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LATEINAMERIKA/1764: Nur Mut! - Das Erfolgsprojekt Uruguay braucht einen neuen Aufbruch (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Perspektive | FES Uruguay

Nur Mut!
Das Erfolgsprojekt Uruguay braucht einen neuen Aufbruch

von Sebastian Sperling
März 2018


• Nach 13 Jahren Frente Amplio-Regierung ist Uruguay heute die konsolidierteste Demokratie sowie die wohlhabendste und gerechteste Volkswirtschaft Lateinamerikas.

• Dennoch: Auch eine der letzten verbliebenen Mitte-links-Regierungen des progressiven Jahrzehnts in Lateinamerika sei reif für die Ablösung, so der Tenor einer neuen Protestbewegung in Uruguay. Diese kultiviert die Mischung aus neoliberalem, antipolitischem und rechtspopulistischem Diskurs, der zuletzt in allen Nachbarländern erfolgreich war.

• Die Frente Amplio hat zwar weiter gute Voraussetzungen, dem regionalen Trend zu trotzen, doch allein mit Verweis auf die großen Erfolge von gestern wird sie nicht aus der Defensive kommen. In ihrer eigenen Basis wächst die Unzufriedenheit darüber, dass eine mutige Definition für die nächste Etappe fehlt.

• Die Zukunft des progressiven Projekts entscheidet sich nicht erst bei den Wahlen im Oktober 2019, sondern bereits in diesem Jahr bei den anstehenden Lohn- und Haushaltsverhandlungen sowie den Partei- und Gewerkschaftskongressen. Sie bergen großes Potenzial, die gärenden Konflikte im linken politischen Spektrum zu vertiefen - doch ebenso die Chance für einen neuen Aufbruch.

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Einer Gruppe von Agrarunternehmer_innen (»Autoconvocados«) gelingt seit Januar 2018, woran die Opposition in Uruguay bislang gescheitert war: Sie kanalisiert Unzufriedenheit, bringt diese auf die Straße, bündelt sie in sozialen Netzwerken unter dem Banner »Un solo Uruguay« und dominiert die Titelseiten der Zeitungen. Der Verband privater Medienunternehmer_innen (Andebu) unterstützte ihren Demonstrationsaufruf und gibt mit dieser umstrittenen Parteinahme bereits einen Vorgeschmack auf den medialen Gegenwind, der einer der letzten verbliebenen Mitte-links-Regierungen des Kontinents im Wahlkampf blühen wird.

Ihre legitimen Forderungen - unter anderem Staatsverschuldung abbauen, Benzin- und Stromkosten senken - mischen sich in den sozialen Netzen mit rechtspopulistischer Empörung, fremdenfeindlichen Tönen und zum Teil schrillen Vorwürfen: Uruguay drohe die »Venezuelanisierung«, der Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT sei das »ISIS Uruguays«, die »korrupte Regierung« bediene mit ihrer »Genderideologie« einige »Minderheiten« und führe das Land in den »Staatsbankrott«. Die diffuse, heterogene Bewegung stellt sich gegen das Establishment und vereinnahmt die Nationalfahne als ihr Symbol. Sie kultiviert die schon in den Nachbarländern erfolgreiche Erzählung vom maroden System, vom ineffizienten Staat und von der korrupten Linken. Und sie bringt altbekannte neoliberale und vermeintlich alternativlose Antworten zurück: Staat verschlanken, Lohnkosten drücken, Steuern senken.

Infolgedessen überrascht es nicht, dass die Regierung mit ihrem Ad-hoc-Maßnahmenpaket aus Garantiefonds, Subventionen und Steuererleichterungen für den Agrarsektor die angestoßene Empörungswelle kaum besänftigen konnte. Denn im Kern geht es um etwas anderes: das Ende des progressiven Zyklus - nun endlich auch in Uruguay.


