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LATEINAMERIKA/1224: Was wird aus Lulas Erbe? (Sozialismus)


Sozialismus Heft 12/2010

Was wird aus Lulas Erbe?
Brasilien nach der Wahl von Dilma Rousseff

Von Benedikt Behrens


Mit dem zweiten Durchgang der allgemeinen Wahlen am 31.10.2010 ging die Ära des wohl populärsten Präsidenten der brasilianischen Geschichte, des seit 2003 regierenden Vorsitzenden der Arbeiterpartei (PT), Luiz Inácio Lula da Silva, zumindest vorläufig zu Ende. Die Verfassung erlaubt nur einmal eine direkte Wiederwahl ins Präsidentenamt. Die erste Runde der Präsidentschaftswahlen hatte, ziemlich überraschend, noch keine Entscheidung über Lulas Amtsnachfolge gebracht, obwohl viele Wahlumfragen schon für den ersten Wahlgang für die von Lula selbst auserkorene Kandidatin Dilma Rousseff eine absolute Mehrheit prognostiziert hatten.

Daher musste Rousseff, die im ersten Wahlgang knapp 47% der Stimmen erhielt, am Monatsende erneut gegen den Zweitplatzierten José Serra von der dem Namen nach sozialdemokratisch, real aber neoliberal ausgerichteten PSDB antreten, dem ein unerwartet großer Stimmenanteil für die Kandidatin der Grünen, Marina Silva (knapp 20%), indirekt zugute kam. Serra ist es in der Stichwahl jedoch nur ganz unwesentlich gelungen, den Abstand zu Rousseff aus dem ersten Wahlgang zu verringern. Am Ende siegte die PT-Kandidatin souverän mit 56% der Stimmen.

Gäbe es die oben erwähnte Verfassungsbestimmung nicht, wäre Lula mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum dritten Mal mit großer Mehrheit zum Staatsoberhaupt gewählt worden, derart stark ist seine Unterstützung in großen Teilen der Bevölkerung, die im Laufe seiner Amtszeit sogar noch anwuchs. Das "Geheimnis" seiner Popularität erschließt sich zum einen aus seiner Persönlichkeit - ein Mann aus einfachsten Verhältnissen, der einst als Metallarbeiter und Gewerkschaftsführer gegen die traditionelle, sich sozial nach unten hermetisch abschottende politische Elite angetreten war (dreimal hatte er in den Jahren 1989-1998 vergeblich für die Präsidentschaft kandidiert) und diesen vermeintlich unbezwingbaren "Goliath" als eine Art "David" und Hoffnungsträger der breiten Volksschichten bezwingen konnte.

Blickt man über die schwer greifbare Rolle der Persönlichkeit hinaus, stößt man auf ganz konkrete und rational nachvollziehbarere Gründe für Lulas politischen Erfolg. Ungeachtet der komplizierten Mehrheitsverhältnisse im brasilianischen Kongress - Lulas PT besetzte zuletzt weniger als ein Sechstel der Sitze des Abgeordnetenhauses - und der politisch äußerst buntscheckigen Zusammensetzung des Regierungsbündnisses aus zehn Parteien des nahezu gesamten ideologischen Spektrums (unter Einschluss von Teilen der sozialen Elite), gelang es dem Präsidenten, eine Politik durchzusetzen, die zu spürbaren Verbesserungen auch für die armen Bevölkerungsschichten führte.

