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LATEINAMERIKA/1501: Mexiko - Familien suchen nach ihren verschwundenen Angehörigen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 2. März 2015

Mexiko: Familien suchen nach ihren verschwundenen Angehörigen - Immer neue Organisationen politisch aktiv

von Emilio Godoy


Bild: © Emilio Godoy/IPS

'Verschwindenlassen, Strategie des Terrors' steht auf einem Transparent mit der mexikanischen Flagge auf einer Veranstaltung zum 15-jährigen Bestehen von HIJOS, einer Organisation der Angehörigen Verschwundener in Mexiko
Bild: © Emilio Godoy/IPS

Mexiko-Stadt, 2. März (IPS) - Carlos Trujillo sucht schon seit Jahren nach seinen vier vermissten Brüdern. Er durchkämmt die Krankenhäuser, Leichenhallen und Gefängnisse. Sobald in Mexiko ein neues Massengrab freigelegt wird, ist er zur Stelle, um herauszufinden, ob Jesús, Raúl, Luís und Gustavo vielleicht dort verscharrt wurden.

Die ersten beiden waren am 28. August 2008 im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero 'verschwunden', die anderen zwei während einer Autofahrt auf dem Highway, der die südlichen Bundesstaaten Puebla und Veracruz miteinander verbindet.

Jeden Stein hat er umgedreht, jede Möglichkeit genutzt, um Licht in das Dunkel zu bringen, nachdem die Arbeit von vier Ermittlern, die auf den Fall angesetzt waren, ins Leere liefen. "Aufgeben kommt nicht in Frage", sagt er im IPS-Gespräch. "Ich mache so lange weiter, bis ich sie finde."

Am 18. Februar hat sich Trujillo mit anderen Angehörigen 'Verschwundener' zu den 'Familiares en Búqueda María Herrera' zusammengeschlossen, einer nach seiner Mutter benannten Organisation von Angehörigen Verschwundener. Als Nichtregierungsorganisation erhalten die traumatisierten Familien bei der Suche nach ihren Lieben institutionelle Hilfe.


Netzwerk im Aufbau

"Wir wollen ein riesiges Netzwerk gründen", berichtet der Aktivist. "Wir haben uns Prioritäten gesetzt. So wollen wir die Kontakte zu anderen Organisationen ausbauen und stärken und uns vernetzen, damit wir die Suche systematisieren und besonders wirksam gestalten können. Alle Familien wünschen sich nichts sehnlicher, als dass die Untersuchungen vorankommen."

Die Gruppe untersucht derzeit das Verschwinden von 18 Personen. Sechs Vermisste waren in den vorangegangenen zwei Jahren von ihren Angehörigen lebend gefunden worden. "Zunächst sucht jeder für sich, um den eigenen Fall zu lösen", berichtet Diana García, Mutter eines verschwundenen Sohnes. "Wir wussten zunächst gar nicht, was Verschwindenlassen bedeutet. Wir mussten eine Menge lernen, etwa dass es unser gutes Recht ist, bestimmte Forderungen zu stellen. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis wir erkannten, dass wir zusammen viel mehr bewirken können."

García ist auf der Suche nach ihrem Sohn Daniel Cantú, der am 21. Februar 2007 in der Stadt Ramos Arizpe im nördlichen Bundesstaat Coahuila spurlos verschwand. Sie ist auch Mitglied der 'Fuerzas Unidas por Nuestros Desaparecidos' in Coahuila, der 'Vereinigten Kräfte für unsere Verschwundenen', weil sie weiß, dass es einer geballten Kraft bedarf, die mexikanische Regierung zum Handeln zu bewegen.

Beharrlich und entschlossen gehen die Mitglieder der Gruppe sämtlichen Hinweisen in der Hoffnung nach, ihre verschollenen Angehörigen zu finden. Geboren wurde die Organisation aus der Bewegung für Frieden mit Gerechtigkeit und Würde, die 2011, als das Land eine beispiellose Welle der Gewalt erlebte, die Familien der Opfer zur Teilnahme an Friedenskarawanen gegen die Drogenpolitik der damaligen Regierung zusammengerufen hatte.

Verschwindenlassen wurde zu einem weitverbreiteten Phänomen, seitdem der von 2006 bis 2012 amtierende Staatspräsident Felipe Calderón der Drogenmafia den Krieg erklärte und das Militär einsetzte. Sein Nachfolger Enrique Peña Nieto hat das Problem nicht lösen können, das inzwischen zu einer der schlimmsten Tragödien der jüngeren mexikanischen Geschichte ausgewachsen ist.

Doch erst das Verschwinden von 43 Studierenden am Lehrerseminar Ayotzinapa in Tixtla in Guerrero sorgte für internationale Aufmerksamkeit. Am 26. September hatten Polizisten aus der Stadt Iguala das Feuer auf Studenten, die in Bussen in die 191 Kilometer entfernte mexikanische Hauptstadt zu Protesten gegen den Abbau von Seminaristenplätzen fahren wollten, eröffnet. Sechs der jungen Leute wurden getötet, 25 verletzt und 43 festgenommen.

Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft wurden letztere den 'Guerreros Unidos' übergeben, einer der brutalsten Drogenbanden der Region, die ihre Geiseln noch in derselben Nacht ermordet, ihre Leichen auf einer nahegelegenen Mülldeponie am Rande der Stadt Colula verbrannt und die Asche dann in einem Fluss 'entsorgt' haben sollen.

