Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

LATEINAMERIKA/1162: Mexiko - Nur in der Kunst akzeptiert, das Schattendasein der Roma und Ludar (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 11. Oktober 2010

Mexiko:
Nur in der Kunst akzeptiert - Das Schattendasein der Roma und Ludar

Von Emilio Godoy


Mexiko-Stadt, 8. Oktober (IPS) - In der Erzählung 'Gente Bella' (Schönes Volk) sendet ein mexikanischer Diktator etwa um 1900 eine Delegation nach Europa, die 300 Familien finden soll, "mit denen die mexikanische Rasse weißer gemacht werden kann." Der mit Gold bezahlte ungarische Herrscher schlägt ihm ein Schnippchen: Er schickt Roma und Ludar nach Mexiko. Die Angehörigen dieser Volksgruppen haben noch heute keinen Platz in der mexikanischen Geschichte.

Die Sozialkritik in der erwähnten Geschichte des linken Schriftstellers und Politikers Eraclio Zepeda, der 1937 in dem südöstlichen Bundesstaat Chiapas geboren wurde, rekurriert auf den mexikanischen Präsidenten Porfirio Díaz (1830-1915). Sie umreißt die Vorurteile in den Köpfen der Menschen. Und zumindest teilweise lässt sich daran nachvollziehen, weshalb die Roma und Ludar trotz ihrer tiefen Wurzeln im Land weiter unsichtbar bleiben.


Schweigen über die eigene Identität

Für die Mexikanerin Ysmed Nebarak ist diese Leerstelle Teil ihrer Lebensrealität. Ihr Großvater kam 1920 aus Ungarn nach Mexiko und entschied sich dafür, Geschichten über seine erste Frau, eine 'Zigeunerin', lieber für sich zu behalten. "Über seine Vorfahren weiß ich nichts. Er wollte mit uns nie darüber reden", erzählt Nebarak, die in der Hafenstadt Acapulco, 395 Kilometer südlich der mexikanischen Hauptstadt lebt. "Ich wüsste gern alles über seine Geschichte und über die Bräuche."

"Die Zigeuner wurden 'enthistorisiert'. In der mexikanischen Geschichte gibt es sie nicht. Wir wissen so gut wie nichts über sie, was wiederum dazu führt, dass sich Vorurteile und Stereotypen hartnäckig halten können", unterstreicht der Anthropologe David Lagunas von der Nationalen Schule für Anthropologie und Geschichte. Seiner Ansicht nach ist Mexiko ein Potpourri verschiedener Gruppen, die aus völlig unterschiedlichen Kontexten kommen.

Laut Angaben des Nationalen Instituts für Statistik und Geographie leben 15.850 'Zigeuner' in Mexiko, wobei diese Zahl aufgrund der abgefragten Parameter mit Vorsicht zu genießen ist. Im Alltag sind die in Mexiko lebenden Roma und Ludar häufig als Verkäufer von Textilien, Schmuck, Autos und Lastkraftwagen tätig, sie sind Musiker oder lehren Tanz und Gesang.


Erste Einwanderungswelle um 1890

Die erste Welle von Ludar und Roma kam aus Gebieten nach Mexiko, die heute in Ungarn, Polen und Russland liegen. Sie erreichten das lateinamerikanische Land 1890 und ließen sich damals im südlich der Hauptstadt gelegenen Veracruz nieder. Viele fanden auch in den Vereinigten Staaten und Brasilien eine neue Heimat. In den Jahren zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg von 1918 bis 1939 verließen viele Roma das Gebiet des heutigen Ungarns und wanderten nach Mexiko und Venezuela aus.

Im Jahr 1931, als dem weiteren Zuzug der Roma und Ludar in Mexiko mit einer Änderung des Einwanderungsgesetzes ein Riegel vorgeschoben wurde, gab es bereits eine zahlenmäßig große Kolonie in dem lateinamerikanischen Land. Grund für den Zuzugsstopp waren die vielen Anzeigen über Straftaten der Einwanderer.


Händler und Künstler

Die letzte große Einwanderungswelle erfolgte in den 1960er Jahren. Die Zuwanderer kamen aus der spanischen Diaspora. Sie siedelten sich vor allem in Mexikos Hauptstadt im Innenstadtviertel Júarez an und widmeten sich dem Textil- und Pelzgeschäft. Zwischen diesen Völkern etablierte sich mit der Zeit eine gewisse Arbeitsteilung: Während die Ludar eher als Künstler tätig waren, arbeiteten die Roma eher als Händler. Gegenwärtig leben Letztere vor allem in Mexiko-Stadt, in Veracruz, Puebla, Guadalajara und Monterrey. Die Ludar sind vor allem im nördlichen San Luís Potosí zu finden.

