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LATEINAMERIKA/1076: In Venezuela spitzt sich der Klassenkampf wieder zu (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 7 vom 19. Februar 2010
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Mit Marx und Christus
In Venezuela spitzt sich der Klassenkampf wieder zu

Von André Scheer


Nach Monaten verhältnismäßiger Ruhe spitzt sich die politische Lage in Venezuela wieder zu. Aus dem südamerikanischen Land erreichen uns wieder Meldungen über gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen der Polizei, rechten Oppositionsgruppen und Unterstützern der revolutionären Regierung von Präsident Hugo Chávez. Am 1. Februar warnte Carlos Aquino vom Politbüro der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV) bei einer Pressekonferenz im Parteisitz "Cantaclaro" in Caracas, dass eine Eliteeinheit des kolumbianischen Militärs in Venezuela eingedrungen sei, um führende Repräsentanten des revolutionären Prozesses zu ermorden. Diese Truppe halte sich wahrscheinlich bereits in der Hauptstadt Caracas auf, warnte Aquino, der zugleich die Sicherheitskräfte und die revolutionäre Bewegung aufrief, angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um diese "faschistische Provokation" aufzudecken und zu neutralisieren. Aquino verwies in diesem Zusammenhang auf eine detaillierte Liste, die seiner Partei vorliege und in der das kolumbianische Kommando Kader der Revolution aufgeführt habe, die Ziel von Angriffen werden sollen. Auf dieser Liste stehe unter anderem PCV-Generalsekretär Óscar Figuera. Weitere Namen bekannter Aktivisten wollte Aquino nicht nennen, da dies mit den anderen Personen nicht abgestimmt sei und sich die PCV nicht autorisiert fühle, sie ohne Rücksprache öffentlich zu machen.

Venezuelas Kommunisten sehen in der Präsenz des kolumbianischen Militärs eine Provokation Bogotás, um die ohnehin zugespitzte Lage zwischen den beiden südamerikanischen Ländern weiter eskalieren zu lassen. Seit Wochen werfen sich Kolumbien und Venezuela gegenseitig Grenzverletzungen vor, die von der jeweiligen Gegenseite regelmäßig dementiert werden. Venezuelas Präsident Hugo Chávez hatte außerdem bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass paramilitärische Banden aus Kolumbien auf venezolanisches Staatsgebiet eingedrungen seien und besonders in den an Kolumbien grenzenden Bundesstaaten Venezuelas Terroraktionen gegen Bauernaktivisten und linke Organisationen durchführen. Chávez rief die Opposition auf, gewaltsamen Ausschreitungen endlich eine Absage zu erteilen und politisch gegen seine Regierung zu kämpfen. Wenn er wirklich verbraucht sei, wie es die Opposition behaupte, dann solle sie noch einmal versuchen, ihn durch ein Amtsenthebungsreferendum zu stürzen. "Organisiert euch und sammelt Unterschriften, niemand wird euch daran hindern", forderte der Präsident seine Gegner auf.

Die venezolanische Verfassung legt fest, dass jeder Inhaber eines durch Wahlen vergebenen Amtes nach der Hälfte seiner Amtszeit durch ein "Referendo Revocatorio" abgesetzt werden kann, wenn dabei mehr als 50 Prozent der Abstimmenden für ein vorzeitiges Ende der Amtszeit stimmen. Um ein solches Referendum anzustrengen müssen die Antragsteller die Unterschriften von 20 Prozent der Wahlberechtigten sammeln. Im August 2004 hatte sich Chávez bereits einmal einem solchen Referendum gestellt. Damals war er mit knapp 60 Prozent der Stimmen in seinem Amt bestätigt worden.