Gute Voraussetzungen, dem Trend zu trotzen

So schnell und unwillkürlich wird sich Uruguay dem regionalen Trend jedoch nicht fügen. Das aktuelle Szenario unterscheidet sich erheblich von anderen Ländern der Region, in denen linke Regierungen zuletzt abgewählt oder weggeputscht wurden - oder noch schlimmer, zu autoritären Regimen mutierten. Zum einen regiert die Frente Amplio (FA) bis zu den Wahlen Ende 2019 noch mit absoluter Mehrheit, zum anderen ist die politische Rechte in Uruguay bislang noch so gespalten wie anderswo die Linke.

Mit Edgardo Novick hat auch Uruguay einen kampagnenfähigen Unternehmer mit Anti-Establishment-Diskurs. Seine neu gegründete »Partei der Leute« (»El partido de la gente«) dümpelt jedoch in Umfragen im einstelligen Bereich, genau wie die ehemals stolze und vom rechten Flügel gekaperte Colorado-Partei. Die neu gegründete rechtsradikale Partei Segunda República Oriental ist bislang noch bedeutungslos. Der einzige ernstzunehmende Herausforderer ist die Partido Nacional, die in Umfragen mit der FA gleichauf liegt.

Die traditionelle Landpartei versucht zwar, die jüngsten Proteste für sich zu nutzen, ist aber vor allem mit internen Machtkämpfen beschäftigt und programmatisch ausgedörrt, was selbst einige ihrer Abgeordneten beklagen. Als Ergebnis ihrer derzeitigen Selbstfindung wird sie vermutlich weiter nach rechts rücken, ermutigt von den Protesten, dem regionalen Trend und dem zunehmenden Einfluss der evangelikalen Kirchen. Dies könnte der FA durchaus nutzen, sofern sie sich nicht auf die Polarisierung einlässt, sondern weiterhin Uruguays politische Kultur des Ausgleichs sowie die Einheit des Bündnisses pflegt.

Darüber hinaus steht Uruguay im Kampf gegen Korruption relativ gut da. Transparency International führt Uruguay als das Land mit der niedrigsten Korruptionswahrnehmung in Lateinamerika. Zwar versucht die Rechte, die FA für Korruptionsfälle innerhalb der Region in Sippenhaft zu nehmen, doch zeigt der Fall des Vizepräsidenten Raúl Sendic, der in seiner Zeit als Direktor der staatlichen Ölfirma ANCAP die Firmenkreditkarte für private Zwecke nutzte, dass Fehlverhalten auch zu Konsequenzen führt. Letztlich stürzte er über ein Urteil der parteieigenen Ethikkommission. Zudem werden derzeit parteiübergreifend Fälle von persönlicher Vorteilsnahme aufgedeckt und geahndet, sodass das Thema Ethik in der Politik und im Management staatlicher Unternehmen zu Recht hoch auf der Agenda steht. Gleichzeitig hat die FA bereits wichtige Reformen auf den Weg gebracht, Transparenz gestärkt und Korruption eingedämmt. Sie hat den Finanzsektor stärker reguliert, das Bankengeheimnis eingeschränkt und damit Geldwäsche erschwert, den Zugang zu Informationen ausgeweitet, öffentliche Werbung stärker reguliert sowie in einem Gesetz zur Parteienfinanzierung unter anderem Firmenspenden an Parteien gedeckelt.

Dank der zuvor genannten Reformen befindet sich die uruguayische Demokratie alles andere als in der Krise, sondern ist die gefestigste des Subkontinents. Laut Demokratieindex des Economist ist sie neben Kanada die einzige »vollständige Demokratie« der Amerikas. Die vom Latinobarómetro gemessene Zufriedenheit mit der Demokratie sowie die Glaubwürdigkeit von Parteien ist in Uruguay zwar leicht rückläufig, liegt aber weiterhin höher als in allen anderen lateinamerikanischen Ländern. Zudem hat kein Land der Region die Bürgerrechte ähnlich konsequent ausgeweitet: Uruguay steht weltweit auf Platz sechs des Freedom House Index.