Die Durchsetzung dieser Politik wurde durch ein kräftiges Wirtschaftswachstum, das das Land in der zweiten Amtsperiode Lulas zu verzeichnen hatte, erleichtert. Es ist zumindest teilweise auch den wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen der Regierung zu verdanken. So wuchs die brasilianische Wirtschaft seit 2006 - mit Ausnahme des Krisenjahres 2009, als das Wachstum nur 0,1% erreichte - zwischen knapp vier und gut fünf Prozent. Im laufenden Jahr wird bereits wieder eine Erholung auf mindestens fünf Prozent erwartet. Auf dieser soliden Basis war es der Regierung auch möglich, verschiedene ambitionierte Programme zur Bekämpfung der stark verbreiteten Armut zu finanzieren. So erreichten die Programme "Null Hunger" und "Bolsa Familia" mit bis zu 50 Mio. Menschen mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Der reale Mindestlohn stieg in Lulas Regierungszeit um beachtliche 53,6% bei einer moderaten Inflationsrate, die seit 2005 zwischen 3 und 6% (Ende 2009: 4,1%) schwankt. Der Teil der Bevölkerung, der unter der Armutsgrenze lebt, soll sich nach amtlichen Angaben in diesem Zeitraum von 36 auf 24% reduziert haben (um fast 20 Mio.), wobei das bezogen auf das Einkommen unterste Zehntel der Bevölkerung mit 8% jährlich den weitaus höchsten Zuwachs verzeichnete.(1) Trotz der Schaffung von bis zu 14 Mio. Arbeitsplätzen in der Lula-Ära ist die Arbeitslosenquote immer noch relativ hoch, die offiziellen Zahlen gingen aber immerhin von fast 10% (2005) auf knapp unter 8% (2008) zurück.(2)

Die Regierung hat zu dieser insgesamt positiven Wirtschaftsentwicklung mit einer aktiven Förderpolitik beigetragen, auch wenn Lula mit der Linie seines neoliberalen Amtsvorgängers Cardoso nicht abrupt brach, sondern Teile von dessen Programm, wie Haushaltskonsolidierung und strikte Anti-Inflationspolitik, fortsetzte. So wurde 2007 ein "Wachstumsbeschleunigungsprogramm" (PAC) aufgelegt, aus dessen umfangreichen Mitteln (380 Mrd. Euro) bis zum Ende der Amtszeit Lulas private und vor allem öffentliche Investitionen zur Verbesserung der Infrastruktur (Verkehr, Energiesektor, Wohnungsbau) finanziert wurden. Im Dezember 2009 kam ein weiteres Konjunktur- und Investitionsförderprogramm mit einem Volumen von 32 Mrd. Euro hinzu, das durch gezielte Kredit- und Steuererleichterungen Investitionen im industriellen Bereich unterstützen soll.

Trotz aller konkreten Erfolge ist es während Lulas Präsidentschaft zu keinen tiefgreifenden Änderungen in der extrem ungleichen Sozial- und Einkommensstruktur des Landes - einer der ungleichsten weltweit - gekommen. So verfügt die einkommensschwächere Hälfte der Bevölkerung nur über 10% des Volkseinkommens und damit über genau soviel wie das oberste eine Prozent der Reichsten.(3) Die Kluft zwischen dem bitterarmen Nordosten des riesigen Landes und dem wesentlich höher entwickelten und relativ wohlhabenden Süden und Südosten ist immer noch immens, wenngleich durch die schwerpunktmäßig an den Nordosten geflossenen Familienbeihilfen erste Schrille unternommen wurden, sie zu verringern.(4) in der Bildungspolitik gelang - durch die Koppelung der Gewährung von Familienbeihilfen an den Schulbesuch der Kinder - zwar eine Steigerung des Schulbesuchs der Armen, bei der Hebung des kümmerlichen Niveaus der staatlichen Schulbildung wurden jedoch wegen der anhaltenden Unterfinanzierung keine spürbaren Erfolge erzielt, weshalb die Mittelschicht für ihren Nachwuchs immer stärker private Schulen bevorzugt.(5)

Der Landbesitz ist immer noch von einer eminent hohen Konzentration zugunsten einer dünnen Schicht von Großgrundbesitzern und Agrokonzernen geprägt: Im Jahr 2000 besaßen 1,6% der Betriebe fast 44% der Nutzflächen, während die zwei Drittel Kleinbetriebe (bis 20 ha) nur über 6% der nutzbaren Flächen verfügten. Die von Lula versprochene Umverteilung an Landlose und -arme kam, insbesondere in seiner zweiten Amtszeit, nur im Schneckentempo voran (bis zum Ende seiner ersten Amtszeit wurde zwar an 350.000 Familien Land verteilt, was aber erheblich weniger war als bei seinem Amtsantritt versprochen) und konnte daher, ebenso wie die nicht behördlich genehmigten Landbesetzungen der Landlosenbewegung MST, die extreme Ungleichheit im Landbesitz nicht grundlegend verändern.(6)

