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LATEINAMERIKA/1199: Brasilien - "Land der Zukunft"? (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 2 - 2010

Brasilien - "Land der Zukunft"?

Von Karl-Dieter Hoffmann und Frank Zirkl


Vom krisengeschüttelten "ewigen Schwellenland" hat sich Brasilien seit den 1990er-Jahren zu einem wirtschaftlich und politisch wichtigen "global player" entwickelt. Vor allem die nun endende Präsidentschaft von Lula da Silva wird mit diesen Veränderungen in Verbindung gebracht.


Brasilien, ein Land der Zukunft. Mit diesem Titel erschien 1941 das letzte Werk des Schriftstellers Stefan Zweig, der darin seine Begeisterung über seine damalige Wahlheimat ausdrückt. Seither hat Brasilien mehrfach erfahren müssen, dass der Weg in die Zukunft nicht einfach ist: Wirtschaftsprobleme, politische Krisen sowie soziale Konflikte haben immer wieder für Enttäuschungen und Turbulenzen gesorgt, so dass viele Brasilianer die Bezeichnung "Land der Zukunft" nicht selten mit dem Zusatz "... e sempre vai ser" ("das es immer bleiben wird") ergänzen.

Umso bemerkenswerter ist die Entwicklung Brasiliens seit den 1990er Jahren: Vom krisengeschüttelten "ewigen Schwellenland" entwickelte sich das größte Land Lateinamerikas zu einem ökonomisch wie politisch wichtigen "global player". Für immer mehr Brasilianer konkretisiert sich zusehends der Glaube an eine bessere Zukunft. Selbst die enormen sozialen Ungleichheiten, für die Brasilien bekannt ist, scheinen zumindest ansatzweise aufgebrochen und entschärft zu werden. Mit diesen Veränderungen in Verbindung gebracht wird vor allem die Präsidentschaft von Luiz Inácio Lula da Silva.

Brasiliens Geschichte wurde über mehr als drei Jahrhunderte von der Kolonialmacht Portugal geprägt, bis am 7. September 1822 die Unabhängigkeit ausgerufen wurde. Zur damaligen Zeit war das Land lediglich an der Küste besiedelt, im Landesinneren gab es nur an wenigen Punkten Siedlungen europäischer Einwanderer, ansonsten waren weite Landstriche von indigenen Gruppen bewohnt oder überwiegend menschenleer. Abgesehen von der Zwangsmigration afrikanischer Sklaven hat die Einwanderung aus Europa (v.a. aus Italien, Spanien, Portugal, Deutschland, Osteuropa) und aus asiatischen Ländern zu einem "brasilianischen Schmelztiegel" unterschiedlichster Nationalitäten geführt. Bis heute ist diese Vielfalt unter den mittlerweile rund 195 Mio. Brasilianern deutlich zu beobachten.

Als zentrale Säule des jüngsten Aufschwungs in Brasilien sind die ökonomische Entwicklung und die aktuelle volkswirtschaftliche Stabilität zu nennen. Mit der Fortsetzung der Wirtschaftspolitik seines als neoliberal und unsozial verunglimpften Amtsvorgängers Fernando Henrique Cardoso hat es Lula da Silva verstanden, die brasilianische Volkswirtschaft zu stabilisieren. Über Modernisierungsmaßnahmen sowie eine Forcierung des Außenhandels und des nationalen Konsums konnte die Wertschöpfung deutlich gesteigert werden. In den zurückliegenden Jahren lagen die Wachstumsraten Brasiliens deutlich über den globalen Durchschnittswerten, die jüngste Finanzkrise durchlebte Brasilien ohne ernsthafte Probleme.