Uruguay ist heute nicht nur demokratischer, sondern auch wesentlich wohlhabender und gerechter als 2005. Mit Blick auf viele soziale und wirtschaftliche Indikatoren steht es besser da als jedes andere Land der Region. In der nachhaltigsten Wachstumsphase seiner Geschichte sind Investitionen, Exporte und Reallöhne rapide gestiegen sowie Armut und Ungleichheit deutlich gesunken. Nach der Wachstumsdelle 2015 und 2016 sind die Aussichten wieder hervorragend. Das Wachstum klettert zurück auf über drei Prozent, während Arbeitslosigkeit (auf 6,9 Prozent) und Inflation (auf 6,5 Prozent) zuletzt wieder sanken und die laufende Tourismussaison erneut Rekorde bricht. Die Staatsverschuldung liegt leicht über den eigenen Zielen der Regierung, jedoch bei gesunden Staatsreserven.

Entscheidend ist, dass die FA in ihren 13 Regierungsjahren Strukturen und Spielregeln nachhaltig positiv verändert hat. Der Abbau der Armut geht beispielsweise nicht allein auf Sozialtransfers zurück, sondern vielmehr auf eine tiefgreifende Arbeitsmarktreform, durch die der Niedriglohnsektor weitgehend formalisiert und das System der tripartiten Lohnräte wieder etabliert ist, die Gewerkschaften ihren Organisationsgrad auf über 40 Prozent vervierfachen konnten und 95 Prozent der formal Beschäftigten unter Kollektivverträge fallen. Eine neue Rechte wird die Uhren in Uruguay daher nicht so einfach zurückdrehen können, wie es Macri in Argentinien oder Temer in Brasilien gelang.


Wo neue Ideen fehlen, sind uralte wieder erfolgreich

Das besorgniserregende für die FA ist weniger die Rückkehr neoliberaler Ideen, sondern dass sie diesen derzeit keinen überzeugenden Zukunftsplan entgegensetzen kann. Aus diesem Grund steigt auch die Unzufriedenheit in den eigenen Reihen. Zwar gefährdet noch keine Partei von links ernsthaft die politische Einheit des progressiven Spektrums, dennoch geben 15 Prozent der Bevölkerung an, nicht oder ungültig wählen zu wollen. Gerade junge Menschen fühlen sich von der FA nicht mehr politisch vertreten. In der Gewerkschaftsbewegung gewinnen die Stimmen an Einfluss, die von der dialogorientierten PIT-CNT-Führung eine härtere Opposition zur Regierung fordern und nicht länger nur zwischen dem Modell der Rechten und dem der FA wählen wollen, sondern ein drittes, radikaleres einfordern. Es ist zu befürchten, dass sich auf dem Kongress des PIT-CNT im Mai 2018 das Machtverhältnis zu deren Gunsten verschieben wird.

Die Erklärung für diese Unzufriedenheit liegt nicht allein in den gestiegenen Erwartungen einer breiteren und mit mehr Rechten ausgestatteten Mittelschicht. Desillusionierte Frenteamplistas kritisieren vielmehr, dass die aktuelle Regierung nur die Erfolge der Vergangenheit verwalten und beschlossene Reformen nur schleppend umsetzen würde, beispielsweise die Mediengesetzgebung. Schlimmer noch, einige Maßnahmen würden sogar wieder Rückschritte bedeuten, wie die jüngste Verschärfung des Jugendstrafrechts. Der FA fehle das progressive Profil und ein großes Ziel; sie sei nach 13 Jahren in der Regierung schlicht aufgebraucht und erschöpft.