Die Steuerlast liegt hauptsächlich auf dem Verbrauch von Gütern und Dienstleistungen und damit bei den normalen Konsumentenhaushalten, während hohe Einkommen und Vermögen sehr gering besteuert werden (der Spitzensteuersatz beträgt 27,5%) und Besitzer von Staatsanleihen Rekordzinsen von über 10% erhalten. Innerhalb nur eines Jahres (von 2006 auf 2007) stieg die Zahl der Dollar-Vermögensmillionäre um 19,1%.(7) Unter diesen Umständen erstaunt es wenig, dass ein Teil der Eliten, trotz prinzipieller Vorbehalte gegenüber einem linken Präsidenten, die Regierung Lula zumindest nicht bekämpft hat, teilweise sogar im Regierungsbündnis integriert ist. Andererseits wäre es sicher zu kurz gegriffen, Lula des "Verrats" an seinen Prinzipien zu bezichtigen, ohne zu berücksichtigen, dass die Linke weit von einer Mehrheit im Kongress entfernt und daher auf Bündnispartner der "bürgerlichen" Parteien angewiesen ist, um wenigstens Teile ihres Programms verwirklichen zu können.

Ein weiteres schier chronisches Problem der brasilianischen Gesellschaft, bei dessen Lösung noch kaum Fortschritte erkennbar sind, ist die allgegenwärtige Unsicherheit und Gewalt, insbesondere in den großen Städten, sowie die bei der Polizei herrschende Korruption und Willkür, deren Opfer in der Regel die einfache Bevölkerung ist. Der Schutz der Umwelt und der Rechte der indigenen Völker wurde auch von der Regierung Lula oft den Interessen der Agrarindustrie mit ihren auf Export ausgerichteten Großplantagen und den Stromerzeugungsprojekten in Gestalt gigantischer Staudämme untergeordnet.(8)

In der Außenpolitik kann Lula indes seine wohl eindrucksvollste Bilanz präsentieren: Ohne die USA in ähnlicher Weise herauszufordern wie sein venezolanischer Amtskollege Hugo Chávez, gelang es ihm, sein Land aus dem Schatten der kriselnden Supermacht herauszuführen. Das zeigte sich einerseits auf weltwirtschaftlicher Ebene, wo es sich in die Phalanx der aufsteigenden Wirtschaftsmächte wie China und Indien einreihte (China hat inzwischen die USA als wichtigster brasilianischer Außenhandelspartner abgelöst) und durch die Rückzahlung aller Kredite aus der "fürsorglichen Umklammerung" des IWF befreien konnte. Außerdem tritt Brasilien auf der diplomatischen Bühne nun ausgesprochen selbstbewusst auf Das zeigte sich 2009 nach dem Putsch in Honduras, als das Land zum Verdruss der USA eine führende Rolle bei der internationalen Isolierung des Putschistenregimes spielte, ebenso bei den Vermittlungsbemühungen (zusammen mit der Türkei) im Atomstreit mit dem Iran sowie in dem Agieren Brasiliens auf den G 20-Gipfeln.

Was darf nun von Lulas Amtsnachfolgerin Dilma Rousseff politisch erwartet werden? Wohl kaum eine abrupte Abkehr von der pragmatischen Reformpolitik ihres Vorgängers. Schließlich war er es ja selbst, der sie in den letzten Jahren als seine Nachfolgerin aufgebaut und ihre Kandidatur in der eigenen Partei und gegenüber den Bündnispartnern durchgesetzt hat. Allerdings kann man sich kaum unterschiedlichere Persönlichkeiten als die beiden vorstellen, wenn man sie aus dem Blickwinkel von Herkunft, Biografie, Charaktereigenschaften und politischem Stil betrachtet. Rousseff entstammt, im Gegensatz zu Lula, der Oberschicht des Landes und kann eine hervorragende akademische Ausbildung vorweisen. Falls man letzteres als Vorteil betrachtet, geht ihr jedoch das begeisternde Charisma und die "Volksnähe" des politisch äußerst geschickten Präsidenten ab. Sie war, bevor sie Lula zu seiner Ministerin im Präsidialamt machte, landesweit wenig bekannt und gilt immer noch - obschon als kompetente Administratorin anerkannt - als eher farblose "Technokratin".(9)

