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NAHOST/472: Israel wird aktiv, um Anklagen wegen Kriegsverbrechen zu verhindern (Jonathan Cook)


Israel wird aktiv, um Anklagen wegen Kriegsverbrechen zu verhindern

Von Jonathan Cook, Auslandskorrespondent - 25. Januar 2009


Jerusalem // Wachsende Befürchtungen in Israel, die Führung des Landes könne demnächst in Zusammenhang mit der Beteiligung an der jüngsten Gaza-Offensive wegen Kriegsverbrechen angeklagt werden, trieben Amtsträger am Wochenende zu hektischen Aktivitäten, um rechtlichen Schritten zuvorzukommen.

Der Druck wurde in der letzten Woche noch durch Gerüchte verstärkt, die belgischen Behörden könnten Zipi Livni, Israels Außenministerin verhaften, sollte sie am Mittwoch den Gipfel der EU-Außenminister in Brüssel besuchen. Wie ernst diese Angelegenheit genommen wurde, merkte man daran, daß ihre Berater schon kurz davor waren, die Reise von Frau Livni abzusagen, als sich die Geschichte als Schwindel herausstellte.

Dennoch ist man nach einer Warnung von Menachem Mazuz, dem Generalstaatsanwalt des Landes, daß sich Israel demnächst mit "einer Welle internationaler Anklageerhebungen" konfrontiert sehen könnte, in offiziellen Kreisen auf tatsächliche Versuche, hohe politische und militärische Persönlichkeiten zu verhaften, gefaßt.

So stellt die Regierung eine spezielle Arbeitsgruppe für die rechtliche Abwehr zusammen und hat den Medien untersagt, Armeeoffiziere namentlich zu nennen oder zu photographieren, die am Angriff auf Gaza beteiligt waren. Darüber hinaus hat sie Beschränkungen für Reisen ins Ausland erlassen. Am heutigen Tage sollten die Minister noch ein Hilfspaket zur Unterstützung von Soldaten verabschieden, die sich gegen Haftbefehle im Ausland zur Wehr setzen.

Die Sorge um Verfahren wegen Kriegsverbrechen ist die Folge einer Reihe von Äußerungen von Richard Falk, dem Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für die Besetzten Gebiete und emeritierten Professor für internationales Recht an der Universität von Princeton in den Vereinigten Staaten.

Er beschuldigte Israel schwerer Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht während der dreiwöchigen Offensive, bei der über 1.300 Bewohner, mehrheitlich Zivilisten, getötet und Tausende mehr verwundet wurden.

"Es gibt die wohlbegründete Meinung, daß sowohl der Angriff auf den Gazastreifen an sich als auch die von Israel eingesetzten Methoden gravierende Verletzungen der UN-Charta, der Genfer Konventionen, des internationalen Völkerrechts und internationalen humanitären Völkerrechts darstellen", erklärte er im Endstadium der Kämpfe.

Als ihnen aufgrund des vor einer Woche erklärten Waffenstillstandes der Zugang zu der winzigen Enklave möglich war, haben auch Amnesty International und Human Rights Watch ihre Stimmen erhoben. Die beiden Menschenrechtsorganisationen kritisieren Israel, weil kein Unterschied zwischen palästinensischen Zivilisten und Kämpfern gemacht wurde und umstrittene Waffen zum Einsatz kamen.

Beide Gruppen meinen, es gebe unwiderlegbare Beweise dafür, daß Israel weiße Phosphorgranaten über Gaza abgefeuert hat, obwohl diese Waffen für den Einsatz in zivilen Gebieten verboten sind. Diese Waffen setzten Häuser in Brand, verbrannten und verletzten Zivilisten, die von dem herabregnenden Phosphor getroffen wurden.

Kenneth Roth, der Direktor von Human Rights Watch, hat Israel darüber hinaus scharf kritisiert, weil hochexplosive Granaten in dichtbebautem Gebiet eingesetzt wurden, obwohl die Geschütze mit ihrer Explosion einen Bereich von bis zu 300 Metern erfassen.

Erste Anzeichen deuten darauf hin, daß die Armee zudem auch auf eine experimentelle Waffe - Dime oder dense inert metal explosive (1) - zurückgegriffen hat, die Gliedmaßen vom Körper reißt und die inneren Organe eines jeden zerstört, der sich in der Nähe der Detonation aufhält.

Die Internationale Atomenergiebehörde, der nukleare Wächter der UNO, untersucht die von Saudi-Arabien vorgebrachte Anschuldigung, daß abgereicherte Uranmunition in Gaza eingesetzt wurde.

Darüber hinaus haben Menschenrechtsgruppen damit begonnen, Beispiele dafür zu dokumentieren, daß die Armee auf zivile Gebäude, einschließlich der UN-Schulen, geschossen hat und daß Soldaten palästinensische Zivilisten als menschliche Schutzschilde einsetzten.

Gegenüber der Zeitung Yedioth Ahronoth äußerte man sich von offizieller Seite: "Was die internationale Bühne betrifft, so beginnt für Israel möglicherweise die dunkelste Zeit."