Die Regierung Vázquez I (2005-2010) stand für die tiefgreifende Arbeitsmarkt- und Sozialreform, die Regierung Mujica (2010-2015) für die Ausweitung der Bürgerrechte. Und die Regierung Vázquez II für »finanzielle Inklusion«, antwortete Wirtschaftsminister Danilo Astori, und offenbart damit gerade das Problem. An Initiativen, wie zur Öffnung des Bankensektors für die Ärmsten, fehlt es nämlich nicht. Die Regierung hat durchaus eine umfangreiche Agenda. Aber diese ist zu kleinteilig und - so klagen viele - zu wenig progressiv. Dies ist das Vakuum, in das die alten Rezepte nun erneut vorstoßen können.

Wie schnell die FA in diesem Sinne bereits gewonnenes Terrain verliert, zeigt sich beispielhaft an der Arbeitsmarktpolitik. Eigentlich hatte sie in ihrem ersten Regierungsjahrzehnt schon den Gegenbeweis zum neoliberalen Deregulierungsmantra erbracht. Die jüngsten Kahlschläge in Brasilien und Argentinien haben aber auch in Uruguay das Argument wieder salonfähig gemacht, dass man Lohnkosten für die nationale Wettbewerbsfähigkeit drücken müsse. Mit dem Tritt auf die Lohn- und Haushaltsbremse in der Mini-Wachstumskrise 2015 und 2016 hatte die FA dieser Ansicht selbst wieder die Tür geöffnet.


Fünf Elemente für den notwendigen Aufbruch

Die Diskurshoheit zurückzugewinnen, ist keinesfalls nur eine Frage von besserer Kommunikation. Die Beschreibung einer weiteren Etappe wird mit einer Vertiefung des Bisherigen nicht auskommen. Denn es gibt einige Indizien dafür, dass Uruguays bisheriges Entwicklungsmodell an seine Grenzen gelangt ist.

Alarmsignale sind zum Beispiel, dass trotz guter Konjunktur die Ungleichheit seit 2012 wieder leicht gestiegen ist und die Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen bei knapp 24 Prozent liegt. Hinter diesen Indikatoren verbergen sich größere Umwälzungen auf dem Arbeitsmarkt, die unter anderem auch auf zunehmende Automatisierung einfacher Tätigkeiten zurückgeht. Laut übereinstimmender Studien bedroht diese mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze in Uruguay. Diese globalen Veränderungen verstärken den ohnehin schon großen Druck, Versäumnisse und blinde Flecken im bisherigen Entwicklungsmodell zu benennen. Es müsse nicht weniger als eine »Frente Amplio 3.0« her, inhaltlich wie personell, fordert Augustín Canzani, der Direktor der FA-nahen Stiftung Fundación Liber Seregni. Fünf häufig genannte Kritikpunkte am derzeitigen Modell treffen ins Mark einer progressiven Regierung:

1. Das Modell setzt zu undifferenziert auf internationale Großinvestoren. Es bestehen berechtigte Zweifel daran, ob zum Beispiel die Beschäftigungs- und Technologietransfereffekte in den von der FA ausgeweiteten Freihandels- und Sonderwirtschaftszonen tatsächlich die Verluste an Steuereinnahmen rechtfertigen würden. Dies berührt grundsätzlichere Zweifel an einer Steuerpolitik, die statt auf Kapital-, Unternehmens-, Vermögens- oder Erbschaftssteuern eher auf hohe Mehrwertsteuer (22 Prozent) setzt und damit die Ungleichheit vertieft. Und zum anderen an einer Investitionsförderung, die sich nicht gezielt auf solche Investitionen konzentriert, die mehr Technologietransfer und größere Wertschöpfung versprechen als beispielsweise die Verhandlungen mit dem finnischen UPM-Konzern über die Installation von deren zweiter Zellulose-Fabrik, ein Prestigeprojekt der Regierung.