Geboren wurde Dilma Rousseff(10) 1947 als Tochter eines bulgarischen Immigranten und einer brasilianischen Lehrerin in Belo Horizonte, der Hauptstadt des Bundesstaats Minas Gerais. Ihr Vater musste Ende der 1920er Jahre als Kommunist wegen politischer Verfolgung aus Bulgarien nach Frankreich fliehen. In den 1930er Jahren emigrierte er nach Brasilien, wo er es als Rechtsanwalt und Immobilienunternehmer zu beträchtlichem Wohlstand brachte. Dilma Rousseff besuchte bis zu ihrem 15. Lebensjahr ein von Nonnen geführtes katholisches Internat, bevor sie auf eine staatliche Oberschule wechselte. Hier scheint sie sich, insbesondere nach dem Militärputsch von 1964, politisiert zu haben.

Als Studentin der Wirtschaftswissenschaften an der staatlichen Universität von Minas Gerais schloss sie sich 1968 einer marxistisch-leninistischen Guerillagruppe an, deren Linie es war, die Militärdiktatur mit Waffen zu bekämpfen. Nach ersten Polizeiaktionen gegen die Gruppe, floh sie nach Rio de Janeiro, wo sie zu einer anderen Guerillaorganisation stieß, in der sie auch ihren zweiten Ehemann Carlos P. de Aráujo kennenlernte. Auch diese Gruppe, die es zu kaum mehr als einzelnen Raubüberfällen brachte, wurde sehr bald zerschlagen und Dilma Rousseff Anfang 1970 in Sao Paulo verhaftet. Nach einer Untersuchungshaft, in der sie nach eigenen Angaben gefoltert wurde, verurteilte sie ein Militärgericht wegen "Subversion" zu sechs Jahren Gefängnis, von denen sie knapp drei Jahre bis Ende 1972 verbüßen musste.

Bald nach der Haftentlassung zog sie nach Pôrto Alegre im südlichsten Bundesstaat Rio Grande do Sul, wo ihr ebenfalls 1970 verhafteter Ehemann seine Haft verbüßte. Hier nahm sie ihr Ökonomiestudium wieder auf und betätigte sich zusammen mit ihrem Mann, der 1974 wieder freikam, an politischen Kampagnen der von den Militärs allein zugelassenen gemäßigten Oppositionspartei. Seit Beginn der 1980er Jahre, als es zu ersten politischen Liberalisierungen unter dem Militärregime kam, engagierten beide sich in Leonel Brizolas linkspopulistischer PDT (Demokratische Arbeitspartei), für die Araújo mehrmals als Abgeordneter des Bundesstaatsparlaments von Rio Grande do Sul gewählt wurde. Seine Frau Dilma wurde zur Stadtkämmererin der Hafenstadt ernannt, ein Amt, das sie von 1985-1988 bekleidete.

In den 1990er Jahren wechselte sie zwischen Regierungsämtern (zweimal Energieministerin) und Leitungsfunktionen in einem staatlichen Wirtschaftsforschungsinstitut im Bundesstaat Rio Grande do Sul, der bis 1998 von der PDT und danach von der PT in Koalition mit der PDT regiert wurde. In diesem Zeitraum begann sie auch ein Promotionsstudium, das sie jedoch nicht abschloss. Als die PDT im Jahr 2000 die Koalitionsregierung des Bundesstaats verließ, machte Dilma Rousseff diesen Schritt nicht mit und wechselte als Energieministerin zur PT.