An einer politischen Auseinandersetzung haben die meisten Oppositionsgruppen jedoch kaum Interesse, denn trotz wachsender Kritik an Bürokratie und mangelnder Effizienz im Regierungsapparat, bleiben Hugo Chávez und die Bolivarische Revolution weiter populär, und die konkreten Erfolge nach elf Jahren Veränderungsprozess lassen sich sehen. Zumindest Teile der Opposition setzen deshalb auf Gewalt. So kamen im Januar in der Universitätsstadt Mérida zwei junge Menschen ums Leben, als sich rechte Oppositionsgruppen am Rande von Demonstrationen Auseinandersetzungen mit der Polizei und linken Unterstützern der Regierung lieferten. Hintergrund dieser Aktionen war die vorübergehende Abschaltung des kommerziellen Fensehsenders RCTV in den Kabelnetzen Venezuelas durch die Aufsichtsbehörde Conatel. Schon 2007 war dieser scharf regierungsfeindlich eingestellte Sender für die Opposition zu einem Symbol geworden, nachdem seine auslaufende Sendelizenz für die Ausstrahlung über Antenne nicht verlängert worden war. RCTV konnte den Sendebetrieb jedoch über Kabel und Satellit fortsetzen. Um die Bestimmungen der venezolanischen Mediengesetze zu umgehen, hatte der Kanal sich jedoch in "RCTV Internacional" umbenannt und seinen Sitz in die USA verlegt. Dazu gehören unter anderem die Verpflichtung, vor jeder Sendung mitzuteilen, für welches Alter ein Programm freigegeben ist. Auch gelten aus Jugendschutzgründen Sendezeitbeschränkungen für bestimmte Sendeformen wie die in Lateinamerika populären Telenovelas. Besonders verhasst ist dem Sender jedoch die für alle venezolanischen Sender geltende Verpflichtung, auf Anordnung der Regierung Ansprachen des Präsidenten zu übertragen.

Für die venezolanische Regierung blieb er jedoch ein nationaler Sender. Nachdem Conatel dem Sender eine Frist bis zum 2. August 2007 gestellt hatte, sich als nationales Programm registrieren zu lassen und sich an die Gesetze zu halten, klagte RCTV gegen die Regierung. Der Oberste Gerichtshof stellte daraufhin fest, die rechtliche Definition, was einen nationalen oder internationalen Sender ausmache, sei nicht ausreichend. Diese Lücke hat die Behörde nun geschlossen. Trotzdem weigerte sich RCTV auch weiterhin, die Gesetze einzuhalten. Daraufhin wurden RCTV und weitere Sender - deren rechtliche Situation aus anderen Gründen ungeklärt war - in den Kabelnetzen abgeschaltet. Ein Conatel-Sprecher sagte kurz darauf, im Fall von TV Chile und zwei US-amerikanischen Sendern stehe einer Wiedereinspeisung nichts im Wege, nachdem die Stationen fehlende Unterlagen nachgereicht haben. Auch RCTV könne den Betrieb wieder aufnehmen, sobald der Sender seine Registrierung als nationales Programm nachgereicht habe. Auch am 4. Februar, dem 18. Jahrestag des von Hugo Chávez geführten Aufstands gegen den damaligen sozialdemokratischen Staatschef Carlos Andrés Pérez, sorgten Oppositionsgruppen für Gewalt. Während zehntausende Unterstützer des Präsidenten durch Caracas zogen, um ihre Solidarität mit dem revolutionären Prozess zu demonstrieren, rotteten sich an der Plaza Brión im Mittelstandsviertel Chacaíto die Mitglieder rechter Oppositionsgruppen zusammen. Der von ihnen angekündigten Marsch war gegenüber den Behörden nie korrekt angemeldet worden, und Polizeisprecher wiesen außerdem darauf hin, dass die von den Rechten vorgesehene Route mindestens vier Mal auf die Demonstrationsstrecke der Linken gestoßen wäre. Deshalb untersagte die Polizei der Opposition die Route und schlug eine Ausweichstrecke vor. Das jedoch wurde von den Rechten ignoriert, die versuchten, gewaltsam die Polizeisperren zu überwinden. Für die internationalen Medienkonzerne lieferten sie so die gewünschten Bilder einer "Chávez-Polizei", die den "friedlichen Protest" der "demokratischen Opposition" niederschlug.

Diese Auseinandersetzungen geben einen Vorgeschmack darauf, was Venezuela in den kommenden Monaten bevorstehen könnte, denn am 26. September sind die Menschen aufgerufen, die Abgeordneten der Nationalversammlung zu wählen. Dann endet für die Unterstützer des revolutionären Prozesses eine äußerst bequeme Situation, denn bislang ist die Opposition im venezolanischen Parlament kaum vertreten. Kurz vor der letzten Wahl am 4. Dezember 2005 hatten die Parteien der rechten Opposition zum Boykott der Abstimmung aufgerufen. Zum einen wollte man damit eine sich abzeichnende Wahlniederlage vermeiden, zum anderen spekulierten die Regierungsgegner darauf, dass das Parlament ohne ihre Beteiligung keine ausreichende Legitimation haben würde. Doch die Rechnung ging nicht auf, der Wahlboykott wurde zu einem politischen Selbstmord der Opposition. Im Parlament konnte die damalige Bewegung Fünfte Republik (MVR) gemeinsam mit den verbündeten Parteien eine fast hundertprozentige Mehrheit erringen.