Auch dank der Investitionspolitik hat sich der Landbesitz in der letzten Dekade stark konzentriert und internationalisiert. Was im Protest der Autoconvocados jedoch unerwähnt bleibt: Landbesitzer_innen haben ihre Bodenrente seit dem Jahr 2000 versiebenfacht und damit deutlich mehr vom Agrarboom profitiert als die Produzenten, Familienbetriebe oder Landarbeiter_innen. Grund genug, die Debatte um eine Landreform wiederzubeleben, die drei letztgenannten Gruppen und die genossenschaftlich organisierte Landwirtschaft zu stärken sowie die Investitionsförderung vor allem auf beschäftigungs- und wertschöpfungsintensive Zukunftssektoren zu konzentrieren, wie es zum Beispiel der PIT-CNT fordert.

2. Die natürlichen Ressourcen des Landes werden nicht ausreichend geschützt. Uruguay ist erfolgreich mit denjenigen Produkten, die viel Land und Wasser benötigen: Fleisch, Soja und Zellulose machen fast die Hälfte der Exporte aus. Die mit der Landkonzentration einhergehenden Monokulturen sowie der Pestizideinsatz gefährden jedoch genau diese Ressourcen. Die Regierung hat weder eine umfassende Umweltpolitik noch ein eigenes Umweltministerium; auch in der Entwicklung der Vision »Uruguay 2050« des Nationalen Planungsbüros spielt das Thema kaum eine Rolle. Anknüpfend an die bereits erfolgreiche Energiewende (mehr als die Hälfte des Stroms kommt aus erneuerbaren Quellen) müsste ökologische Nachhaltigkeit eine wichtige Komponente der nächsten Etappe sein.

3. Die Abhängigkeit von Primärexporten und damit volatilen Weltmarktpreisen wird nicht konsequent genug reduziert. In der Diversifizierung der Produktionsmatrix setzt die Regierung auf den Biochemie- sowie IT-Sektor. Stark angestiegen ist zuletzt der Export von Dienstleistungen. Uruguays Stabilität, Rechtssicherheit und Lebensqualität machen es als regionalen Unternehmensstandort attraktiv. Zudem zahlen sich die öffentlichen Investitionen in Internetkompetenz und digitale Infrastruktur aus, die laut ICT-Entwicklungsindex die am weitesten entwickelte Lateinamerikas ist. Die unterentwickelte Förderung von Forschung und Innovation, welche die erste FA-Regierung erstmals zum Gegenstand öffentlicher Politik gemacht hatte, benötigt dennoch einen neuen Impuls. Ebenso ist die Vertiefung und Diversifizierung von Marktzugängen zweifellos im Interesse der exportorientierten Wirtschaft, doch muss sich die Regierung fragen lassen, ob die Handelsabkommen in der derzeitigen Form nicht den Technologietransfer und damit die Entwicklung der genannten Zukunftssektoren erschweren sowie Uruguays Rolle als Fleisch-, Soja- und Zellulose-Lieferant weiter zementieren.

4. Die anhaltende Bildungskrise vertieft die soziale Ungerechtigkeit und setzt der Transformation zugleich Grenzen. Zwar hat die Regierung Abdeckung und Qualität der Primärbildung sowie den Zugang zu Universitäten im Inland stark verbessert sowie die Bildungsausgaben massiv erhöht, problematisch bleibt jedoch die Qualität der Sekundärbildung und die Abschlussquote. Jede_r fünfte 17- bis 25-Jährige hat weder einen Job noch einen Schulabschluss. Die Zahl privater Schulen nimmt auch dank staatlicher Förderung zu und die Qualitätsschere zu den öffentlichen Schulen geht weiter auseinander. Dahinter steht ein gewaltiges Gerechtigkeitsproblem, denn über die Bildungschancen entscheiden in erster Linie nachweislich das Einkommen der Eltern sowie der Wohnort.

