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LATEINAMERIKA/1029: Kolumbien - "Die Gewalt hat viel verändert" (ask)


Kolumbien-Monatsbericht Juni/Juli 2009

"Die Gewalt hat viel verändert"
Ein Erfahrungsbericht aus dem Chocó

Von Philipp Lustenberger


Während eineinhalb Jahren hat Philipp Lustenberger in der Region Chocó gearbeitet. Für die Klaretianermissionare koordinierte er ein von HEKS unterstütztes Projekt zur Stärkung und Begleitung afrokolumbianischer Dorfgemeinschaften in der Konfliktzone und zur Durchführung soziokultureller Aktivitäten mit Kindern und Jugendlichen. In seinem Bericht erzählt er aus dem Leben in den Dörfern des Arquíaflusses.

Die Anreise

Heute haben wir Glück, es hat noch nicht geregnet. Mit unserem Holzboot sind wir in einer der regenreichsten Regionen der Welt unterwegs, im Regenwald des Chocó im Nordwesten Kolumbiens. Seit gut vier Stunden kurven wir, begleitet vom eintönigen Rattern des Aussenbordmotors, den Atratofluss hinunter. Nur der Fahrtwind macht die brennende Sonne einigermassen erträglich. Endlich taucht zwischen den Bäumen das Dorf Tagachí auf, hier legen wir an und machen uns an die Arbeit. Einige Jungen helfen Royden das Fass mit dem Benzin für die Rückreise in ein Haus am Ufer zu schleppen. Indalecio organisiert die Lebensmittel, Liris und ich kümmern uns um das restliche Material. Wir dürfen nicht zuviel Zeit vertrödeln, wenn wir unser Ziel noch vor dem Eindunkeln erreichen wollen, denn der verbleibende Weg ist unberechenbar - in jeder Hinsicht.

Mit beladenem Boot geht es wieder ein Stück den Atrato rauf und bevor wir links in den Seitenfluss Arquía einbiegen, gilt es noch den letzten Checkpoint zu passieren. Die Marineinfanteristen kennen uns, doch das Prozedere ist immer das gleiche: Die Angaben aus unseren Identitätskarten werden in ein Schulheft eingetragen. "Seid ihr von der Kirche?" "Wohin fahrt ihr?" "Was führt ihr mit?" Höflich aber knapp beantworten wir die Fragen. Zum Schluss rät uns der Kommandant noch aufzupassen, dann geht die Fahrt weiter. Das Wasser im Arquía ist klarer und sein Lauf schmaler. Zwischen dem üppigen Wald sehen wir gelegentlich einige Plátano- (Kochbananen) und Früchtefelder. Die Bauern, die in ihren Fincas ('Feldern') am Ufer arbeiten oder die Champa, den kleinen Einbaum, mit einer langen Holzstange (Palanca) heimwärts stossen, schenken uns Avocados und Zapotes (mangoähnliche Frucht). Als wir am Dorf Puerto Medellín vorbeifahren, grüssen uns die Frauen, die am Fluss ihre Töpfe waschen. Einige Buben spielen im Wasser. Die Afrokolumbianer im Chocó[1] lernen früh schwimmen, ist doch der Fluss die Lebensader ihrer Kultur. Die Buben rufen, dass sie uns bereits erwarten. Das dauert aber noch, Puerto Medellin wird die letzte Station sein auf dieser Projektreise.

Jeden Monat verbringen wir drei Wochen im Arquía und begleiten acht Dorfgemeinschaften. Inzwischen kenne ich die meisten Arquieñas und Arquieños - oder zumindest versuche ich das. Royden kommt aus dieser Region und erklärt mir jeweils die verworrenen Familienbeziehungen. Die Verwandtschaft wird hier nämlich bis mindestens in den dritten Grad gepflegt. Nach Puerto Medellín kommt Playita, ein Dorf das nur noch aus ein paar wenigen Häusern besteht; dann Puerto Palacios, dessen Einwohnerzahl sich in den letzten sieben Jahren auf einen Drittel reduziert hat. Nun wird der Wasserlauf komplizierter, oft hat es Untiefen und die Stromschnellen machen knifflige und anstrengende Manöver notwendig. Royden steuert das Boot gekonnt und Indalecio, vorne an der Spitze stehend, hilft mit der Palanca und hält nach Wurzeln und anderen Hindernissen Ausschau. Manchmal müssen wir aussteigen und das Boot den Fluss hochschieben. Als wir die nächste heikle Stelle passieren, halten alle kurz den Atem an. Vor zwei Monaten ist unser Boot hier gekentert. Alles Material ging im wahrsten Sinne des Wortes 'agua abajo', den Bach runter. In der Not kam uns die Guerilla zur Hilfe. Zwei Milizionäre halfen die Spitze des Bootes, welche sich unter dem Druck der Wassermassen regelrecht in den Sand gegraben hatte, wieder frei zu schaufeln. Das Zusammentreffen mit der FARC ist hier keine Seltenheit, wenn möglich geht man sich aber aus dem Weg. Mit Hilfe der Männer und Frauen aus Puerto Palacios kriegten wir schliesslich das Boot wieder frei und machten auf den Steinen eine Auslegeordnung. Alles war nass: die Kleider, Musikinstrumente, der DVD-Player und die Lebensmittel. Auf jener Reise war unser Menüplan weniger abwechslungsreich, da die Hülsenfrüchte, Kartoffeln und Teigwaren nicht mehr geniessbar waren.

