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NAHOST/1061: Wiederaufbau im Gazastreifen scheitert an mangelndem politischem Willen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 17. August 2015

Nahost: Wiederaufbau im Gazastreifen scheitert an mangelndem politischem Willen

von Charlie Hoyle



Bild: © Shareef Sarhan/UNRWA Archives

Ein Jahr nach dem jüngsten Gaza-Konflikt ist noch keines der 11.000 zerstörten Wohnhäuser wieder aufgebaut
Bild: © Shareef Sarhan/UNRWA Archives

BETHLEHEM, Palästina (IPS) - Wo früher Häuser, Geschäfte und Restaurants standen, liegt heute Schutt auf den Straßen. Betonblöcke und Metallstreben glühen in der Hitzewelle, die dieser Tage über den Gazastreifen schwappt. Vor acht Monaten sah es hier noch fast genauso aus, nur dass damals das eiskalte Winterwetter die Bewohner herausforderte.

Mehr als ein Jahr ist vergangen, seit im jüngsten Gazakonflikt das israelische Militär eine 51 Tage dauernde Großoffensive auf den Gazastreifen führte. Je nach Quelle starben dabei 1400 bis 2200 Palästinenser, darunter bis zu 500 Kinder. Von den 11.000 teilweise bis komplett zerstörten Häusern ist heute so gut wie keines wieder aufgebaut worden.

Dabei sah ein von den Vereinten Nationen unterstütztes Abkommen zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde, die die Hoheit über den Gazastreifen hat, genau das vor. Der sogenannte 'Gaza-Wiederaufbau-Mechanismus' (GRM) sollte den Wiederaufbau der Häuser und Geschäfte organisieren und über die Einfuhr und Verteilung der Baumaterialien in den Gazastreifen wachen.

Doch bis heute haben lediglich 5,5 Prozent der benötigten Baumaterialien ihr Ziel erreicht, berichtet die israelische Menschenrechtsgruppe Gisha, die vor zehn Jahren gegründet wurde, um die Bewegungsfreiheit der Palästinenser - und vor allem der Bewohner des Gazastreifens - durchzusetzen.


Israel überwacht Einfuhr der Baumaterialien

Die Ursachen sind vielfältig: Dazu gehören bisher nicht erfüllte Zusagen von Geberländern aus dem vergangenen Oktober, die zusammen 5,4 Milliarden US-Dollar an Hilfen erbringen wollten. Auch anhaltende Spannungen zwischen der Palästinensischen Autonomiebehörde und der Hamas bedeuten ein Hindernis für den Wiederaufbau. Schließlich trägt auch Israel einen Teil der Verantwortung, da die Einfuhr aller Art von Materialien in den Gazastreifen streng limitiert ist.

Das größte Problem ist für viele allerdings der Wiederaufbau-Mechanismus selbst. Dessen Konstrukt manifestiere die Unterentwicklung des Gazastreifens, da der GRM Israel die Kontrolle über so gut wie jeden Aspekt des Wiederaufbauprozesses übertragen hat.

"Israel hält praktisch die Kontrolle über jedes Haus, das im Gazastreifen gebaut wird", sagt Ghada Snunu vom Ma'an-Enwicklungszentrum im Gazastreifen. "Wir können kein Haus bauen, wenn Israel das nicht möchte."

Im Rahmen des GRM darf Israel einzelne Anträge auf Baumaterialien verweigern. Das Land hat außerdem ein Veto-Recht für die Entscheidungen der Palästinensischen Autonomiebehörde, welche Baufirmen sie mit der Arbeit am Wiederaufbau beauftragt. Und schließlich hat Israel Zugriff auf die Datenbank der Autonomiebehörde, in der die GPS-Daten aller zerstörten Häuser aufgeführt und die Passnummern der jeweiligen Besitzer gespeichert sind.

Laut der Hilfsorganisation Oxfam konnten in den vergangenen Monaten mehr Baumaterialien in den Gazastreifen eingeführt werden. Die Einfuhrrate liege allerdings noch immer bei lediglich einem Viertel der Güter, die vor der Blockade des Gazastreifens, die Israel vor acht Jahren begonnen hatte, das Gebiet erreichten.

"Wenn es in diesem Tempo weitergeht, dann dauert es 19 Jahre, bis die im vergangenen Jahr zerstörten Häuser wieder aufgebaut sind", sagt Arwa Mhunna von Oxfam gegenüber IPS. "Insgesamt 76 Jahre würde es dauern, bis alle neuen Häuser gebaut sind, die im Gazastreifen benötigt werden."


100.000 Palästinenser noch immer in Notunterkünften

Die meisten der 100.000 Palästinenser, die während des Krieges vertrieben wurden, leben heute noch immer in Notunterkünften. Viele sind in den Ruinen ihrer eigenen Häuser untergekrochen - mitten zwischen dem Schutt von anderen Wohnhäusern, von Geschäften und Restaurants, die hier einst das Straßenbild prägten.

Doch die acht Jahre währende Blockade, die Raketenbeschüsse von 2004 und zwei weitere israelische Militäroffensiven seit 2008 haben das Bild stark verändert.

Im Mai veröffentlichte die Weltbank Zahlen, nach denen der Gazastreifen die weltweit höchste Arbeitslosenquote zu verzeichnen hat: 43,9 Prozent der Menschen sind ohne Job. Bei den unter 24-Jährigen ist die Rate mit 67 Prozent sogar noch viel höher. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt laut Weltbank 31 Prozent niedriger als noch vor 20 Jahren, gerade einmal bei umgerechnet 970 US-Dollar pro Jahr. Damit sind mindestens 80 Prozent der Bewohner auf humanitäre Hilfe angewiesen. "Die Situation verschlechtert sich immer mehr", bestätigt auch Mhunna.

Die israelische Regierung betont immer wieder, dass sie den Gazastreifen nicht mehr besetzt hält. Theoretisch stimmt das: Im Jahr 2005 hat sich Israel aus dem Gazastreifen zurückgezogen und 9000 Siedler sowie eine große Anzahl von Soldaten von dem Küstenstreifen abgezogen. Doch zehn Jahre später kontrolliert Israel noch immer die Palästinenser, die den Gazastreifen verlassen oder betreten sowie die Zufuhr von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Baumaterialien.

"Der Wiederaufbau-Mechanismus schadet den Palästinensern mehr als er ihnen nutzt", sagt Snunu. "Palästinenser brauchen Lösungen für die Krise, in der sie stecken. Nicht Mechanismen, die die Krise managen." (Ende/IPS/jk/17.08.2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/08/designed-to-fail-gazas-reconstruction-plan/

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IPS-Tagesdienst vom 17. August 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2015

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