Bislang konnte die Identität eines einzigen Studenten mithilfe einer DNA-Untersuchung geklärt werden. Gerichtsmediziner von der Universität Innsbruck, die die mexikanischen Behörden bei den Untersuchungen unterstützen, erklärten, dass aufgrund der "exzessiven Hitzewirkung" eine weitere Auswertung des Genmaterials unmöglich sei. Doch die Angehörigen setzen die Suche nach den vermissten Studenten unermüdlich fort.


UN intervenieren

Der Fall hat ein Schlaglicht auf die kriminellen Seilschaften zwischen der Polizei, dem ehemaligen Bürgermeister der Stadt Iguala und den Guerreros Unidos geworfen. Die humanitäre Krise veranlasste das UN-Komitee gegen Verschwindenlassen am 13. Februar zu dem Appell an die mexikanische Regierung, das Problem anzugehen, ein Opferregister anzulegen, mit den Untersuchungen fortzufahren und den Opfern der Familien Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen und sie zu entschädigen.

Das mexikanische Amt für Menschenrechte, Verbrechensprävention und Gemeindearbeit hat inzwischen mitgeteilt, dass in dem 120 Millionen Einwohner zählenden Land im Zeitraum 2007 bis Oktober 2014 23.271 Menschen verschollen sind. Allerdings ist nicht klar, wie viele dieser Menschen dem Verbrechen des Verschwindenlassens zum Opfer fielen oder aus anderen, nicht politischen Gründen unauffindbar sind. Menschenrechtsorganisation haben für den gleichen Zeitraum die Fälle von 22.500 Vermissten dokumentiert.

Die meisten Fälle von Verschwindenlassen werden den Drogenkartellen angelastet, die sich blutige Machtkämpfe um die Kontrolle der Schmuggelrouten zum lukrativen US-Markt liefern. In vielen Fällen haben korrupte Politiker ihre Hand im Spiel, in einigen Fällen die lokale oder nationale Polizei. Bei den Opfern handelt es sich meist um Männer zwischen 20 und 36 Jahren, die unterschiedlichen sozioökonomischen Schichten angehören.

Mit der Unterstützung der kirchlichen Menschenrechtsorganisation 'Centro Diocesano para los Derechos Humanos Fray Juan de Larios' wurden 2009 die Fuerzas Unidas gegründet, die insgesamt 344 Menschen suchen. Die Organisation hat bereits einiges bewirkt. So konnte sie ein neues Gesetz durch das Lokalparlament bringen, das die Abwesenheit von Menschen aufgrund von Verschwindenlassen anerkennt. Auch sorgte sie dafür, dass der Bundesstaat Coahuila Verschwindenlassen als eigenständigen Straftatbestand verfolgt.

Immer wieder bilden sich neue Gruppen wie die 'Ciencia Forense Ciudadana' (Bürgerschaft für forensische Wissenschaft), die seit September an einer DNA-Datenbank arbeitet. "Die Initiative ist dazu gedacht, in gegebener Zeit möglichst viele Verschwundene identifizieren zu können", erläutert die Mitbegründerin Sara López. Die Gruppe, die in zehn der 33 mexikanischen Bundesstaaten vertreten ist, will 450 Familien von Verschwundenen erfassen und 1.500 DNA-Proben nehmen.

Am 16. Februar ist es Ciencia Forense in Zusammenarbeit mit dem Peruanischen Team für forensische Anthropologie gelungen, die Leiche von Brenda González zu identifizieren, die am 31. Juli 2011 in Santa Catarina im nördlichen Bundesstaat Nuevo León verschwunden war. "Mit den kürzlich gegründeten Organisationen wollen wir einen umfangreichen Bericht über die Fälle von Verschwindenlassen erstellen", betont Trujillo.


Staatliches Desinteresse

Mexikanischen Menschenrechtsorganisationen zufolge hat erst der Fall der vermissten Studenten die Regierung zum Handeln veranlasst. Zuvor sei sie weitgehend untätig gewesen und habe nichts getan, um den Empfehlungen der Interamerikanischen Menschenrechtsgerichts nachzukommen.

Dem ruhelosen und verzweifelten Kampf der Familien, ihre vermissten Angehörigen wiederzufinden, hat der Sänger und Songwriter Manu Chao mit dem Lied 'Desaparecido' ein Denkmal gesetzt. Immer in Bewegung, suchen die Familien die Meldestellen auf, füllen Anträge aus, nehmen unzählige Risiken auf sich und zahlen viel Geld für die Suche nach ihren Lieben.

"Zum gegenwärtigen Zeitpunkt habe ich kein Interesse an Gerechtigkeit oder einer Entschädigung", meint García. "Uns allen geht es zunächst vor allem darum, zu erfahren, was mit unseren Angehörigen geschehen ist. Ich will wissen, was meinem Sohn zugestoßen ist. Möglicherweise werde ich dafür Jahre brauchen und daran verzweifeln, aber dennoch mache ich weiter."

Ihre Organisation Fuerzas Unidas hat eine Landkarte der Verbrechen erstellt, veranstaltet Sensibilisierungskampagnen und hat Vorschläge erarbeitet, wie diejenigen Staatsbediensteten abgestraft werden können, die die Ermittlungen behindern oder die schlampen. "Die Familien wissen am besten Bescheid, was getan werden muss", meint López. "Das Problem ist nur, dass uns das ganze Ausmaß des Phänomens schier erdrückt." (Ende/IPS/kb/2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/02/families-of-desaparecidos-take-search-into-their-own-hands/

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IPS-Tagesdienst vom 2. März 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. März 2015

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