Diesmal kommen wir aber gut voran und erreichen Boca de Vidrí noch vor der Dämmerung. Das ganze Dorf begrüsst uns und gemeinsam entladen wir das Boot. Einige Familien haben eben noch den frisch geernteten Reis, den sie zum Trocken auf dem lehmigen Dorfplatz ausgebreitet hatten, in grosse Säcke gepackt. Jhoan[2] berichtet mir, dass wir heute bei ihm zum Essen eingeladen sind. Im Dorf wechseln sich die Frauen mit dem Kochen für uns ab und jede Familie steuert etwas bei: Plátanos, Reis oder Früchte - was eben gerade vorhanden ist. Stolz erzählt Jhoan, er habe noch Guacucos für uns geangelt. Die Jugendlichen tauchen mit Speeren nach diesen kleinen Schalenfischen, die sich unter grossen Steinen verstecken. Jhoan ist 17 Jahre alt und wohnt bei seiner Mutter. Jeden Tag geht der den eineinhalbstündigen Weg nach Vegaez, wo er nächstes Jahr die Sekundarschule abschliessen wird.[3] Er ist sehr intelligent und wissbegierig, immer wieder hat er knifflige Fragen für mich. Während wir uns in der Hütte einrichten, wird es auch schon dunkel im Arquíatal. Es regnet noch immer nicht, und so erleben wir ein kräftiges Farbenspiel, bevor die Sonne am grünen Horizont untergeht. Vidrí liegt höher als der Atratofluss und im Osten sieht man die Berge, welche den Übergang von der Pazifikregion zum zentralen Kolumbien markieren.

Filmabende als grosses Spektakel

Als wir bei Jhoan eintreffen, steht das Essen schon bereit. Die Mutter hat auf dem Holzfeuer Guacucos fritiert und Plátanos gekocht, dazu gibt es 'agua panela' (Getränk aus Rohrzucker). Die Häuser, jeweils mit einer kleiner Stube und zwei oder drei Zimmern, sind aus Holz gebaut und stehen auf Pfählen, um die Feuchtigkeit abzuhalten. Die Dächer sind aus Palmblätter oder Wellblech. Die Küche ist hinten angebaut, an der Vorderseite gibt es oft eine kleine Terrasse, von der aus man im Trockenen sitzend den stundenlangen Regenschauern zusehen kann.

Dort stehen auch schon ein paar Kinder und sehen uns durchs Fenster beim Essen zu. Rosa, Jhoans Mutter, erzählt von der Reisernte, die bisher durchschnittlich ausgefallen ist. Morgen muss Jhoan die Schule schwänzen, denn man will vom trockenen Wetter profitieren. Da die mechanische 'Trilladora' (Dreschmaschine) in Puerto Palacios kaputt ist, muss der Reis nach dem Trocknen von Hand gedroschen werden. Die meisten Familien lagern den Reis in Säcken für den Eigenkonsum und verkaufen nur einen kleinen Teil. Der manuell bearbeitete Reis erzielt auf dem Markt in der Departementshauptstadt Quibdó sowieso keinen guten Preis. Die Nachbarin fragt, was wir heute für einen Film zeigen würden. Liris hat "Cool Runnings" ausgewählt. Wir wechseln jeweils ab zwischen guten Unterhaltungsfilmen und solchen zu spezifischen Themen. Rosa meint, der Film über Gandhi hätte ihr sehr gut gefallen - davon könne man hier noch viel lernen.

Nach dem Essen geht der Tumult los, die Filmabende sind ein grosses Spektakel. Die Kinder und Jugendlichen installieren den Beamer im Schulzimmer. Auch hier im Regenwald, wo es noch keine Handys und Computerspiele gibt, begeistern sich die Jungen für die Technik. Hinten im Schulzimmer stehen fünf neue PCs mit Flachbildschirmen. Vor zwei Monaten hat die Regionalregierung dem Dorf diese Computer "geschenkt". Doch viel bringt das den Leuten aus Vidrí nicht, denn entgegen der Behauptung des zuständigen Bürgermeisters gibt es hier gar keinen Strom. Die Korruption in der Region ist verheerend.

Der Film über die schwarzen Jamaikaner, die an der Bob-Olympiade teilnehmen, kommt an. Es wird viel und herzlich gelacht. Mit dem Lied "I can see clearly now, the rain is gone..." von Jimmy Cliff geht der Film zu Ende und Alt und Jung zieht sich in die Häuser zurück. Im Arquía geht man früh schlafen - der Tag richtet sich nach dem Sonnenlicht. Es hat noch immer nicht geregnet und so wird es eine schwüle Nacht.

