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NAHOST/442: Vorsicht bremst die Bodenoffensive - Hintergründe zum Blutbad in Gaza (Jonathan Cook)


The Electronic Intifada - 1. Januar 2009

Vorsicht bremst die Bodenoffensive

Von Jonathan Cook, Auslandskorrespondent


Jerusalem. Seitdem Hamas vor drei Jahren bei den palästinensischen Wahlen triumphiert hat, meint man in Israel, daß eine großangelegte Bodenoffensive im Gazastreifen nahe bevorstehe. Doch auch als der öffentliche Druck anstieg, einen entscheidenden Schlag gegen die Hamas zu führen, schreckte die Regierung vor einem Frontalangriff zurück.

Jetzt wartet die Welt darauf, daß Ehud Barak, der Verteidigungsminister, die Panzer und die Truppen hineinschickt, da die Logik dieses Angriffsunternehmens unweigerlich auf einen Bodenkrieg drängt. Und dennoch hat man von offizieller Seite gezögert. Eine große Anzahl von Bodenkräften wurde an der Grenze von Gaza zusammengezogen, aber noch immer spricht man in Israel von "Abzugsstrategien," Beruhigung und erneutem Waffenstillstand.

Und selbst wenn israelische Panzer in die Enklave hineinrollen, werden sie es wagen, sich auf das wirkliche Schlachtfeld von Zentral-Gaza zu begeben? Oder werden sie lediglich dafür eingesetzt, wie es in der Vergangenheit der Fall war, die Zivilbevölkerung in den Randgebieten zu terrorisieren?

Die Israelis sind sich über die offiziellen Gründe für Baraks Zögern, den Luftangriffen einen großangelegten Bodenkrieg folgen zu lassen, im Klaren. Sie wurden ohne Ende daran erinnert, daß sich die schwersten Verluste, die die Armee zur Zeit der zweiten palästinensischen Intifada 2002 hinnehmen mußte, während der Invasion des Flüchtlingslagers Dschenin ereignet haben.

Gaza, wie Israelis nur allzugut wissen, ist ein gigantisches Flüchtlingslager. Seine engen Gassen, die für Merkava-Panzer nicht passierbar sind, werden die israelischen Soldaten ins Freie treiben. Gaza ist der israelischen Vorstellung nach eine Todesfalle.

Zugleich hat niemand den hohen Preis vergessen, den israelische Soldaten 2006 während des Bodenkriegs mit der Hizbollah zahlen mußten. In einem Land wie Israel mit einer Bürgerarmee hat die Öffentlichkeit eine phobische Abneigung gegen einen Krieg entwickelt, in dem eine große Zahl ihrer Söhne in die Schußlinie gebracht wird.

Diese Furcht wird durch Berichte in den israelischen Medien, daß Hamas dafür bete, die Gelegenheit zu erhalten, die israelische Armee in ein ernstes Gefecht zu verwickeln, nur noch gesteigert. Die Entscheidung, viele Soldaten in Gaza zu opfern, ist keine, die Barak, dem Vorsitzenden der Arbeitspartei, angesichts der in sechs Wochen bevorstehenden Wahlen leichtfallen wird.

Aber es gibt noch eine weitere Sorge, die ihm ebenfalls Grund liefert zu zögern.

Trotz der öffentlichen Rhetorik in Israel glaubt niemand auf höherer offizieller Ebene wirklich daran, daß Hamas aus der Luft oder auch mit brigadenweise Truppen vernichtet werden kann. Gaza ist einfach zu befestigt.

Dieser Schluß wird durch die lauen Erklärungen bestätigt, die bislang für die israelischen Aktionen geliefert wurden. "Ruhe im Süden des Landes schaffen" und "die Sicherheitsarchitektur verändern" werden früheren Favoriten wie "die Infrastruktur des Terrors zerstören" vorgezogen.

Eine Invasion, deren wirkliches Ziel der Umsturz von Hamas wäre, würde aus der Sicht von Barak und seiner Administration die permanente militärische Wiedereroberung Gazas erfordern.

