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LATEINAMERIKA/1185: Argentinien - Wirtschaftskrise "light" (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 12. November 2010

Argentinien: Wirtschaftskrise 'light' - Kein Vergleich zu Desaster von 1998 bis 2002

Von Bettina Gutiérrez


Berlin, 12. November (IPS) - Die weltweite Wirtschaftskrise von 2008 hat Argentinien weitgehend geschont. "Die Krise von 2008, die für viele andere Länder gravierende Auswirkungen hatte, verlief für uns glimpflich. Sie hat weder zu größerer Arbeitslosigkeit geführt, noch sich in irgendeiner anderen Art und Weise in unserem Land niedergeschlagen", sagt die argentinische Schriftstellerin und Journalistin Claudia Pineiro im IPS-Gespräch.

Weitaus größere Folgen für die Bevölkerung hatte dagegen die Wirtschaftskrise, die sich unter der Präsidentschaft von Carlos Menem (1989-1999) abzeichnete und in den Jahren 2001 und 2002 seinen Höhepunkt fand. Hyperinflation, Rezession, eine steigende Arbeitslosigkeit und eine damit verbundene höhere Armutsrate sind die Auswirkungen der Ära Menem, mit der sich Pineiro in ihrem jüngst erschienenen Roman 'Die Donnerstagswitwen' befasst.

Claudia Pineiro hat in Buenos Aires Wirtschaftswissenschaften studiert und begann danach ihre Laufbahn als Journalistin, Schriftstellerin und Drehbuchautorin. Mit 'Die Donnerstagswitwen' gelang ihr der Durchbruch zum "Shootingstar der argentinischen Literatur". Ihr Roman wurde in mehrere Sprachen übersetzt und in Argentinien von Marcelo Pineyro verfilmt.

In dem Roman beschreibt sie den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Abstieg der Bewohner der Siedlung Altos La Cascada in der Nähe von Buenos Aires, die prototypisch für das Leben der privilegierten Schichten ist: "Dieses Viertel ist das perfekte Szenario für die Schilderung der 90er Jahre", sagt Pineiro. "Viele Menschen, nicht nur die Reichen, sondern vor allem die Angehörigen der Mittelschicht, zogen in dieses Viertel, das ihnen vorher verschlossen blieb, weil sie es sich nicht leisten konnten, dorthin zu ziehen." Die Krise traf somit in erster Linie die argentinische Mittelschicht, die an einen wirtschaftlichen Aufschwung und an die Wohlstandsversprechen von Menem geglaubt hatte.

Carlos Menem, der sich 1994 durch eine eigens für ihn eingeführte Verfassungsänderung seine Wiederwahl als Präsident gesichert hatte, führte während seiner Amtszeit das Konvertibilitätsgesetz ein, das die Parität des argentinischen Peso mit dem US-amerikanischen Dollar vorsah. Für die meisten Argentinier bedeutete dies, dass sie nun über eine unbegrenzte Kaufkraft verfügten.


"Blindheit der Mittelschicht"

"Die argentinische Mittelschicht hat sich damals in eine Schule der Blinden eingeschrieben. Während dieser zehn Jahre dachten viele, dass sie jetzt reich seien und bald zur ersten Welt gehören würden. Dass dies nicht der Fall war, merkten sie erst, als sie durch die Wirtschaftskrise ihre Arbeit oder ihren Besitz verloren. Deshalb wollte ich von der Blindheit der Mittelschicht erzählen", erläutert Pineiro den politisch-wirtschaftlichen Hintergrund ihres Romans.

Ihre Kritik gilt allerdings nicht nur der Mittelschicht, sondern vor allem der Wirtschaftspolitik des damaligen Präsidenten Menem, der ihrer Meinung nach der Hauptverantwortliche für diese Missstände war: "Das große Drama unserer Gesellschaft hat mit dem Diskurs der Macht zu tun, der vom Präsidenten ausging, sich von oben nach unten auswirkte und vollkommen fiktiv war, indem er uns weis machen wollte, dass der Dollar einen argentinischen Peso wert ist", so die Schriftstellerin.

Als positiv wertet Pineiro jedoch die allmähliche Verbesserung der wirtschaftlichen Parameter während der letzten zehn Jahre, den dadurch bedingten Anstieg der politischen Partizipation in der argentinischen Gesellschaft und die Tatsache, dass es ihren Landsleuten in den Zeiten der Wirtschaftskrise der Menem-Ära gelungen ist, sich mit Hilfe der Kultur von deren Folgen zu erholen: "In den schlimmsten Momenten der Krise fanden sehr viele Theateraufführungen, Vorträge und Lesungen statt." erinnert sie sich. "Das bedeutet, dass sich die Argentinier damals, als die Welt unterzugehen schien, aus dieser Situation durch kulturelle Veranstaltungen retten konnten. Und das finde ich interessant." (Ende/IPS/kb/2010)



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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 12. November 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2010