Kindern und Jugendlichen eine Alternative zum Krieg bieten

Die Diskussion über den Film findet am nächsten Tag bei der morgendlichen Körperhygiene und beim Kleiderwaschen am Fluss statt. Die Frauen schruppen, über die Waschbretter gebückt, und erklären sich gegenseitig die Handlung. Auch wir gesellen uns zu ihnen. Anfangs lachten mich die Frauen aus und boten an, meine Kleider zu waschen, doch ich geniesse das morgendliche Ritual mit Waschbrett und Bürste und erfahre so immer auch den neusten Tratsch. Nach der Teamsitzung und dem Mittagessen beginnt unser Nachmittagsprogramm. Das Projekt setzt auf soziokulturelle Aktivitäten mit Kindern und Jugendlichen, dem bewaffneten Konflikt sollen positive Alternativen entgegengesetzt werden. Die Kinder und Jugendlichen organisieren sich in verschiedenen künstlerischen Gruppen und in Sportmannschaften. Auch viele Erwachsene nehmen aktiv teil. Indalecio ist Musiklehrer und unterrichtet die traditionelle Musik der AfrokolumbianerInnen, die Chirimía. Mit den jüngeren Kindern macht er auf spielerische Weise Musik. Liris ist Tanz- und Theaterpädagogin und Royden macht Sportunterricht. Die verschiedenen Gruppen treffen sich regelmässig, üben und entwickeln ihre eigenen Ideen. Die Kinder und Jugendlichen sind nicht einfach nur passive Teilnehmer, sondern tragen die Projektaktivitäten mit. Kunst und Sport sorgen für ein gesundes Selbstbewusstsein und fördern die Bereitschaft, sich für die Gemeinschaft einzusetzen.

In den Gruppen werden Themen behandelt, welche die Kinder und Jugendlichen beschäftigen. So sind Liebe und Zukunftswünsche, aber auch der bewaffnete Konflikt und die Gewalt oft Thematik der Theaterstücke, welche von den Gruppen selber konzipiert werden. Im Sport wird der positive Umgang mit Konflikten geübt. Zu Beginn des Projekts haben wir beobachtet, wie aufgestaute Aggressionen beim Fussballspielen zum Vorschein kamen. Als Trainer und Schiedsrichter mussten Royden und ich in tätliche Auseinandersetzungen eingreifen. Gerade die Buben haben mehr gestritten als gespielt. Die Arquieños und Arquieñas wurden in den Krieg hineingeboren, das Leben ist von der Gewalt geprägt. Kaum jemand hier hat nicht Familienangehörige verloren, viele Nachbarn sind nach Quibdó oder Medellín geflüchtet. Die Angst ist allgegenwärtig - nicht nur wenn die Helikopter und Flugzeuge der Armee in der Luft sind. Man ist sich gewohnt, den Problemen mit Schweigen zu begegnen. Von Seiten der Armee und der Guerilla wird viel Druck auf die Zivilbevölkerung ausgeübt, was speziell für die Jugendlichen schwierig und gefährlich ist.

Das Projekt bietet Möglichkeiten, traumatische Erlebnisse zu verarbeiten und friedliche Wege des sozialen Engagements zu entdecken. Jhoan ist im Projekt richtig aufgeblüht: er spielt sehr gut Saxophon und peppte die zuvor mehrheitlich weibliche Tanzgruppe auf, indem er die Jugendlichen und die Männer aus dem Dorf zur Teilnahme animiert hat. Er hat sein Dorf auch schon an regionalen Treffen der COCOMACIA[4] vertreten und engagiert sich bei den Vorbereitungen für die berühmte Fiesta Patronal von Vidrí. Kürzlich verblüffte er mich mit einigen Fragen zum Zweiten Zusatzprotokoll der Genfer Konventionen. Einen Monat zuvor diskutierten wir in einem Workshop einige Prinzipien des Humanitären Völkerrechts. Ich vermied es jedoch, mich zu fest über die rechtlichen Grundlagen auszulassen. Stolz erzählte mir Jhoan, dass er kürzlich mit einem Delegierten des IKRK gesprochen und von diesem sogar ein Buch geschenkt gekriegt habe. Das Projekt soll den Kindern und Jugendlichen helfen, sich von der Gewalt abzugrenzen und ihre Rechte als Zivilbevölkerung einzufordern.

Die soziokulturellen Aktivitäten stärken nicht nur den Zusammenhalt im Dorf, sondern dienen auch als willkommene Ablenkung. Heute spiele ich mit den jüngeren Buben Fussball. Erfreut stelle ich fest, wie sie in den letzten Monaten zu einer Mannschaft zusammengewachsen sind: sie organisieren selbständig ihre Aufwärmübungen, wählen ihre Teams und leben das 'juego limpio' (fair play). Ich wurde als Schiedsrichter auserkoren, nicht weil sie einen solchen wirklich bräuchten, doch weil sie sich dann wichtiger vorkommen. Bei den Jugendlichen - Frauen und Männer - spiele ich meist mit und muss mir gelegentlich gefallen lassen, dass mich eine junge Dame barfuss oder mit Gummistiefeln ausspielt. Während ich jetzt dem Fussballspiel zusehe, ziehen am Himmel schwarze Wolken auf. Für einen kurzen Moment bewundere ich einen Regenbogen, dann beginnt es in Strömen zu regen. Die Jungen spielen weiter und ich ziehe mich unter das Vordach zurück.

Geschlechterbeziehungen als Diskussionsthema

Nach dem Eindunkeln nehmen wir ein kurzes Bad im Fluss und gesellen uns dann zu Yaffaidy und Leison. Yaffaidy hat Bohnen und Maiskolben gekocht. Sie ist 22 Jahre alt und Mutter des zweijährigen Crecencio. Vor ein paar Monaten wurde sie in den Gemeinschaftsrat von Vidrí gewählt. Die kolumbianische Verfassung sichert den AfrokolumbianerInnen ausgedehnte Minderheitsrechte zu, so zum Beispiel das kollektive Landeigentum und die lokale Autonomie. Jedes Dorf wählt seinen Gemeinschaftsrat, der sowohl administrative wie auch judikative Kompetenzen inne hat. Nach dem Abendessen besuche ich Saul, den wohl ältesten Arquieño.