2003 wurde sie, für viele überraschend, als Energieministerin in das erste Kabinett Lulas berufen, der ihr, die der Privatwirtschaft eine wichtige Rolle im Energiesektor einräumte, den Vorzug gegenüber dem allgemein favorisierten Kandidaten gab, der dies ablehnte. Aber auch von der Ministerin Rousseff wurden soziale Ziele in der Energiepolitik berücksichtigt, vor allem durch das staatliche Programm "Strom für Alle", mit dem bis 2008 knapp 2 Mio. Privathaushalte im armen Nordosten Brasiliens an das Stromnetz angeschlossen wurden.

Während ihrer Amtszeit hatte sie Auseinandersetzungen über verschiedene Kraftwerksprojekte mit der Umweltministerin Marina Silva, die 2008 aus Protest aus der Regierung austrat und sich den brasilianischen Grünen anschloss, die sie 2010 als ihre Präsidentschaftskandidatin aufstellten. Andererseits entwickelte Rousseff eine enge politische Beziehung zu Lulas Kabinettschef José Dirceu. Dieser musste im Juni 2005 wegen Korruptionsskandalen um von der Regierung "gekaufte" Abgeordnete der verbündeten Parteien zurücktreten. Die Ernennung Rousseffs zur Nachfolgerin von Dirceu auf dem zweithöchsten Regierungsposten durch Lula war mindestens ebenso überraschend wie ihre Aufnahme ins Kabinett zweieinhalb Jahre zuvor. Vermutet wird, dass Lulas Wahl gerade auf sie fiel, weil sie keiner der rivalisierenden PT-Fraktionen angehört und er dadurch unabhängiger von seiner Partei agieren konnte.

In ihrer knapp fünfjährigen Tätigkeit auf dem Posten der Präsidialamtsministerin scheint sich ein enges Vertrauensverhältnis zwischen beiden entwickelt zu haben. 2009 wurde ihr von Lula die Verantwortung über das Wirtschaftsförderprogramm PAC übertragen, was ihr Prestige erheblich steigerte. Spätestens mit dieser Entscheidung wurde klar, dass Lula beabsichtigte, die resolute Politikerin als seine Nachfolgerin aufzubauen. Auf dem letzten Parteikongress der PT, im Februar 2010, wurde sie dann auch ohne Gegenkandidatur als Präsidentschaftskandidatin nominiert, was im Juni schließlich auch von den anderen Parteien der breiten Regierungskoalition gebilligt wurde.

Während sie im Frühjahr in Umfragen noch weit hinter dem Kandidaten der PSDB und deren Bündnispartnern, Jose Serra - vor seiner Kandidatur Gouverneur des bevölkerungsreichsten Bundesstaats Sao Paulo -, gelegen hatte, konnte sie während der Wahlkampagne im Sommer dank der entschiedenen Unterstützung Lulas schnell Boden gutmachen und erzielte Umfragewerte um die 50%, was ihre Wahl bereits im ersten Durchgang erwarten ließ. Dass es dann doch anders kam und sie ihr Ziel verfehlte, ist vor allem dem kometenhaften Aufstieg der bis kurz vor der Wahl mit rund 10% klar zurückliegenden drittplazierten Kandidatin Marina Silva zuzuschreiben. Erst in den allerletzten Umfragen stieg ihr prognostizierter Stimmenanteil stark an und am Wahltag erzielte sie fast sensationell anmutende 20% (die Grüne Partei hatte bisher nur 13 Sitze im Abgeordnetenhaus und gehörte damit zu den kleinsten Fraktionen). Möglicherweise profitierte Silva von dem Popularitätsverlust Rousseffs in den letzten Wochen vor der Wahl infolge eines Skandals, in den ihre Nachfolgerin auf dem Posten der Kabinettschefin und frühere enge Mitarbeiterin, Erenice Guerra, wegen der politischen Begünstigung der Firma ihres Sohnes verwickelt war und diese zum Rücktritt veranlasste.