Aber den Rückzug aus Gaza rückgängig zu machen - Das Geisteskind von Ariel Sharon 2005, dem seinerzeitigen Premierminister - würde für Israel ein enormes militärisches und finanzielles Engagement bedeuten. Es würde von neuem die Verantwortung für das Wohlergehen der örtlichen Zivilbevölkerung übernehmen müssen, und die Armee wäre mit den Tücken der polizeilichen Kontrolle der von Menschen wimmelnden Lager Gazas konfrontiert.

In der Tat würde eine Invasion in Gaza, um Hamas zu stürzen, eine Trendumkehr in der israelischen Politik seit dem Oslo-Prozeß der frühen 1990er Jahre bedeuten.

Zu jener Zeit erlaubte Israel dem lange ins Exil verbannten palästinensischen Führer Jassir Arafat in der neuen Rolle als Leiter der palästinensischen Verwaltung in die besetzten Gebiete zurückzukehren. Naiverweise ging Arafat davon aus, er würde eine Regierung in Warteposition leiten. In Wirklichkeit wurde er lediglich Israels Hauptvertragspartner in Sachen Sicherheit.

Arafat wurde in den 1990er Jahren geduldet, weil er wenig dafür tat, Israels erfolgreiche Annexion weiter Teile der Westbank durch die rasche Ausbreitung von Siedlungen und zunehmende strikte Einschränkungen der Bewegungsfreiheit der Palästinenser zu stoppen. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, seine getreuen Fatah-Sicherheitskräfte aufzubauen, Hamas in Schach zu halten und sich auf eine Staatlichkeit vorzubereiten, die nie eintrat.

Als die zweite palästinensische Intifada losbrach, hatte Arafat gezeigt, daß seine Nützlichkeit für Israel überholt war. Seine Palästinensische Autonomiebehörde wurde nach und nach entmachtet.

Seit Arafats Tod und dem Auszug aus Gaza hat Israel versucht, die physische Abtrennung des Streifens von der hochbegehrten Westbank zu festigen. Auch wenn dies nicht ursprünglich von Israel gewünscht war, trug die Übernahme Gazas durch die Hamas wesentlich zu diesem Ziel bei.

Israel ist nun konfrontiert mit zwei palästinensischen Nationalbewegungen. Die Fatah-Bewegung mit Basis in der Westbank und angeführt von einem schwachen Präsidenten, Mahmoud Abbas, ist weitgehend diskreditiert und willfährig. Die zweite, die Hamas mit Basis in Gaza, hat an Vertrauen dazugewonnen, weil sie beansprucht, der wahre Hüter des Widerstands gegen die Besatzung zu sein.

Nicht in der Lage, Hamas zu zerstören, zieht Israel nun in Erwägung, ob man mit der bewaffneten Gruppe nebenan leben könne.

Hamas hat bewiesen, daß sie ihre Herrschaft in Gaza durchsetzen kann so wie Arafat es einst in beiden besetzten Gebieten getan hat. Die Frage, die in Israels Regierungs- und Kriegsberatungszimmern debattiert wird, ist ob die Hamas wie Arafat dazu gebracht werden kann, mit der Besatzung zu einem Einvernehmen zu kommen. Sie hat bewiesen, daß sie stark ist, aber kann man sie dazu bewegen, auch nützlich für Israel zu sein?

In der Praxis würde das bedeuten, Hamas eher zu zähmen als zu vernichten. Während Israel versucht Fatah in der Westbank mit der sprichwörtlichen Möhre aufzubauen, nutzt es das aktuelle Blutbad in Gaza als großen Stock, mit dem Hamas zum Einverständnis geprügelt werden soll.

Das letztendliche Ziel ist eine weitere Waffenruhe, die den Raketenbeschuß aus dem Gazastreifen stoppt, wie der sechsmonatige Waffenstillstand, der gerade beendet wurde, jedoch zu vorteilhafteren Bedingungen für Israel.