Er sitzt auf einem Holzstuhl und schaut in die regnerische Nacht hinaus. Das Laufen bereitet dem 78-Jährigen Mühe, doch das Gedächtnis lässt ihn nicht im Stich. Saul erzählt mir von einer Zeit, als der Arquía nicht als 'zona roja' (Konfliktgebiet) bekannt war. In seiner Jugend gab es hier in Vidrí die 'aduana' (Zollhaus), eine Art Markthalle, die von einem Paisa[5] geführt wurde. Maultiere brachten Waren aus Antioquia über die Berge nach Vidrí. Hier wurden sie auf Boote verladen und nach Quibdó oder an die Atlantikküste verschifft. Der Arquía war damals eine wichtige Handelsroute für Stoffe, Seifen und andere Waren. "Die Gewalt hat so vieles verändert", meint Saul und geht schlafen.

Am Nachmittag des nächsten Tages organisieren wir einen Workshop. Neben den künstlerischen und sportlichen Aktivitäten behandeln wir auch spezifische Themen wie Menschenrechte, humanitäres Völkerrecht, ethische Werte und Konflikttransformation. Anfänglich liess die Schüchternheit der Kinder und Jugendlichen kaum interessante Debatten zu, doch mittlerweile sind sie selbstsicherer und nehmen aktiv teil. Die Workshops sind dynamisch aufgebaut, es gibt Gruppenarbeiten, Rollenspiele und Diskussionen. Heute thematisieren wir unter dem Titel "Género y Generaciones" die Beziehungen zwischen Frauen und Männern. Die Debatte wird heftig geführt, die jungen Frauen werfen den Männern Heuchelei vor. Lustigerweise wissen die kleinen Machos genau, was sich eigentlich gehören würde. Einige von ihnen geben sogar zu, dass die Frauen härter arbeiten, denn sie schuften nicht nur auf dem Feld, sondern kümmern sich nebenbei auch noch um die Wäsche, das Kochen und die Erziehung der Kinder. Am Ende schaffen wir es, Schlussfolgerungen aus den Diskussionen zu ziehen und einige Männer geloben sogar, in Zukunft etwas im Haushalt mitzuhelfen...

Der kriegerische Alltag im Arquía

Die drei Tage in Vidrí vergehen rasch und schon geht die Reise weiter. Wir erreichen Vegaez mühelos, denn der Regen hat den Wasserspiegel ansteigen lassen. Weit über das Tal hinaus ist der Arquía für seine Willkür bekannt. Erst vor zwei Monaten hat er sein Flussbett wieder geändert: Zuvor konnte man mit dem Boot direkt in einer kleinen Bucht vor Vegaez anlegen, nun müssen wir mit dem ganzen Material eine Insel überqueren und dann zwei kleinere Flussläufe durchwaten. Zum Glück sind die SchülerInnen der Sekundarschule gerade in der grossen Pause und so entledigen sich etliche von ihnen der Schuluniform, um die Kisten, den Motor, das Benzin, die Instrumente und unsere Rücksäcke in das kleine Haus hinter der Kirche zu tragen. Vegaez ist das Zentrum des Flusstals: es gibt eine Sekundarschule, ein Satellitentelefon und einen, wenn auch dürftig ausgerüsteten, Gesundheitsposten. Als die SchülerInnen sich wieder in ihre Klassenzimmer zurückziehen wird es still im Dorf. Die Frauen waschen am Fluss und die Männer arbeiten in den Fincas. Da das steilere Gelände für den Reisanbau kaum geeignet ist, wird in Vegaez vor allem Plátano und Mais kultiviert. Und natürlich auch Zuckerrohr, Avocados und eine unglaubliche Fülle von Früchten. Einige Männer betätigen sich im Holzabbau und die Frauen waschen gelegentlich Gold am Fluss. Früher haben viele Familien in ihren Fincas gewohnt und kamen nur selten ins Dorfzentrum. Als die Gemeinschaften begannen, ihre Schulen zu bauen, sind immer mehr Familien in die Dörfer gezogen. Und auch der bewaffnete Konflikt hat seinen Teil dazu beigetragen, dass die Menschen ihre Häuser auf den Fincas verlassen haben. In der Gemeinschaft fühlt man sich sicherer. Vor dem Mittagessen besuche ich noch das 'Casa Estudiantil', ein kleines Internat, das mit der Unterstützung des HEKS aufgebaut wurde. Hier wohnen zehn Sekundarschüler aus entlegenen Dörfern. Einige von ihnen sind zu Ferienbeginn jeweils bis zu vierundzwanzig Stunden zu Fuss unterwegs, um in ihre Dörfer in den Bergen zu gelangen. Auf der Terrasse sitzt Lucho und macht Hausaufgaben. Er kommt aus dem parallel gelegenen Flusstal Bevará. Mit 19 Jahren ist er der älteste Bewohner und kümmert sich um den Hausfrieden. Am Mittag essen die Jugendlichen in der Schule, morgens und abends kochen sie selber. Zum Internat gehört ein kleines Feld, das die Jugendlichen mit Hilfe der Lehrer selber bestellen. Immer wieder freut es mich zu sehen, wie gut sich die Jugendlichen organisieren. Das bestätigt auch Araldo, der Dorfpräsident und Nachbar des Internats. Er gesellt sich zu uns auf die Terrasse und lobt Lucho und seine Mitbewohner. Zusammen mit den Lehrpersonen hat Araldo das Projekt "Casa Estudiantil" initiiert. Das Dorf und die SchülerInnen haben beim Bauen kräftig angepackt.