In den vier Wochen zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang wurde der Ton zwischen beiden Lagern nochmals verschärft. Die Massenmedien, die schon während der Regierungszeit Lulas ganz überwiegend die Opposition unterstützten, beteiligten sich ohne Skrupel an der Schmutzkampagne, die gegen die PT-Kandidatin entfesselt wurde. Diesmal stand die Abtreibungsfrage im Vordergrund, nachdem eine drei Jahre alte Äußerung von Rousseff ausgegraben wurde, mit der sie den Schwangerschaftsabbruch als Problem der Gesundheitspolitik und nicht des Strafrechts definiert hatte. Kaum war diese Äußerung von den Medien publiziert, griff die katholische Bischofskonferenz in den Wahlkampf ein und forderte die Gläubigen auf, nur Kandidaten zu wählen, die "für das Leben" einträten und ließ sich obendrein ihre Vorgehensweise auf einer Reise nach Rom vom Papst absegnen. Obwohl Rousseff sofort erklärte, sie sei gegen Abtreibungen, vermuteten Beobachter angesichts des kulturellen Einflusses der katholischen Kirche und der mittlerweile bis zu 25% der Bevölkerung vereinigenden evangelikalen Gruppen eine negative Wirkung auf ihre Siegchancen. Die Rechnung des konservativen Lagers ging jedoch nicht auf: Das hochgespielte Thema scheint wenig Relevanz in den Wahlentscheidungen gehabt zu haben.

Rousseff steht jetzt, wie ehedem Lula, vor der nicht unkomplizierten Aufgabe eine tragfähige Regierungskoalition aus dem äußerst heterogenen Wahlbündnis aus zehn unterschiedlichen Parteien zu schmieden. Die Mehrheitsverhältnisse in der Legislative sind ähnlich unübersichtlich geblieben wie in der vorherigen Legislaturperiode. Obwohl das Regierungsbündnis seine Mehrheit im Abgeordnetenhaus und Senat ausgebaut hat, besitzt die PT, trotz leichter Zugewinne in beiden Kammern, keine klare Hegemonie innerhalb der Koalition.

Die bürgerliche PMDB, die in der Ära vor Lula schon mehrmals als Mehrheitsbeschafferin für neoliberale Regierungen fungierte, verlor mit nur noch 79 Abgeordneten (PT: 88) zwar die Führungsposition im Abgeordnetenhaus (513 Abgeordnete), verteidigte jedoch gegenüber der PT ihren Vorsprung im Senat (17 zu 14 von insgesamt 81 Sitzen). Bei den Wahlen in den 27 Bundesstaaten kamen PT und PMDB auf je fünf Gouverneursposten und die Sozialistische Partei (PSB) als weiterer PT-Verbündeter auf überraschende sechs "Landeschefs". Serras PSDB regiert weiterhin in den beiden bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich bedeutenden Bundesstaaten Sao Paulo und Minas Gerais sowie in sechs weiteren Staaten, während deren rechtskonservative Verbündete, die DEM, zwei Gouverneure stellt. Die Opposition regiert damit auf Bundesstaatenebene über 520/o der brasilianischen Bevölkerung.(11)

Die Kandidatin der PT hat bisher wenig eigene politische Akzente gesetzt, sodass zu erwarten ist, dass sie den von Lula vorgezeichneten Weg weitergehen will. Die Frage bleibt aber, ob es ihr in ähnlich effektiver Weise wie ihrem überaus gewieften Vorgänger gelingt, dafür die politischen Mehrheiten zu organisieren - nicht nur in ihrer eigenen Partei, deren Flügelkämpfe Lula erfolgreich einhegen konnte, sondern insbesondere auch bei ihren ideologisch heterogenen parlamentarischen Bündnispartnern, die in der Vergangenheit notfalls durch an Korruption grenzende Manöver bei der Stange gehalten werden mussten. Andererseits könnte sich auch alternativ zur PT eine neue Bewegung etablieren - worauf vielleicht der Überraschungserfolg von Marina Silva hindeutet -, die dem Umweltschutz, der Landreform sowie den indigenen Rechten einen höheren Stellenwert zumisst als die von der PT geführte Regierung.


Benedikt Behrens ist promovierter Historiker zur modernen mexikanischen und lateinamerikanischen Geschichte.


