Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

EUROPA/814: Portugal - "Kultur geht vor Finanzwelt in die Knie", Interview mit Regisseur Fonseca (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. November 2011

Portugal: "Kultur geht vor Finanzwelt in die Knie" - Interview mit Regisseur Fonseca

von Mario Queiroz

Der portugiesische Regisseur José Fonseca e Costa - Bild: © Katalin Muharay/IPS

Der portugiesische Regisseur José Fonseca e Costa
Bild: © Katalin Muharay/IPS

Lissabon, 16. November (IPS) - Die einschneidenden Kürzungen des portugiesischen Staatshaushalts 2012, die der Internationale Währungsfonds (IWF), die Europäische Union und die Weltbank zur Bedingung für einen Milliarden-Kredit machten, haben dramatische Auswirkungen auf die Kultur des Landes. Nach Ansicht des prominenten portugiesischen Filmregisseurs José Fonseca e Costa dienen sie einzig und allein dazu, die EU, diesen "Unhold des Missmanagements und der Vergeudung von Geldern", zufriedenzustellen.

"Vor den Finanzmärkten, die die Spielregeln diktieren, ist die portugiesische Kultur in die Knie gegangen", kritisiert der 78-Jährige, ein ehemaliger Assistent von Michelangelo Antonioni und Mitbegründer des portugiesischen 'Cinema Novo', im IPS-Gespräch. "Alle wissen allerdings, dass wir immer als armer Verwandter am Verhandlungstisch saßen, wenn über den Staatshaushalt debattiert wurde. Das war in den vergangenen Jahren unter allen Regierungen so."

Nach einem Abkommen mit Lissabon im Mai hatten die EU, der IWF und die Europäische Zentralbank unter anderem eine substanzielle Kürzung der Staatsausgaben, Erhöhungen der Tarife für öffentliche Personenbeförderung, Wasser, Gas und Strom sowie eine Anhebung der Mehrwertsteuer auf 23 Prozent für die meisten Produkte verlangt.


Golfen zu Vorzugssteuer

Um das Vertrauen an den internationalen Märkten wiederzugewinnen, ging Portugals Regierungschef Pedro Passos Coelho sogar noch einen Schritt weiter. Er erhöhte die Mehrwertsteuer auf alle Waren und Dienstleistungen im Kulturbereich von sechs auf 23 Prozent. Wie politische Beobachter kritisierten, gilt für die von Millionären genutzten Golfplätze hingegen ein Vorzugssteuersatz von nur acht Prozent.

Fonseca e Costa, der in der damaligen Kolonie Angola geboren wurde und seit 1945 in Lissabon lebt, wirft allen bisherigen Kulturministern vor, die Ausgaben erhöht und zugleich die Investitionen in Kulturgüter gesenkt zu haben. Von wenigen Ausnahmen abgesehen seien das Ressort und seine Dienstleistungen zu "ineffizienten bürokratischen Maschinen" geworden. Oftmals hätten die Unterhaltskosten jedes erträgliche Maß überstiegen.

"Die Grundlagen des Neoliberalismus dürfen meiner Ansicht nach den Staat nicht in eine Abhängigkeit von der Wirtschaft bringen", sagt der streitbare Regisseur. Derjenige, der regiere, habe durch das Votum des Volkes ein Mandat erhalten, um seine Arbeit zu tun und nicht, um seine Befugnisse anderen zu überlassen.

Bildung, Forschung, Gesundheit und Kultur sind essentiell für die Existenz eines souveränen Staates wie Portugal, der sich rühmt, die älteste Nation Europas zu sein", erklärt der Cineast. "Kein Mitglied der Regierung sollte dies vergessen."


Befreiung der Künste aus staatlicher Vormundschaft

Die Künste aus der Obhut des Staates zu befreien, bezeichnete Fonseca e Costa als "noble Idee in einem Land, in dem der Markt reguliert und die Verbreitung nationaler Kulturgüter geschützt ist. In Portugal ist das aber nicht der Fall." Er beklagte, dass das Land vorwiegend von angelsächsischen Kulturerzeugnissen dominiert werde. Vor allem im audiovisuellen Bereich und in der Telekommunikation sei das Fehlen einer Gesetzgebung, die Portugals eigene Kompetenzen stärke, "eklatant und skandalös".

Der Regisseur kritisierte außerdem, dass es in seinem Land kein eigenes Kulturministerium mehr gibt. Das Ressort ist dem Regierungschef direkt unterstellt. "Wenn die Kultur vom Premierminister abhängig ist, besteht der Vorteil immerhin darin, dass sie nur den Kriterien des Regierenden unterliegt, von dem man annimmt, dass er gebildet ist. Andernfalls müsste die Kultur am Kabinettstisch mit einer 'Bande' von Fanatikern kämpfen, die sie in den nationalen Haushalten immer zurückdrängen wollen." (Ende/IPS/ck/2011)


Link:
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=99544

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH


*


Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 16. November 2011
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. November 2011