Die brutale Blockade, die die Bevölkerung Gazas seit vielen Monaten des Lebensnotwendigen beraubt, hat dieses Ziel nicht erreicht. Stattdessen hat Hamas schnell die Kontrolle über die Schmuggeltunnel übernommen, die für die Gaza-Bewohner zu einer Lebensader geworden sind. Die Tunnel haben gleichermaßen die Finanzmittel der Hamas wie ihre Popularität angehoben.

Es sollte nicht überraschen, daß Israel sich kaum darum bemüht hat, die Hamas-Führung zu schlagen oder den militärischen Arm. Stattdessen hat man die Tunnel bombardiert, Hamas' Schatztruhe, und hat eine ansehnliche Zahl gewöhnlicher Polizisten getötet, die Garanten für Recht und Ordnung in Gaza. Jüngste Berichte lassen vermuten, daß Israel jetzt plant, seine Luftschläge auf die Wohlfahrtsorganisationen der Hamas auszudehnen, die mildtätigen Einrichtungen, die die Grundlage für ihre Popularität bilden.

Die Luftoffensive beschneidet die Fähigkeit der Hamas, effektiv als Gazas Regierung zu funktionieren. Sie unterminiert Hamas' politische Machtbasis. Die Lektion ist nicht, daß Hamas militärisch zerstört, sondern, daß sie auf dem eigenen Boden geschwächt werden kann.

Israel hofft augenscheinlich, die Hamas-Führung davon zu überzeugen, wie man das mit Arafat für eine Zeitlang getan hat, daß ihren Interessen am besten gedient ist, wenn sie mit Israel kooperieren. Die Botschaft ist: Vergeßt euer öffentlichkeitswirksames Mandat des Widerstands gegen die Besatzung und konzentriert euch stattdessen darauf, mit unserer Hilfe an der Macht zu bleiben.

In der Unübersichtlichkeit des Krieges könnten die Ereignisse noch so eskalieren, daß eine ernsthafte Bodenoffensive nicht zu vermeiden ist, besonders dann, wenn Hamas damit fortfährt, Raketen auf Israel abzuschießen. Aber was auch immer geschieht, Israel und Hamas werden fast ganz sicher am Ende einem weiteren Waffenstillstand vereinbaren.

Die Frage wird sein, ob die Hamas damit, wie Arafat zuvor, ihre vorrangige Aufgabe aus den Augen verliert: Israel dazu zu zwingen, seine Besatzung zu beenden.



Die Originalfassung dieses Artikels wurde in der Zeitung "The National" in Abu Dhabi veröffentlicht und von "The Electronic Intifada" mit freundlicher Genehmigung nachgedruckt.

The National: http://thenational.ae/apps/pbcs.dll/frontpage


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Über den Autor:
Jonathan Cook ist der einzige westliche Journalist, der in Nazareth lebt, der Hauptstadt der palästinensischen Minderheit in Israel. Er war zuvor Mitarbeiter bei den Zeitungen The Guardian und Observer und hat über den israelisch-palästinensichen Konflikt auch für die Times, Le Monde diplomatique, die International Herald Tribune, Al-Ahram Weekly, Counterpunch und Aljazeera.net geschrieben. Er ist Autor von Blood and Religion (2006) und von Israel and the Clash of Civilisations (2008).

Sein neuestes Buch "Disappearing Palestine: Israel's Experiments in Human Despair" ist im Oktober 2008 bei Zed Books in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten erschienen. Weitere Informationen zum Buch unter:
http://www.jkcook.net/DisappearingPalestine.htm

Weitere Texte von Jonathan Cook findet man auf seiner Website unter:
http://www.jkcook.net/

Übersetzung aus dem Englischen: Redaktion Schattenblick
Orginalartikel unter: http://electronicintifada.net/v2/article10091.shtml


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Quelle:
The Electronic Intifada, 1. Januar 2009
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Chicago, IL 60615, USA
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2009