Die Nachfrage für einen Platz im Internat ist gross, denn die Sekundarschule in Vegaez ist die einzige weit und breit. Für nächstes Jahr ist ein zweites Haus für Mädchen und junge Frauen geplant. Lucho teilt sich ein Zimmer mit seinem Bruder und zwei Jugendlichen aus seinem Dorf. Sie sind sehr dankbar, das Internat ist für sie die einzige Möglichkeit, das Bachillerato zu machen. Araldo fragt, ob Lucho denn übers Wochenende nach Hause gehen wolle. Eigentlich schon, meint er, er wolle dem Vater bei der Reisernte helfen. Doch der Dorfpräsident rät ihm davon ab, der Pfad über den Pass nach Bevará sei geschlossen. Als wir uns vom Internat entfernen erzählt mir Araldo, dass sich da oben die Armee und die Guerilleros der FARC gegenüberstehen. Araldo befürchtet, die Auseinandersetzungen könnten sich nach unten ins Tal verlagern - trauriger Alltag im Arquía.

Der Arquía als Spiegel der kolumbianischen Geschichte

Beim Mittagessen erzählt Justy von früher, als Vegaez noch viel grösser war. Jeden Sonntag habe es einen Markt gegeben, wo man fünf verschiedene Sorten Fleisch kaufen konnte. Aus dem ganzen Arquía und anderen Flusstälern seien die Leute nach Vegaez gekommen. Auch viele Indígenas kamen, um Waren zu kaufen und zu verkaufen. Und am Abend habe man getanzt. "El ambiente era muy sabroso - ein sehr schönes Leben", meint die 67-jährige Justy, die uns in Vegaez jeweils bekocht. Im Jahre 1950 erreichte die 'Violencia'[6] das Tal. Mit Jagdflinten und Macheten stellten sich die Arquieños der Chulavita[7] entgegen - vier Männer starben, unter ihnen Justys Vater, und Vegaez wurde vollständig niedergebrannt. Während den nächsten drei Jahren regierte der Terror im Arquía, immer wieder mussten sich die Bewohner im Regenwald verstecken, um der Gewalt zu entfliehen. 1956 wurde Vegaez wieder aufgebaut, doch das Leben im Arquía war nicht mehr dasselbe. Die Handelsroute durch das Flusstal verlor mit der Erschliessung des Atrato durch Motorboote und dem Bau einer Strasse von Medellín nach Quibdó an Wichtigkeit. Und auch die Gewalt sollte schon bald in den Arquía zurückkehren.

Justy kann man liebevoll als 'matrona' von Vegaez bezeichnen, sie ist im Gemeinschaftsrat aktiv und kümmert sich jeweils um die Gäste im Dorf. Ihre Koch- und Tanzkünste sind berühmt. Mit ihr wohnen Melida und Flaco, zwei ihrer Grosskinder. Melida ist 20 Jahre alt und wird dieses Jahr die Sekundarschule abschliessen. Ihre Eltern und Geschwister leben in Medellín. Sie wohnt in Vegaez, damit sie ihrer Grossmutter zur Hand gehen kann, und da das Leben hier billiger ist. Nach der Sekundarschule möchte Melida in Quibdó ein Studium als Krankenschwester absolvieren. Sie ist eine der wenigen, für die der Traum des Studiums realistisch ist, die älteren Brüder werden sie unterstützen. Ihre männlichen Mitschüler werden noch vor dem Schulabschluss zur Armee aufgeboten. Viele wird man wohl schon bald uniformiert in Quibdó, auf den Flüssen oder in den Wäldern antreffen können - der Militärdienst ist obligatorisch und Alternativen gibt es sowieso kaum. Nach geleistetem Dienst ist die Rückkehr in ihre Dörfer schwierig - um nicht zu sagen gefährlich. Seit den Achtzigerjahren ist die Guerilla im Arquía. Anfangs gab es selten Probleme mit den Bewaffneten, die Guerilleros benutzten die Region als Rückzugsgebiet und kamen nur gelegentlich in die Dörfer. Als dann ab 1997 die Paramilitärs zusammen mit der Armee den Atrato in Angst und Schrecken versetzen, begann auch für die Arquieños eine blutige Zeit. Trotz mehrmaligen Versuchen schafften es die Paramilitärs nicht in den Arquía einzudringen, doch viele lokale Führungspersonen, LehrerInnen und einfache Bauern wurden von der FARC der Kollaboration mit dem Feind bezichtigt und umgebracht. Die Guerilla setzte ihre eigenen Regeln mit roher Gewalt durch. Die Menschen lebten in ständiger Angst - viele Familien verliessen die Heimat und suchten in der Stadt Schutz. Da der Arquía als Guerillagebiet galt, wurden seine Bewohner ausserhalb des Tals von den Paramilitärs und den staatlichen Sicherheitskräften misshandelt. Die Stigmatisierung hält bis heute an. Im Zuge der 'demokratischen Sicherheitspolitik' von Präsident Uribe drang im Jahr 2006 zum ersten Mal die Armee mit ihren Contraguerilla-Einheiten in den Arquía ein. Seither leben die Dörfer zwischen den Fronten und werden von beiden Konfliktparteien unter enormen Druck gesetzt. Der Konflikt schränkt auch die wirtschaftlichen Möglichkeiten im Flusstal enorm ein. Justy sagt, sie verstehe, dass viele Jugendliche von hier weg wollen.

