbeitsmarktkrise verstärkt auf die (sozialdemokratische) aktive Arbeitsmarktpolitik setzt. Entgegen dem kontinentaleuropäischen Trend werden in Schweden wenige direkte Subventionen - z.B. für die Automobilindustrie - eingesetzt. Die Stützung der Exportindustrie konzentriert sich auf staatliche Ausfallbürgschaften und Kreditgarantien. Direkte (zeitlich befristete) Subventionen existieren allenfalls im Rahmen von Steuernachlässen für Dienstleistungen, die sich auf den Haushalt und die Instandhaltung von Wohneigentum konzentrieren.

Damit folgt die bürgerliche Koalition einer (zumindest in Schweden) genuin sozialdemokratischen Politik, wirtschaftlichen Wandel nicht zu blockieren, sondern dessen Folgen so zu flankieren, dass die davon betroffenen Arbeitnehmer wieder rasch in Arbeit kommen.

Schließlich ist bemerkenswert,dass die bürgerliche Regierung verstärkt - wenngleich nicht so umfassend wie vor der Krise - die freiwilligen Arbeitslosenversicherungen finanziert. Vor dem Hintergrund einer rasch zunehmenden offenen Arbeitslosigkeit stellt die zunehmende Anzahl von Erwerbstätigen ohne Arbeitslosenversicherungen ein brisantes Problem dar.


Renaissance sozialdemokratischer Politik?

Während die bürgerlichen Parteien aufgrund ihrer Krisenpolitik seit Herbst 2008 in der Wählergunst durchaus punkteten, scheinen sich jüngst die Präferenzen der schwedischen Wähler stärker dem linken Lager zuzuneigen. Meinungsumfragen zufolge führt das linke Lager mit einem knappen Vorsprung.

Allerdings belegen diese Umfragen auch, dass die rechtspopulistischen Schwedendemokraten zulegen. Sie liegen gegenwärtig knapp über der für das schwedische Wahlsystem kritischen 4 %-Hürde. Damit könnte sich eine rechtspopulistische Partei als Zünglein an der Waage zwischen den politischen Lagern etablieren.

Die bürgerliche Krisenpolitik im sozialdemokratisch-schwedischen Modell nahm im Verlauf der Finanzkrise einige Reformen zurück, die auf Entstaatlichung abzielten. Klassische sozialdemokratische Politiken gehören nun zum politischen Repertoire der Mitte-Rechts-Parteien. Die Wahl im September 2010 wird auch an der Frage entschieden, ob die Wähler bereit sind, höhere Steuern - wie vom linken Lager gefordert - zu akzeptieren.


Sven Jochem (*1966) vertritt im SS 2010 die Professur für international vergleichende Politikfeldanalyse an der Universität Bamberg. 2009 erschien im Lit-Verlag Reformpolitik im Wohlfahrtsstaat - Deutschland im internationalen Vergleich.
sven.jochem@uni-bamberg.de


*


Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2010, S. 21-23
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-71 51, -52, -53
Telefax: 030/26 935-92 38
ng-fh@fes.de
www.ng-fh.de

Die NG/FH erscheint monatlich, wobei die Hefte 1+2
und 7+8 im Januar bzw. Juli als Doppelheft erscheinen.
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. August 2010