Anmerkungen

(1) Dennoch betrug nach dem Human Development Report der UNO von 2009 (HDR 2009) der Anteil des untersten Bevölkerungszehntels am Gesamteinkommen 2007 nur 1,1% (eines der geringsten Werte in Lateinamerika), während das oberste Zehntel über 43% verfügte.

(2) Andere Angaben aus: Bras. Botschaft, http://brasilianische-botschaft.de/wirtschaft; Auswärtiges Amt,
http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laenderinformationen/Brasilien; Geisa M. Rocha, "Null Hunger. In Brasilien geht die Ära Lula zu Ende. Eine wirtschaftliche Bilanz", in: Le Monde diplomatique, Sept. 2010. Laut dem HDR für Lateinamerika und der Karibik, Informe Regional sobre Desarollo Humano para América Latina y el Caribe 2010, San José 2010. S. 33, verringerte sich der Anteil der in urbanen Zonen im informellen Sektor Beschäftigten zwischen 1999 und 2008 von 47,4% auf 42%, was auf einen Abbau der prekären Beschäftigung hinweist.

(3) Gemäß dem HDR 2009 lag der zuletzt ermittelte Gini-Koeffizient der ungleichen Einkommensverteilung bei 55 (auf einer Skala von 0-100), womit Brasilien in Lateinamerika nur von Honduras, Bolivien, Kolumbien und Haiti (59,5) übertroffen wurde. Allerdings scheint das Land sich in den letzten Jahren um einige Plätze verbessert zu haben, da es laut dem Weltentwicklungsbericht 2006 der Weltbank mit 58 noch den höchsten Gini-Wert in Lateinamerika und den dritthöchsten weltweit hatte. Siehe: Joseph L. Love, "The Lula Government in Historical Perspective", in: ders./W. Baer (Hrsg.), Brazil under Lula, New York 2009, S. 306; vgl. auch Länderinformationsportal von inwent (Internationale Weiterbildung und Entwicklung gGmbH), www.http://liportal.invent.org/. Der jüngst erschienene HDR 2010 stuft Brasilien beim "Index für menschliche Entwicklung" (HDI) auf Rang 73 (2009: 75) ein und damit erst auf dem achten Platz in Lateinamerika.

(4) Vgl. L.R. Cavalcante/S. Uderman, Regional Development Policies, 2003-2006, in: Love/Baer (Hrsg.), Brazil under Lula, insbes. S. 276f.

(5) Laut dem Informe regional des HDR zu Lateinamerika betrug die durchschnittliche Schulbesuchsdauer in Brasilien 6,1 Jahre, womit sie deutlich unter den 9-10 Jahren seiner Nachbarländer Chile und Argentinien rangiert. Die funktionelle Analphabetenrate lag 2006 noch bei 23,6%, siehe: www.http://liportal.invent.org/.

(6) Vgl. ebenda und E. Amann/W. Baer, "The Macroeconomic Record of the Lula Administration, the Roots of Brazil's Inequality, and Attempts to Overcome Them", in: J.L. Love/W. Baer (Hrsg.), Brazil under Lula, S. 38.

(7) Vgl. Rocha, "Null Hunger".

(8) Ein Beispiel für die Macht der brasilianischen Großunternehmen ist der 1997 fast komplett privatisierte Staatskonzern Vale, der auf allen fünf Kontinenten tätig ist und zum zweitgrößten Bergbauunternehmen der Welt aufstieg. Obwohl der Staat nur noch 3% der Firmenanteile hält, übt die Regierung doch ein "faktisches Vetorecht in allen strategischen Entscheidungen des Konzerns" aus; siehe Philippe Revelli, "Treffpunkt Rio", in: Le Monde diplomatique, Oktober 2010.

(9) Wolfgang Kunath, "In Lulas großen Schuhen", in: Frankfurter Rundschau, 22.2.2010.

(10) Alle biografischen Daten aus: http://en.wikipedia.org/wiki/Dilma_Rousseff (eng. Version).

(11) Wahlergebnisse nach den Artikeln des mexikanischen Journalisten Arturo Cano in La Jornada vom 1., 2. und 7.11.2010.


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Quelle:
Sozialismus Heft 12/2010, Seite 51 - 55
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Februar 2011