Am Nachmittag besuche ich die Krankenschwester. Sie wurde erst vor einem Monat hierhin versetzt, nach dem die Bevölkerung des Arquía über ein Jahr ohne medizinische Betreuung auskommen musste. Sie beklagt sich, dass kaum brauchbares Material vorhanden sei. Oft diagnostiziere sie Malaria, ohne aber das richtige Medikament verabreichen zu können. Zusammen mit ihr gehe ich zur Sekundarschule, sie möchte unsere Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen sehen. Als wir das Schulgelände betreten, schweift mein Blick auf das Feld hinter den einfachen Baracken. Hier haben die FARC vor nicht einmal drei Monaten Antipersonenminen gelegt. Zuvor hatte die Armee dort, in unmittelbarer Nähe zur Schule und zum Dorf, campiert und einen Helikopterlandeplatz errichtet. Das Gelände musste stillschweigend zur Speerzone erklärt werden, in absehbarer Zeit wird niemand die Minen entfernen. Wir haben den Kindern und Jugendlichen in Workshops erklärt, was das bedeutet. Ich frage mich, was diese Krankenschwester machen kann, wenn es einmal zu einem Unfall kommt. Wird das Opfer die achtstündige Reise ins Spital in Quibdó überleben? Wahrscheinlich nicht.

Es werden wieder Feste gefeiert

Am späteren Nachmittag treffe ich mich mit den LehrerInnen in der Kirche. Die Profes sind sehr engagiert, versuchen trotz Vernachlässigung durch die Behörden eine gute Grundausbildung zu ermöglichen und nehmen aktiv am Dorfleben teil. Die meisten von ihnen stammen aus der Region. Der Primarschullehrer Roberto, der Älteste im Kollegium, spricht ein kurzes Gebet, danach stellt er eine Traktandenliste zusammen. Justy, Araldo und einige weitere Mitglieder des Gemeinschaftsrates sind ebenfalls anwesend. Nur dank der guten Zusammenarbeit mit dem Rat und den LehrerInnen können wir unser Projekt effektiv umsetzen. Heute sprechen wir vor allem über die Schulgärten, deren Ertrag eine ausgewogene Mittagsmahlzeit für alle SchülerInnen gewährleisten soll. Das Terrain für den Garten ist vorbereitet, die Eltern und die SchülerInnen haben kräftig mitgeholfen, und die Gemüse, Früchte und Naturheilpflanzen sind schon gesät. Wir versuchen auch Bohnen zu ziehen, um dem Proteinmangel entgegenzuwirken. Im Arquía gab es nie viele Fische und die Jagd, sowie die Hühner- und Schweinezucht haben mit der Präsenz der bewaffneten Akteure drastisch abgenommen. Man geht nachts nicht mehr auf die Jagd, und die Tiere werden oft von den Soldaten gestohlen. Ausserdem machen die Checkpoints der Marine die Ein- und Ausfuhr von Waren schwierig. Roberto lobt die bisherige Arbeit. Dann sprechen wir noch über das Schulfest, welches nächsten Monat, nach über fünfjähriger Pause, endlich wieder gefeiert werden soll. Wir werden unsere Monatsplanung natürlich danach richten.

In Vegaez verbringen wir vier Tage. Am letzten Abend veranstalten die Jugendlichen noch einen Kulturabend in der Kirche, unser Generator sorgt für die Beleuchtung. Die verschiedenen Gruppen führen ihre Tanze, Musik- und Theaterstücke vor, Witze und Geschichten werden erzählt, Gedichte vorgetragen und Rätsel gestellt - ein gemütliches Beisammensein. Als wir am nächsten Morgen unser Material zusammenpacken, besucht mich Yorleidy. Sie ist aus dem Dorf Isleta, unserer nächsten Etappe. Die Nachricht, die sie überbringt, ist nicht gut: Gestern Abend haben sich die Soldaten im Dorfzentrum von Isleta niedergelassen und sogar in einigen Häusern eingerichtet. Yorleidy ist besorgt - sie ist gegen die Gewalt, doch ihr jüngerer Bruder ist bei den FARC. Viele Familien haben Angehörige bei der Guerilla. Immer noch kommt es vor, dass Kinder und Jugendliche der Guerilla beitreten - nur wenige werden mit Gewalt dazu gezwungen, doch von Freiwilligkeit kann in Anbetracht der schweren Situation, des Mangels an positiven Alternativen und der perfiden Rekrutierungsstrategien nicht die Rede sein. In einer Teamsitzung besprechen wir die Lage und beschliessen, nur mit wenig Material nach Isleta zu reisen, die Situation abzuklären und uns mit den Dorfbewohnern zu beraten.

