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NAHOST/497: Irak - 1,3 Millionen Tote und sechs Millionen Vertriebene (Tlaxcala)


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Irak: 1,3 Millionen Tote und sechs Millionen Vertriebene - Die Zahlen sprechen für sich

Von Souad N. Al-Azzawi, 27.03.2009
Übersetzt von Hergen Matussik


Ich bin stolz darauf, Wissenschaftlerin und Forscherin zu sein. Meine akademische Karriere gründet sich auf Theorien und Zahlen. Als Lehrerin bringe ich meinen Studenten bei, daß alles auf Wissenschaft gründet - alles hat seine Begründung. Aus diesem Grunde bin ich immer frustriert, wenn ich im Zusammenhang mit manchen Themen von Gefühlen überwältigt werde.

Ein solches Thema ist die Besatzung meines Landes, des Irak. Im Zusammenhang mit diesem Thema wird mir klar, daß ich nicht immer leidenschaftslos bleiben kann. Ich kann nicht Forscherin und Beobachterin sein und ohne Gefühl oder emotionale Beteiligung darüber sprechen, wie man es mitunter von mir erwartet. Ich merke, wie ich Nachforschungen über die Schäden anstelle, die durch Krieg und Besatzung verursacht wurden, und mir dröhnt der Kopf vor Zorn, meine Augen brennen von den Tränen der Verzweiflung über den Zustand meines Landes.

Sechs Jahre sind seit dem Überfall vergangen. und der Schmerz ist so frisch und schneidend, wie er im März des Jahres 2003 war. Für dieses Jahr beschloß ich, die Angelegenheit als Wissenschaftler zu betrachten. Ich würde den Gegenstand ohne Emotionen angehen und die Zahlen für sich alleine sprechen lassen. Dieses Jahr wollte ich mich zurückhalten und die Rolle des Analytikers und Forschers übernehmen - über den Gegenstand, der meinem Herzen am nächsten ist.

Nach sechs Jahren Besatzung ...

72 Monate Zerstörung
607 Milliarden Dollar an Kriegsausgaben
2 Millionen Barrel Erdöl, die täglich verkauft werden
2 Millionen vertriebene Iraker innerhalb des Landes
3 Millionen Iraker, die gezwungen waren, das Land zu verlassen
2615 Professoren, Wissenschaftler und Ärzte, die kaltblütig getötet wurden
338 tote Journalisten
13 Milliarden Dollar, die unter Aufsicht der irakischen Regierung verschwanden
400 Milliarden, die der Wiederaufbau der irakischen Infrastruktur erfordert
durchschnittlich täglich 3 Stunden Versorgung mit elektrischem Strom
24 Autonbomben jeden Monat
7 größere Mafia-Organisationen, die das Land kontrollieren
4260 tote Amerikaner
10.000 Cholerafälle jedes Jahr
50 meiner Freunde tot
22 meiner Verwandten tot
15 Entführungen von nahen Verwandten und von Menschen, die ich kenne und liebe
wenigstens 1.3 Millionen tote Iraker seit 2003

Auch nach sechs Jahren Besatzung sehen die Zahlen irgendwie nicht besser aus. Jahr um finsteres Jahr wachsen die Zahlen der Toten und Vertriebenen, während wir weiter die Früchte einer amerikanischen Besatzung ernten.

Die Zahlen sprechen für sich selbst. Sechs. Sechs Monate brauchte es für die meisten Iraker um zu realisieren, daß Krieg und Besatzung nichts Gutes bringen konnten. Der Rest der Welt hat hierfür sechs Jahre gebraucht. Sechs Jahre, sechs Millionen vertriebene Iraker innerhalb und außerhalb des Irak - und weit über eine Million tote oder sterbende Iraker im Land.

Für den Wissenschaftler, für den Forscher ist dies eine Katastrophe, die niemals ausreichend durch Zahlen oder Worte dokumentiert sein wird. Für uns Forscher sind die Zahlen derart unbegreiflich, daß wir sie immer wieder überprüfen um sicherzugehen, daß sie den Tatsachen entsprechen. Als Irakerin machen sie mich zornig. Die Zahlen und Statistiken erfüllen mich derart mit Wut und Scham, daß mein Herz wie wild schlägt und mein Blut kocht. Es ist eine Wut, die sich gegen alle richtet, die schweigen und unbeteiligt bleiben, und Scham darüber, wie wenig wir alle tun.



Quelle: Iraq: Let the Numbers Speak for Themselves
Originalartikel veröffentlicht am 27.3.2009

Dr. Souad N. Al-Azzawi ist außerordentliche Professorin an der Universität von Bagdad, wo sie vorher einen Lehrstuhl für Umwelttechnik hielt. Sie ist ehemalige Vize-Vorsitzende der Mamoun Universität. Sie veröfffentlichte zahlreiche Arbeiten über den Umgang mit gefährlichen Abfällen und Strahlungsbelastung durch den Einsatz von Waffen mit entreichertem Uran im Irak. 2003 wurde ihr der Nuclear-Free-Future-Award für ihre Forschungsarbeit über Umweltbelastungen nach dem Golfkrieg verliehen. Sie ist Mitglied des Beraterteams des BRussells Tribunals.


Hergen Matussik ist ein Mitglied von Tlaxcala, dem Übersetzernetzwerk für sprachliche Vielfalt. Diese Übersetzung kann frei verwendet werden unter der Bedingung, daß der Text nicht verändert wird und daß sowohl der Autor, der Übersetzer, der Prüfer als auch die Quelle genannt werden.

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. April 2009