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LATEINAMERIKA/1154: Mexiko - Mutter mit elf Jahren, Mädchen Opfer von Gewalt und Diskriminierung (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 24. September 2010

Mexiko: Mutter mit elf Jahren - Mädchen Opfer massiver Gewalt und Diskriminierung

Von Daniela Pastrana


Mexiko-Stadt, 24. September (IPS) - Die elfjährige Amalia kommt aus einer kleinen Gemeinde im südostmexikanischen Bundesstaat Quintana Roo. Im letzten Monat wurde das Mädchen, Opfer einer Vergewaltigung, zur jüngsten Mutter des Landes. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die ausufernde Gewalt, die Heranwachsende in Mexiko ausgesetzt sind. In jedem dritten mexikanischen Haushalt werden Kinder misshandelt oder missbraucht.

Mexiko gehört der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD, dem Zusammenschluss der reichsten Staaten der Welt. Was die Gewalt gegen Minderjährige angeht, nimmt das Land eine traurige Spitzenposition unter den 27 OECD-Mitgliedern ein. Nur Portugal steht noch schlechter da, wie eine Studie des Weltkinderhilfswerks UNICEF herausfand. In den lokalen Medien sind die Übergriffe selten ein Thema. Stattdessen dominieren Berichte über Morde im Zusammenhang mit Drogenhandel oder Menschenrechtsverletzungen.

In Quintana Roo auf der Halbinsel Yucatán wurden 2009 etwa 5.500 Kinder- und Teenagerschwangerschaften gemeldet. 16 Prozent der Fälle seien auf Vergewaltigungen zurückgingen, berichtet Juan Carlos Azueta, der Leiter der Gesundheitsbehörden des Bundesstaates. Die Zahlen entsprechen dem landesweiten Durchschnitt.


Indigene Mädchen dreifach diskriminiert

"Amalia ist ein Mädchen, eine Ureinwohnerin und arm und erfüllt somit gleich drei Kriterien für den gesellschaftlichen Ausschluss", sagt Juan Martín Pérez, der Geschäftsführer eines Netzwerks zum Schutz der Kinderrechte in Mexiko, dem mehr als 50 Organisationen angehören.

Die UNICEF-Studie fand ferner heraus, dass ein Großteil der physischen, sexualisierten oder psychologischen Gewalt, der Verwahrlosung oder der Diskriminierung unsichtbar bleibt oder vom sozialen Umfeld toleriert wird. Da die Informationen über derartige Delikte unzureichend seien, könnten zuverlässige geschlechtsspezifische Aussagen über Gewalt an Minderjährigen nicht gemacht werden, unterstreicht Pérez.

Eine 35-jährige Frau in Mexiko-Stadt, die als Teenager von einem Onkel vergewaltigt und schwanger wurde, erinnert sich noch gut an die schweren Zeiten, die sie als Kindmutter durchlebte. Sie sei mit ihrem Schicksal völlig allein gelassen worden, erzählt sie. "Erst nach mehr als 20 Jahren begann ich zu verstehen, was mit mir geschehen war."

Minderjährige Mütter geraten durch die erlittene Gewalt in einen tiefen Gefühlskonflikt. "Ich liebe meine Tochter, weiß aber oft nicht, wie ich mich ihr gegenüber verhalten soll", gesteht Gloria, deren älteste Tochter von einem Vergewaltiger gezeugt wurde. Gloria war damals 15 Jahre alt.


Mit Zwangsmutterschaft überfordert

"Ich bin verzweifelt und behandele sie oft ungerecht. Sie hat etwas an sich, das mich immer daran erinnert, wie sie geboren wurde." Niemand habe ihr beigebracht, wie sie mit ihrer Mutterrolle fertig werden solle, sagt das Missbrauchsopfer aus einem Vorort von Mexiko-Stadt.

"Mit 15 Jahren bin ich mit meinem Freund von zu Haus abgehauen", berichtet Citatli, die heute 45 ist. Sie kam damals vom Regen in die Traufe. Mit 17 Jahren hatte sie bereits zwei Kinder, von denen das zweite nach Schlägen ihres Partners zu früh zur Welt kam. "Ich habe immer Gewalt erfahren: durch meine Mutter, meine Brüder, meinen ersten Ehemann - und jetzt durch meine Kinder. Ich hoffe inständig, dass meine Enkel anders sind."

Doch auch die Gewalt setzt sich auch unter der jungen Generation fort, wie offizielle Untersuchungen belegen. Demnach beobachten 20 Prozent aller mexikanischen Schüler, wie Mädchen von einem oder mehreren Jungen in einem unbeaufsichtigten Winkel des Schulhofes sexuell belästigt werden.

Neuere Studien liefern einzelne Bausteine des unvollständigen Puzzles. In der letzten landesweiten Umfrage zu Gesundheit und Ernährung heißt es, dass sechs von 1.000 Mädchen im Alter von zwölf bis 15 Jahren schwanger werden. In der Altersgruppe der 16-bis 17-Jährigen sind es 101 von 1.000. Für die Verhütung, so die Ansicht von 60 Prozent der Jungen, sind allein die Mädchen zuständig.

Nach Erkenntnissen der Mädchenschutzorganisation 'Die Kindheit zählt - 2009' gehören minderjährige Mütter ebenso wie Ureinwohnerinnen und behinderte Jugendliche zu den gesellschaftlichen Randgruppen, denen die Teilhabe an Bildung verweigert wird.

Nach offiziellen Statistiken haben in Mexiko rund 180.500 minderjährige Mütter zwischen zwölf und 18 Jahren die Grundschule nicht abgeschlossen. In den ersten Jahren gingen zwar mehr Mädchen als Jungen zur Schule, hieß es. Dieses Verhältnis kehre sich aber im Teenageralter um, wenn viele Mädchen früh schwanger werden.


Machismo - Ein Junge zählt mehr

Die Ursache für die Gewalt gegen Mädchen, Jugendliche und Frauen in Mexiko liege in der Geschlechterhierarchie, die Jungen einen höheren Stellenwert einräume, meint die Direktorin der Beratungsstelle für Frauengesundheit, Axela Romero. "Es gibt zwar Fortschritte, zum Beispiel ein Gesetz gegen geschlechterspezifische Gewalt, aber am Fundament wird nicht gerüttelt. Wir haben weiterhin eine Kultur, die das Männliche über das Weibliche stellt."

Giovanni ist neun Jahre alt und ein Mädchen. Sie wohnt in Penitenciaria, einer Siedlung nahe der Hauptstadt, in der es viel Gewalt gibt. Den Jungennamen trägt sie, weil ihre Mutter einen Sohn kurz vor der Geburt "vor Schreck" verlor, als sich der Vater an einer Schlägerei beteiligte. "Ich hasse Gewalt und mehr noch, dass Männer Alkohol trinken", erklärt sie klipp und klar. (Ende/IPS/beh/ck/2010)


Links:
http://www.derechosinfancia.org.mx/
http://www.infanciacuenta.org/
http://www.saludintegraldelamujer.com/
http://www.unicef.de/
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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 24. September 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. September 2010