Die wachsende Besorgnis zeigt sich auch in den Worten, mit denen ein namentlich nicht genannter Minister in der letzten Woche zitiert wurde: "Wenn das Ausmaß der Schäden in Gaza deutlich wird, werde ich wohl nicht länger Urlaub in Amsterdam machen, höchstens am Internationalen Gerichtshof in Den Haag" - eine Anspielung auf den Internationalen Strafgerichtshof in den Niederlanden, vor dem Kriegsverbrechen verhandelt werden.

Während der vergangenen Woche haben 300 Menschenrechtsorganisationen gemeinsam ein 37seitiges Dossier mit Beweismaterial vorbereitet, um es dem Gericht vorzulegen.

Rechtsexperten zufolge wird es allerdings schwierig sein, Israel vor den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH oder ICC) zu bringen, weil es das Statut von Rom nicht unterzeichnet hat, das die Rechtsprechung und Funktion des Gerichtshofs regelt. Dennoch könnte ein ähnliches Tribunal, wie das für die Kriegsverbrechen in Ruanda oder im früheren Jugoslawien, eine Option darstellen. Der IStGH könnte auch versuchen, einzelne israelische Kommandeure wegen Kriegsverbrechen vor Gericht zu bringen.

Viel besorgniserregender für Israel ist jedoch die Tatsache, daß europäische Menschenrechtsaktivisten, insbesondere in Britannien und Belgien, die nationale Rechtslage nutzen könnten, um vor Gerichten in ihren Heimatländern Verfahren wegen Kriegsverbrechen gegen israelische Führungspersonen anzustrengen.

Ähnliche Anstrengungen wurden schon bei anderen Gelegenheiten unternommen. Besonders zu erwähnen ist das Jahr 2005, als Doron Almog, der vormalige israelische Kommandeur in Gaza, nur deshalb der Verhaftung im Vereinigten Königreich entging, weil man ihm nach seiner Ankunft auf dem Flughafen Heathrow geraten hatte, im Flugzeug zu bleiben. Unter der Führung von Generalmajor Almog waren drei Jahre zuvor Hunderte Häuser in Gaza zerstört worden.

Anonyme Aktivisten in Israel richteten eine Website ein (www.wanted.org.il), die der israelischen Führung das Leben schwer machen soll. Diese "outet" all jene, die sie der Kriegsverbrechen beschuldigen, inklusive Ehud Barak, den Verteidigungsminister, Ehud Olmert, den Ministerpräsidenten und Frau Livni. Sie legt darüber hinaus den größten Teil des obersten militärischen Kommandos offen.

Zusätzlich zu Photos und Informationen über das dem jeweiligen Funktionsträger zur Last gelegte Verbrechen, stellt die Website Kontaktdaten des Internationalen Strafgerichtshofs bereit und fordert Besucher dazu auf, diesen zu benachrichtigen, wenn sich "der Verdächtige außerhalb der Grenzen Israels aufhält".

Um die Gefahr von Verhaftungen abzuwenden, ergriff Israel unverzüglich eine Reihe von Maßnahmen zum Schutz seiner Führung. In den nächsten Tagen tritt eine spezielle Arbeitsgruppe, die dem Büro des Ministerpräsidenten unterstellt ist, zusammen, um eine Verteidigung für Kommandanten der Armee auszuarbeiten.

Die israelischen Medien spekulieren, daß Experten für internationales Recht versuchen könnten, Beweise dafür zusammenzutragen, daß die Hamas zivile Gebäude als Waffenlager nutzte und daß sich die Armee große Mühe gegeben habe, die Bewohner zu warnen und ihnen Gelegenheit zur Flucht zu geben, bevor die Gebiete bombardiert wurden.

Die Militärzensur entfernt alle Informationen aus Medienberichten, die zur Identifizierung der Führungsoffiziere, die in die Gaza-Offensive eingebunden waren, dienen könnten. Offiziere, die ins Ausland reisen wollen, müssen zunächst den Rat der militärischen Führung einholen.

(1) Granaten mit Sprengstoff und dichtem reaktionsträgen Metall


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Über den Autor:
Jonathan Cook ist der einzige westliche Journalist, der in Nazareth lebt, der Hauptstadt der palästinensischen Minderheit in Israel. Er war zuvor Mitarbeiter bei den Zeitungen The Guardian und Observer und hat über den israelisch-palästinensischen Konflikt auch für die Times, Le Monde diplomatique, die International Herald Tribune, Al-Ahram Weekly, Counterpunch und Aljazeera.net geschrieben. Er ist Autor von Blood and Religion (2006) und von Israel and the Clash of Civilisations (2008).

Sein neuestes Buch "Disappearing Palestine: Israel's Experiments in Human Despair" ist im Oktober 2008 bei Zed Books in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten erschienen. Weitere Informationen zum Buch unter:
http://www.jkcook.net/DisappearingPalestine.htm

Weitere Texte von Jonathan Cook findet man auf seiner Website unter:
http://www.jkcook.net/


Übersetzung aus dem Englischen:
Redaktion Schattenblick

Englischer Originaltext:
http://www.jkcook.net/Articles2/0368.htm#Top

Der englische Originaltext ist darüber hinaus erschienen in: "The National", Abu Dhabi, 25. Januar 2009, www.thenational.ae



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Quelle:
© Jonathan Cook, 25. Januar 2009
mit freundlicher Genehmigung des Autors
Internet: www.jkcook.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Januar 2009