Diesen Fehler wird die Opposition in diesem Jahr nicht mehr begehen. Obwohl Präsident Chávez als Wahlziel ausgegeben hat, dass die mittlerweile gegründete Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Mandate erringen soll, sprechen mehrere Faktoren für die Opposition. Zwar sind ihre Parteien nach wie vor zersplittert, und eine Persönlichkeit, die als Integrationsfigur die verschiedenen Strömungen zusammenführen könnte, ist nicht in Sicht. Elf Jahre nach dem Amtsantritt von Hugo Chávez ziehen auch Verweise auf die Verantwortung von Parteien wie AD, Copei und anderen für die sozialen Verwerfungen der 90er Jahre nicht mehr. Hinzu kommen neue Kräfte, so die aus dem Chávez-Lager ausgescherte sozialdemokratische Partei Podemos, oder Gruppierungen aus dem studentischen Milieu.

Das stärkste Argument für die Opposition ist jedoch die schwache Bilanz von fünf Jahren absoluter Mehrheit der Chavistas im Parlament. Obwohl keine Gegner in der Nationalversammlung Gesetzesvorhaben blockieren konnten, sah sich Chávez gezwungen, Sondervollmachten zu beantragen, um wichtige Gesetze per Dekret durchsetzen zu können. Die Parlamentarier machten oft den Eindruck, als beschäftigten sie sich lieber mit dem Streit um Posten oder um das Verlesen großartiger Resolutionen, als mit der Kleinarbeit der Gesetzgebung.

Parlamentspräsidentin Cilia Flores sieht das natürlich anders. Bei ihrem Rechenschaftsbericht über die Arbeit der Legislative am 17. Dezember 2009 erklärte sie stolz, dass in den vergangenen zwölf Monaten 50 Gesetze verabschiedet worden seien. Allerdings gehören zu diesen Gesetzen auch die zahlreichen Ratifizierungen von internationalen Abkommen, die Chávez und seine Minister bei ihren Auslandsreisen unterzeichnet haben. Und so schrumpft die stolze Zahl 50 schnell auf eine überschaubare Größenordnung. Seit Monaten im Mittelpunkt der Parlamentsdiskussionen steht zum Beispiel die Neufassung des venezolanischen Arbeitsgesetzbuches, ein Projekt, das vor allem die Kommunistische Partei (PCV) vorantreiben möchte. Die meisten Parlamentarier der PSUV haben es hingegen gar nicht eilig damit. Sogar Verbesserungen im Interesse der Arbeiter, die zum Beispiel im Rahmen der letztlich gescheiterten Verfassungsreform 2007 schon Konsens der linken Parteien waren - so eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung - werden von PSUV-Parlamentariern plötzlich wieder in Frage gestellt, und das mit Argumenten, die an Debatten hierzulande erinnern: eine Arbeitszeitverkürzung sei für die Wirtschaft nicht finanzierbar, mehr Rechte für die Arbeiter würden die Produktivität gefährden usw. Tausende Gewerkschafter gingen deshalb vor einigen Wochen bereits auf die Straße, um gegen die Verschleppungstaktik dieser angeblichen Revolutionäre zu protestieren.

Es ist zu hoffen, dass sich in der PSUV die klassenbewussten Kräfte durchsetzen und nicht wieder, wie bei den Regionalwahlen 2008, eine sektiererische Haltung der Regierungspartei dazu führt, dass es im linken Lager zu Konkurrenzkandidaturen kommt. Damals hatte die PSUV ihre Kandidaten für die Gouverneure in den Bundesstaaten in internen Vorwahlen bestimmt. Die verbündeten Parteien sollten diese Kandidaten akzeptieren, ohne eigene Vertreter vorschlagen zu dürfen. In einigen Bundesstaaten führte dies dazu, dass mehrere linke Kandidaten gegeneinander antraten und so der rechten Opposition Chancen eröffneten. Auch im Vorfeld der diesjährigen Parlamentswahlen wollen offenbar einige Kräfte in der PSUV ihre Rolle als stärkste Partei ausnutzen und ein Wahlgesetz durchsetzen, das kleine Parteien benachteiligt und den großen Parteien in der Sitzverteilung Vorteile schafft.