Wirtschaftlich von Bedeutung sind neben der Ausbeutung von Rohstoffen (Holz, Gold, Edelsteine, mineralische Ressourcen, etc.) die Produktion von Agrargütern (wie Zuckerrohr, Kaffee, Obst, Soja oder Fleisch) und die Herstellung industrieller Güter (z.B. Stahl, Fahrzeuge). Mit einigen Produkten ist Brasilien Weltmarktführer (u.a. Kaffee, Rindfleisch, Biotreibstoffe). Nach wie vor bedeutend für den Außenhandel sind neben Primärgütern auch Produkte des Industriesektors, die - da zunehmend wissensintensiver - auf dem Weltmarkt immer konkurrenzfähiger werden (z.B. Flugzeuge der brasilianischen Firma Embraer). Die ökonomische Entwicklung zeigt neben den Erfolgen im Binnenmarkt und im Außenhandel auch ihre Schattenseiten: Nicht nur zur Kolonialzeit wurden Arbeitskräfte ausgebeutet, auch heute noch befinden sich aufgrund mangelhafter Arbeitsbedingungen viele Brasilianer in "sklavenähnlichen" (z.B. im Zuckerrohranbau) oder schlechtbezahlten (z.B. bei niedrigen Dienstleistungen) Beschäftigungsverhältnissen. Wegen mangelnder Alternativen sowie der in Verbindung mit einer schlechten Schulbildung unzureichenden Qualifikation für den Arbeitsmarkt gibt es nach wie vor ein Heer an Unterbeschäftigten oder im informellen Sektor Tätigen, die "zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel verdienen". Ein Wahlversprechen der Regierung Lula da Silva war es, diese prekären Verhältnisse zu überwinden.

Luis Inácio Lula da Silva entstammt ärmlichen Verhältnissen - ein Novum im Präsidentenamt Brasiliens. Nachdem seine Familie aus dem Nordosten Brasiliens in die Industriemetropole São Paulo migriert war, hat Da Silva zunächst als Gewerkschaftsführer im Großraum São Paulo Karriere gemacht. Nach der Gründung der Arbeiterpartei (PT, Partido dos Trabalhadores) setzte sich Lulas Karriere in der regionalen und schon bald in der nationalen Politik fort. Der beschwerliche Aufstieg des Arbeiterführers ist durch schmerzliche Wahlniederlagen als Präsidentschaftskandidat (1989, 1994, 1998) gekennzeichnet. Mit dem Wahlsieg 2002 und der Amtsübernahme im Januar 2003 konnte sich Lula dieses Stigmas entledigen. Mit enormen Erwartungen seiner Klientel begann die erste Amtszeit: Schon bald sollten die zum Teil miserablen Lebensumstände vieler Brasilianer Geschichte sein. Der "neue Messias" gab den enormen Hoffnungen in der brasilianischen Bevölkerung durch populistische Wahlversprechen weitere Nahrung (z.B. zur Hungerproblematik: "Ich werde erst dann zufrieden sein, wenn jeder Brasilianer drei Mal pro Tag etwas zu essen hat!").

Zur wichtigsten Maßnahme für eine Verbesserung der Lebensumstände der Ärmsten wurden die unter Lula gestarteten staatlichen Sozialprogramme (Fome Zero ["Null Hunger"] und Bolsa Familia [staatl. Sozialhilfeprogramm]). Heute, zum Ende der zweiten Amtszeit von Lula da Silva (laut Verfassung ist nur eine Wiederwahl in Folge möglich), empfangen ca. 12,4 Mio. Haushalte über Bolsa Familia eine finanzielle Unterstützung vom Staat. Während der Grundgedanke, den weniger privilegierten Brasilianern eine Basisfinanzierung aus staatlichen Mitteln zur Verfügung zu stellen, zunächst sowohl in Brasilien als auch weltweit auf große Zustimmung trifft, zeigen sich in der Realität durchaus Risse in den revolutionären Sozialprogrammen. Längst ist bekannt, dass nicht wenige Sozialhilfeempfänger zu Unrecht staatliche Mittel beziehen (da sie z.B. über ein festes bzw. ausreichendes Einkommen verfügen) oder gegen zentrale Auflagen des Programms (z.B. Verletzung der Schulpflicht der Kinder) verstoßen. Dies trägt auch dazu bei, dass nicht ausreichend Finanzmittel für alle tatsächlich Empfangsberechtigten vorhanden sind. Außerdem hat sich spätestens mit der 2006 erfolgten Wiederwahl Lulas die assistenzialistische Seite der staatlichen Sozialprogramme gezeigt: Auffallend waren die vielen Stimmen für eine zweite Amtszeit Lulas aus dem Kreis der Bolsa Familia-Empfänger, einer Wählerschaft, die zuvor eher konservativen Kandidaten zu Wahlsiegen verhalf.