Soldaten in der Schule

Die Fahrt nach Isleta ist beschwerlich, mit einer zweiten Palanca versuche ich meinen Teil zum Vorankommen beizutragen. In Isleta begrüssen uns einige Jungen. Alvaro, ein cleverer und vorwitziger 12-Jähriger meint, er und seine Freunde warteten schon seit gestern hier am Ufer. Die Jungen wollen helfen, das Boot zu entladen. Doch wir bitten sie, damit noch zu warten. Sie verstehen, sind aber nicht sonderlich erfreut. Royden bleibt beim Boot, wir anderen gehen auf dem schmalen Pfad zum Dorf. Einige Soldaten haben ihre Biwaks am Dorfeingang aufgestellt. Auf Distanz sind die Männer schwer von der Guerilla zu unterscheiden, viele Guerilleros der FARC benützen dieselben Uniformen wie die Armee. Wir werden beobachtet. Als wir auf den kleinen Dorfplatz treten, kommt ein Offizier auf uns zu. Wir stellen uns als Vertreter der Diözese Quibdó vor. Der Offizier weiss, dass wir die Präsenz der Truppe mitten im Dorf nicht gutheissen und meint, einige seiner Männer hätten Malaria, sobald sie wieder gesund seien, würden sie sich zurückziehen - immer die gleiche Leier. In der kleinen Schule haben Soldaten ihre Hängematten aufgehängt.[8] Im Haus von Ofelia treffen wir Maria, die engagierte Primarschullehrerin und Dorfpräsidentin von Isleta. Sie hat die Schule ausfallen lassen, da sie die Kinder nicht in Gefahr bringen wollte. Maria berichtet, dass der Gemeinschaftsrat eine Aussprache mit dem Kommandanten beantragt habe und bittet uns, ebenfalls teilzunehmen. Während Ofelia das Mittagessen zubereitet, bespricht der Rat das Vorgehen. Einigen Dorfbewohnern, deren Fincas sich nahe dem Dorfzentrum befinden, wurden Plátanos und Früchte entwendet. In zwei leerstehenden Häusern wurden die Türen aufgebrochen. Der Rat bereitet ein Communiqué vor und beschliesst, die Sitzung mit dem Kommandanten in Anwesenheit des ganzen Dorfes im Freien abzuhalten. Es ist keine Seltenheit, dass Soldaten die Dörfer besetzen. Ihre Anwesenheit ist nicht nur eine Gefahr für die Dorfbewohner, sie führt auch zu verschiedenen weiteren Problemen: vom Diebstahl und Unterrichtsausfall bis zur Prostitution und Vergewaltigung von Mädchen und Frauen. Andererseits ist auch die Guerilla immer informiert, wer in welcher Form Kontakt mit den Soldaten hat. Obwohl die FARC heute betonen, nicht gegen Frauen vorzugehen, die sich ,freiwillig' oder nicht mit Soldaten eingelassen haben, so sind Repressalien der FARC für den Kontakt mit Soldaten, und sei es auch nur ein erzwungenes Gespräch, nicht ausgeschlossen.

Nach dem Mittagessen versammeln wir uns auf dem Dorfplatz. Die Mitglieder des Gemeinschaftsrats setzen sich auf die bereitgestellten Stühle. Um sie herum versammelt sich die übrige Dorfbevölkerung. Nach kurzer Zeit tauchen einige Soldaten auf: zwei Offiziere und eine kleine Leibgarde. Die Männer haben eine ernste Miene aufgesetzt. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde liest Maria mit klarer Stimme das Communiqué vor. Doch schon während sie spricht, verdüstern sich die Gesichtszüge des wortführenden Offiziers weiter. Er hat ein breites, rötlich gefärbtes Gesicht. Stehend, das Maschinengewehr umgehängt, blickt er in die Runde. Als Maria mit einigen freundlichen, aber bestimmten Worten die Stellungsnahme des Dorfes schliesst, ergreift der Offizier das Wort: die Armee kämpfe im Namen des kolumbianischen Volkes und erfülle einen Verfassungsauftrag. Er spüre eine linksgerichtete Einstellung und wisse, dass viele im Dorf mit der Guerilla kollaborierten. Die von Maria gemachten Aussagen seien gegenstandslos und sowieso müsse er sich von ein paar Bauern nichts sagen lassen! Man kann die Anspannung auf dem Dorfplatz förmlich spüren. Ich habe diese Taktik schon oft beobachtet: die Leute sollen eingeschüchtert und mundtot gemacht werden. Die Soldaten lassen keine Kritik zu. Nun meldet sich Julio, ein intelligenter älterer Mann, und sagt, das Dorf respektiere und schätze die Arbeit der Armee. Viele Familien hätten Söhne im Dienst. Doch bitte man den Kommandanten, die Sicherheit und den Frieden im Dorf zu respektieren. Das Dorfreglement verbiete die Stationierung jeglicher bewaffneter Akteure in der Umgebung des bewohnten Gebiets. Auch ich ergreife das Wort. Von den Klaretianerpriestern habe ich gelernt, dass eine Mischung aus rationeller, rechtlicher und moralischer Argumentation von den Militärs am ehesten gehört wird. Oft war ich bei solchen Besprechungen anwesend und habe die Reaktionen der Kommandanten beobachtet. Während ich spreche, fixiert mich der Offizier mit scharfem Blick. Ich erwähne das Gesetz Nr. 70 (Ley 70), welches die Autorität der Gemeinschaftsräte auf ihrem Territorium regelt. Es handle sich hier nicht nur um Bauern, sondern nach kolumbianischem Gesetz um die Vertreter des Dorfes. Ich erwähne das Humanitäre Völkerrecht, dem der legitime Verfassungsauftrag der Armee untersteht, und appelliere, die schwierige Situation der Dörfer zwischen den Fronten zu respektieren. Taktisch deute ich die Aussage des Bataillonkommandanten gegenüber der Diözese an, wonach die Präsenz der Truppen in den Dörfern nicht zulässig sei. Nach einigen weiteren Voten durch die Dorfvertreter ändert der Offizier die Strategie: in kurzen Worten versichert er, die Truppe werde sich bald zurückziehen. Die Zivilbevölkerung liess sich nicht einschüchtern! Der Offizier wird zusammen mit dem Rat den Schaden in den geplünderten Fincas begutachten. Nach der öffentlichen Aussprache verlangt der Offizier noch ein Gespräch mit Maria und mir. Seine Motivation ist klar: die Angelegenheit soll hier geregelt werden, er will eine Meldung ans Regionalkommando verhindern. Nochmals erwähne ich, dass die Kirche die Präsenz der bewaffneten Akteure in den Dörfern missbilligt und die Respektierung der Dorfreglemente und des Humanitären Völkerrechts einfordert. Maria bedankt sich bei den Offizieren. Am nächsten Morgen sind die Soldaten wirklich verschwunden. Ob das mit dem Gespräch vom Vortag oder mit militärischen Überlegungen zu tun hat, wissen wir nicht. Aber Isleta wurde sicherlich nicht zum letzen Mal von bewaffneten Akteuren heimgesucht.