Wie Generationen von Regierungen vor ihr scheitert die FA an einer Reform des Systems. Dabei läge darin nicht nur der Schlüssel zu mehr sozialer Gerechtigkeit und Inklusion, sondern auch zu einer Modernisierung des Wirtschaftssystems. Schon jetzt herrscht im IT-Sektor Vollbeschäftigung; der Fachkräftemangel ist absehbar. Die Studierendenzahlen steigen zwar absolut, sind im Verhältnis zur Alterskohorte aber leicht rückläufig. Nur etwas mehr als ein Drittel erreicht ein Abitur-Äquivalent. Die Zahl der Postgraduierten-Abschlüsse, gerade in den Naturwissenschaften, ist alarmierend gering. Projektionen zeigen, dass die uruguayische Arbeitsbevölkerung 2050 schlechter ausgebildet sein wird als die Bevölkerung von Ländern mit ähnlichem Entwicklungsstand. Eine Bildungsreform in den größeren Kontext einer Modernisierung des Wirtschaftssystems zu stellen, birgt hingegen die Chance, die jahrzehntealte Reformblockade zu überwinden.

5. Die FA erneuert sich nicht personell. Zum Teil erklärt dies, warum sie den Draht zur Jugend und zu sozialen Bewegungen verliert. Das Kabinett gehört mit einem Durchschnittsalter von 68 Jahren zu den ältesten, das Parlament mit einem Frauenanteil von unter 20 Prozent zu den männlichsten der Welt. Zudem steht der Erneuerung unter anderem im Wege, dass die verdienten Parteiführer José Mujica und Danilo Astori noch nicht ausgeschlossen haben, selbst wieder für das Präsidentenamt zu kandidieren. Sie wären bei einem möglichen Amtsantritt 84 bzw. 79 Jahre alt. Zwar ist die FA vom Personenkult anderer linken Parteien in der Region weit entfernt, aber derzeit ebenso weit davon, ein zeitgemäßes, diverses, jüngeres und weiblicheres Gesicht zu zeigen.


Die FA hat es in der Hand

Den Widerhall, den die Autoconvocados mit ihrem Protest finden, sollte der FA ein Weckruf sein. Mit einem »Weiter so« wird sie nicht aus der Defensive kommen. Sofern sie es einer nach rechts rückenden Opposition und einem antipolitischen Wutbürgertum überlässt, die Fragen des kommenden Wahlkampfes zu formulieren, wird sie eine Getriebene bleiben. Stattdessen müsste die FA wieder zeigen, dass sie den Mut und die Kraft hat, die Zukunft zu gestalten, und einen Plan vorlegen, zu dem die Herausforderer_innen sich positionieren müssten.

Das Zeitfenster für den notwendigen Aufbruch schließt sich im Jahr 2018. Es stehen die letzten Haushaltsverhandlungen dieser Legislatur sowie die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst bevor. Beide bergen enormes Konfliktpotenzial. Laufen erstere so konspirativ wie 2017 und letztere so konfliktreich wie 2016, werden die Risse in der FA-Basis vor den Wahlen kaum mehr zu kitten sein. Dennoch liegt in beiden Verhandlungen für die Regierung auch die Chance, Signale für einen neuen Aufbruch zu setzen. Auf ihrem Programmkongress im Dezember 2018 kann die FA dies in eine kohärente Erzählung gießen und in der Vorauswahl des Kandidat_innenkreises für die Präsidentschaftswahlen auch den personellen Aufbruch einleiten.

Gelingt ihr dies nicht, wird sie weder den regionalen Trend noch die Stärke der Opposition dafür verantwortlich machen können. Es wäre schwer zu rechtfertigen, den Aufbruch angesichts der vorteilhaften Voraussetzungen, der brummenden Konjunktur und der absoluten Mehrheit nicht wenigstens versucht zu haben. Eine Wahl zu verlieren, wäre kein Drama. Regierungswechsel sind demokratische Normalität. Fatal wäre es jedoch, auf dem Weg dorthin Profil, Glaubwürdigkeit und Vertrauen sowie die Einheit des progressiven Spektrums zu verspielen. Wer verstünde dies besser als deutsche Sozialdemokrat_innen.


Über den Autor

Sebastian Sperling ist Landesvertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Uruguay.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. März 2018

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