Politische Stabilität, wirtschaftliche Erfolge sowie die Auswirkungen der Sozialprogramme haben dem noch amtierenden Präsidenten Lula da Silva zu einer hohen, bisher nie dagewesenen Popularität in weiten Teilen der Bevölkerung verholfen: Rund 80 Prozent der Brasilianer bescheinigen ihm eine gute bis sehr gute Regierungsführung (August 2010). Dieser hervorragenden Reputation konnten in den vergangenen Jahren nicht einmal die Korruptionsskandale im Umfeld des Präsidenten einen Abbruch leisten.

Bei den Wahlen am 3. Oktober 2010 standen sich mit Dilma Rousseff aus der Regierung Lula und mit José Serra (Oppositionspolitiker der PSDB) zwei sehr unterschiedliche Politiker gegenüber. Die frühere Chefin des Präsidialamtes und Ministerin für Energie und Bergbau verfügt zwar bei weitem nicht über das Charisma ihres Ziehvaters Lula, hat jedoch sehr wohl verstanden, sich bei den Wählern mit der Ankündigung der Fortsetzung der Politik Lulas beliebt zu machen.

Rousseff war in den ersten Monaten des Wahlkampfs gegenüber Serra deutlich im Hintertreffen gelegen, konnte aber bis zum Wahltag am 3. Oktober 2010 den Rückstand aufholen: Nachdem sie im ersten Wahlgang zwar nicht auf Anhieb die absolute Mehrheit erreichen konnte, gehen Beobachter davon aus, dass nach der Stichwahl Ende Oktober mit Dilma Roussef erstmals eine Präsidentin ab Anfang Januar 2011 die Geschicke des Landes für vier Jahre lenken wird. Obwohl dann im Hintergrund, hat Lula da Silva bereits angekündigt, dass er sich weiterhin in die brasilianische Politik einschalten wird, denn es gibt nach wie vor sehr viele Baustellen im "Land der Zukunft", die unter Lula nicht abgeschlossen wurden.

Das Zentralinstitut für Lateinamerika-Studien (ZILAS) der KU nimmt die jüngsten Entwicklungen in Brasilien und die zunehmende globale Präsenz des Landes zum Anlass, den nächsten Vortragszyklus zu Lateinamerika über das "Land der Hoffnung" zu veranstalten. Neben historischen und politik- sowie kulturwissenschaftlichen Themen werden darin auch spezifische Fragestellungen (z.B. Agrotreibstoffe) aufgegriffen. Die Vorträge werden während des Wintersemesters 2010/2011 jeweils mittwochs stattfinden. Alle Interessierten sind herzlich eingeladen. Nähere Informationen ab Semesterbeginn auf der ZILAS-Homepage unter

www.ku-eichstaett.de/Forschungseinr/ZILAS


Dr. Karl-Dieter Hoffmann ist an der KU als Politikwissenschafter und Geschäftsführer des Zentralinstituts für Lateinamerikastudien tätig.

Dr. Frank Zirkl ist Dozent am Zentralinstitut für Lateinamerikastudien. Brasilien bildet den regionalen Arbeitsschwerpunkt des Geographen.


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 2/2010, Seite 28 - 29
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Dezember 2010