Wieder zurück nach Quibdó

Nach drei Wochen in den Dörfern fahren wir wieder den Arquía runter und den Atrato hoch nach Quibdó. Am Abend wundere ich mich über den Lärm in der Departementshauptstadt und gehe für einmal alleine essen. Ich bin müde und schlafe am nächsten Morgen aus. Als ich aus der Dusche komme, klingelt mein Handy: eine unbekannte Nummer - nichts seltenes hier in Kolumbien, wo man sich die Anruf-Minuten bei einem Strassenverkäufer kauft. Am anderen Ende grüsst mich Pedro, der Lehrer von Belén, der kleinsten Gemeinschaft am Arquía. Er erzählt, dass er auf dem Hügel hinter dem Dorf Empfang entdeckt habe und wünscht mir einen schönen Tag. Auch im Arquía gibt es jetzt Mobiltelefone!


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Anmerkungen:

[1] Die Bevölkerung des Departements Chocó setzt sich aus 85% Afrokolumbianern, 9% Indigenas und 6% Mestizen zusammen. Die Afrokolumbianer (auf Spanisch 'Afrocolombianos' oder 'Afrodescendientes') im Chocó sind Nachfahren der Sklaven, die von den spanischen Kolonialherren aus Afrika hierhin gebracht wurden, um in den Goldminen zu arbeiten. Politisch gehören die Dörfer im Arquíafluss zwar zum Departement Antioquia, doch kulturell und geographisch wird die Region zum Chocó gezählt.

[2] Die Tatsachen im Bericht entsprechen der Wahrheit, die Namen und Umstände wurden jedoch soweit geändert, dass keine Rückschlüsse auf die Identitäten der einzelnen Personen gezogen werden können.

[3] Die Primarschule dauert in Kolumbien fünf Jahre, die Sekundarschule sechs. Das Bachillerato Superior nach elf Schuljahren ermöglicht theoretisch den Zugang zu einer höheren Ausbildung.

[4] Consejo Comunitario Mayor de la Asociación Campesina Integral del Atrato (Oberster Gemeinschaftsrat der Integralen Bauerngemeinschaft des Atrato): Verbund von 120 lokalen Gemeinschaftsräten in der Region des Mittleren Atrato.

[5] Übername für Kolumbianer aus dem Departement Antioquia, wird von den AfrokolumbianerInnen im Chocó jedoch oft als genereller Begriff für "Weisse" verwendet.

[6] Bezeichnung für den Bürgerkrieg zwischen Liberalen und Konservativen, der nach der Ermordung des linkspopulistischen Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliécer Gaitán am 9. April 1948 in Bogotá eskalierten und auf nationaler Ebene bis 1953 andauerte.

[7] Die sogenannte 'Policia Chulabita' war eine Miliz der Konservativen, die während des Violencia gegen 'Liberale' vorging.

[8] Ein Grundprinzip des humanitären Völkerrechts verlangt die Unterscheidung von Kombattanten und der Zivilbevölkerung. Durch die Niederlassung im Dorfkern verletzt der entsprechende bewaffnete Akteur dieses Prinzip und nimmt die Zivilbevölkerung praktisch als Schutzschild. Bei einem eventuellen Angriff ist die Zivilbevölkerung einer grossen Gefahr ausgesetzt. Schulen, Kirchen und Gesundheitseinrichtungen sind speziell geschützte Gebäude.


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Quelle:
Kolumbien-Monatsbericht Juni/Juli 2009, Nr. 6/7 2009
Herausgeber: Bruno Rütsche, ask Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien
Fachstelle Frieden und Menschenrechte
Postfach 7004, CH-6000 Luzern 7 / Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juni 2009