Doch zumindest im Ministerium für Kommunikation und Information scheint man verstanden zu haben, dass eine klare Linie notwendig ist, wenn der revolutionäre Prozess weiter vorangetrieben werden soll. Auf seiner Homepage wirbt das Ministerium, das für die staatlichen Rundfunk- und Fernsehsender sowie für die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zuständig ist, für die jüngste Neuerscheinung im Hausverlag: Lenins "Staat und Revolution". Es ist das erste Mal, dass die venezolanische Regierung eine Schrift des russischen Revolutionärs herausgegeben hat, aber nicht das erste Mal, dass Analysen marxistischer Autoren hier erscheinen, seien es Salvador Allendes Schrift "Chiles Weg zum Sozialismus" oder eine Zusammenstellung von Reden und Schriften Che Guevaras über den Sozialismus.

Vor allem Präsident Chávez selbst, ein eifriger Leser von so ziemlich jedem Buch, das er in die Finger bekommt, greift regelmäßig auf Aussagen von Marx, Engels, Lenin, Rosa Luxemburg und anderen Revolutionären zurück, wenn es darum geht, seine Politik zu begründen. Bei seinem jährlichen Rechenschaftsbericht vor dem venezolanischen Parlament erinnerte Chávez am 15. Januar an das wenige Wochen zurückliegende Gipfeltreffen der Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas (ALBA) in Havanna, als er einen Brief von Fidel Castro verlesen hatte, der ihm unmittelbar zuvor übergeben worden war. "Darin sagte Fidel, dass sich, als wir uns vor 15 Jahren in Havanna zum ersten Mal trafen, ein Marxist mit einem Christ traf. Ich überlegte eine Weile, denn ich hatte den Brief vorher nicht gelesen, und sagte dann: 'Außer, dass ich Christ bin, bin ich auch Revolutionär, und ich bin auch Marxist. Zum ersten Mal erkenne ich an: Ich bin Marxist. Ich nehme den Marxismus an, wie ich das Christentum annehmen, den Bolivarismus, den Martianismus, den Sandinismus, den Sucrismus und den Mirandismus. Aber der Marxismus ist zweifellos die fortgeschrittenste Theorie zur wissenschaftlichen Interpretation der Geschichte und der konkreten Realität der Völker. Und der Marxismus ist zweifellos der fortgeschrittenste Vorschlag für die Welt, für das Reich Gottes auf Erden, das Christus vor mehr als 2000 Jahren angekündigt hat.'" Bisher hatte Chávez trotz seiner vielfältigen Bezüge auf Marx und andere Revolutionäre vermieden, sich selbst als Marxist zu bezeichnen. Noch im Juli 2007 hatte er erklärt, er respektiere den "marxistischen Weg", er selbst sei jedoch kein Marxist, weil dies eine "deterministische Vision des Sozialismus" sei. Determinismus ist laut dem Fremdwörterbuch die "Lehre von der Vorherbestimmtheit allen Geschehens".

Zum Umdenken beigetragen haben dürfte Chávez' Enttäuschung über eine ganze Reihe "sozialistischer Unternehmer", auf die er lange gesetzt hatte. Obwohl Venezuela von der Weltwirtschaftskrise nicht so stark in Mitleidenschaft gezogen wurde, wie andere Länder, wurde das Land Ende vergangenen Jahres doch von einer Bankenkrise erfasst. Zahlreiche Manager, die sich als "Revolutionäre" präsentierten, hatten ihre Positionen missbraucht, um mit dem Geld der Anleger zu spekulieren und sich selbst zu bereichern. Als mehreren Banken daraufhin der Zusammenbruch drohte, griff die Regierung durch. Mehrere Banker wurden verhaftet, darunter Arne Chacón, der Bruder des damaligen Innenministers. Dieser reichte daraufhin seinen Rücktritt ein, obwohl ihm selbst offenbar nichts vorzuwerfen war. Die betroffenen Banken wurden verstaatlicht, mehrere aufgelöst und die anderen zur neuen Staatsbank "Bicentenario" zusammengefasst. Mit diesem Namen erinnerte die Regierung an den in diesem Jahr begangenen 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Venezuelas und weiterer Länder Südamerikas.

Wenn Venezuela gemeinsam mit anderen Ländern diesen Weg weitergeht, könnte Realität werden, was Chávez in seinem Rechenschaftsbericht als Ziel unterstrich: "Beseitigen wir den Kapitalismus, nur so können wir die menschliche Gattung retten!"


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 42. Jahrgang, Nr. 7,
19. Februar 2010, Seite 9
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2010