Für den in Spanien geborenen Anthropologen Lagunas ist klar, dass die andere Art und Weise, wie 'Gitanos' mit Zeit, Arbeit und Geld umgehen, Misstrauen bei der restlichen Bevölkerung hervorruft. Er muss es wissen, hat er doch in Spanien für seine wissenschaftliche Arbeit zehn Jahre lang mit ihnen in Andalusien und Katalonien in ihren auf Märkten abgestellten Wohnwagen gewohnt.


Marginalisierung oder Kunst

"Mit diesen Menschen ist es wie mit Indigenen: Sie sind zahlreich und keine einheitliche Gruppe. Diese Nomaden haben immer noch ihre Zirkuszelte mit Clowns, Zauberern und Tänzerinnen. Aber die Gemeinschaft, die sie bilden, hat auf uns eine ganz besonders hypnotisierende Wirkung", erklärt der mexikanische Fotograf Lorenzo Armendáriz, der sich viel mit dem Thema beschäftigt hat, gegenüber der Zeitschrift 'Artes Visuales'. +++ ? Artes Visuales

Der berühmte Fotograf entdeckte mit 33 Jahren, dass sein Großvater dem 'fahrenden Volk' angehörte. Seither hat er das Thema in Fotoprojekten wie 'Gentes de viaje' (Menschen unterwegs) bearbeitet, und immer wieder für lange Zeit mit den Roma zusammen gelebt. Armendáriz hat zudem seine Hochzeit nach dem Ritual der Roma gefeiert und ist seitdem "einer von ihnen".

Verschiedene Autoren haben in den letzten Jahren das hermetische Schweigen um die Gemeinschaft in Mexiko gebrochen. So hat beispielsweise der Forscher Ricardo Pérez Romero das Buch 'La lumea de noi. Memoria de los Ludar de México' veröffentlicht, das sich der Geschichte und dem Alltagsleben der Ludar widmet.

Fortschritte auf politischer Ebene, wie sie in anderen Ländern bereits erzielt worden seien, habe man in Mexiko noch nicht erreichen können, so der Anthropologe Lagunas. "Die Vereinigungen haben keine Lobby, die Rechte der Roma stehen nicht auf der politischen Agenda und werden darum auch nicht anerkannt", kritisiert Lagunas weiter.

Es ist allgemein bekannt, dass die Gemeinschaften der Roma und Ludar diskriminiert werden, doch gibt es kaum Anzeigen. Im Jahr 2006 untersuchte die Antidiskriminierungsbehörde den Fall eines betroffenen Häftlings im Bundesstaat Baja California - doch die Klage wurde schließlich abgewiesen.


Identifikationsfigur Luvinoff ermordet

Einer der prominentesten Vertreter der ethnischen Gruppe in Mexiko ist der Geistliche Pablo Luvinoff. Er leitete die Christliche Kirche der Gitanos. Der Pfarrer fiel am vergangenen 24. September - trotz Polizeischutz - einem Mordanschlag in einem Krankenhaus in Mexiko-Stadt zum Opfer. Drei Attentate waren seit 2004 auf Luvinoff verübt worden. Hintergrund ist ein Streit um die Kontrolle der Roma-Gemeinschaft in der Hauptstadt. Anfang Oktober sind mehrere Verdächtige im Mordfall Luvinoff verhaftet worden - bei allen handelte es sich um Angehörige der Volksgruppen.

Präsent sind Zigeuner vor allem in den Telenovelas mehrerer lateinamerikanischer Länder inklusive Mexikos. So produzierte der Privatsender 'Televisa' 1970 die Serie 'Yesenia', die 1987 neu aufgelegt wurde. Im Jahr 1999 wurde 'Amor gitano' (Zigeunerliebe) ausgestrahlt und gegenwärtig ist im mexikanischen Fernsehen die US-amerikanisch-mexikanische Koproduktion 'Gitanas' zu sehen. Bei den letzten Folgen der von Televisa produzierten Serien hatte Luvinoff am Drehbuch mitgewirkt. (Ende/IPS/beh/2010)


Links:
http://contandoelcuento.bligoo.com/content/view/552493/Gente-Bella-cuento-de-Eraclio-Zepeda.html
http://www.enah.edu.mx/
http://www.lorenzoarmendariz.com/
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=96589


© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH


*


Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 11. Oktober 2010
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2010