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NAHOST/676: Auszug der Gläubigen - Der Huthi-Konflikt im Norden des Jemen (inamo)


inamo Heft 62 - Berichte & Analysen - Sommer 2010
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Auszug der Gläubigen
Der Huthi-Konflikt im Norden des Jemen

von Marieke Brandt


Der Norden der Republik Jemen wird seit sechs Jahren von einem brutalen Konflikt erschüttert, der sich lange den Augen der Weltöffentlichkeit entzog und dessen Zerstörungen - darunter viele tausend Tote und hunderttausende Binnenvertriebene - bis heute weitgehend fern der medialen Berichterstattung stattfinden. Dieser so genannte Huthi-Konflikt ist die Fortsetzung eines politischen Prozesses, der im 9. Jahrhundert mit der Etablierung der schiitisch-zaiditischen Imame im Nordjemen und ihrer tausendjährigen Herrschaft über das Land begann und schließlich, mit der Revolution 1962, zur Marginalisierung der vormaligen zaiditischen Eliten in der sunnitisch-schafitisch geprägten Republik Jemen führte.


Der Huthi-Konflikt ist mehr als eine Revancheaktion alter, entmachteter Eliten. Er erwuchs aus religiösen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Spannungen. Er war oft gleichzeitig tribaler, religiöser und politischer Konflikt und zudem ein Stellvertreterkrieg zwischen den Regionalmächten Iran und Saudi-Arabien. Er lässt sich nicht auf einen dieser Gründe reduzieren. Er ist all das zugleich - und daher so schwer in den Griff zu bekommen.

Nach bislang sechs Kriegsrunden herrscht seit Anfang 2010 ein brüchiger Waffenstillstand zwischen der Regierung und den Rebellen. Ein Wiederaufflammen der Kampfhandlungen ist wahrscheinlich, da der Krieg - statt Probleme zu lösen - zu neuen, noch tieferen Spaltungen und Feindschaften innerhalb der Gesellschaft des Jemen geführt hat.


Das Ancien Régime des Jemen

Die Wurzeln dieses Konflikts reichen tief in die Geschichte des Jemen hinein. Am Ende des 9. Jahrhunderts herrschte in Sa'ada im Nordjemen ein außergewöhnlich schwerer tribaler Konflikt. Alle lokalen Vermittlungsversuche waren fehlgeschlagen, da es landauf, landab niemanden mehr gab, der nicht in irgendeiner Form in diesen Konflikt involviert war. So wurde auf Betreiben einer der Konfliktparteien Yahya bin al-Hussein aus Medina eingeladen, ein sayyid (Pl. sada), ein Nachkomme des Propheten und Anhänger der schiitischen Rechtsschule der Zaidiyya, der erfolgreich zwischen den Stämmen vermitteln konnte.(1)

Neu war, dass Yahya b. al-Hussein nicht nach dem tribalen Gewohnheitsrecht, dem 'urf, zwischen den Stämmen richtete, sondern nach dem islamischen Recht, der Scharia. Er rief sich anschließend in Sa'ada zum Imam aus und nahm den Titel amir al-mu'minin (Prinz der Gläubigen) an, den traditionellen Titel der Kalifen, von dem sich auch 1100 Jahre später noch die Milizen der Huthi-Bewegung - al-shabab al-mu'min - inspirieren ließen. Sein Ehrenname aber war al-hadi ila al-haqq (der Führer zur Wahrheit), und seine berühmte Grabmoschee befindet sich bis heute in Sa'ada.

Seit dieser Zeit wurde der Zaidiyya durch ihre neutrale Haltung eine besondere Befähigung zur Mediation in Konflikten und zur Koexistenz mit Andersdenkenden zugesprochen. Dadurch wurde ihre Verankerung im südwestarabischen Hochland mit seinen starken tribalen Strukturen, den sunnitischen Richtungen im Süden und an der Küste sowie damaligen kleinen christlichen und jüdischen Gruppen zunächst erleichtert.

Die Zaidiyya wird bis heute primär sozial getragen von den Sada (Haschemiten) dieser Glaubensrichtung, von den Nachfahren des Propheten Muhammad über die Ehe seiner Tochter Fatima mit seinem Cousin 'Ali. Die Sada dominierten ein Jahrtausend lang bis zur Revolution 1962 sowohl die religiöse als auch die politische Sphäre des zaiditischen Staatswesens (dawla). Sie stellten die politische Elite und etablierten in den umgebenden Stammesterritorien Enklaven der Sada durch die Institution der geschützten Gelehrtendörfer (hijra). Weil der Einfluss der zaiditischen Herrschaft auf die Stämme Schwankungen unterworfen war, erleichterte das Netz der Hijras mit ihren Bewohnern den zaiditischen Imamen nach Zeiten politischer Schwäche immer wieder erneut administrative Strukturen aufzubauen.

Die Beziehung des zaiditischen Staatszentrums zu den machtvollen Hochlandstämmen - den Bakil, den Haschid und den Hawlan b. 'Amir - beruhte auf Kooperation und Konkurrenz. Die Sheikhs der Hochlandstämme kooperierten und rivalisierten mit den lokalen Machtzentren der zaiditischen dawla. Nicht alle von ihnen wurden Zaiditen. Nicht alle von ihnen duldeten Enklaven der Sada auf ihrem Gebiet. Nicht alle unterhielten Heiratsbeziehungen zu den Sada, um Allianzen mit dem lokalen Machtzentrum zu festigen. Aber die meisten akzeptierten in schweren Blutfehden die weisen Schiedssprüche der Sada, auf der Grundlage des kodifizierten zaiditischen Rechts.


Revolution und Marginalisierung

Das Ancien Régime des Nordjemen ging in der Revolution 1962 und dem anschließenden achtjährigen Bürgerkrieg zwischen imamtreuen Royalisten und Republikanern unter. Der heutige Krieg in Sa'ada ist die Erweiterung eines politischen Prozesses, der mit der Revolution begann und zum Niedergang der sozialen Gruppe der Sada führte. Seit Gründung der sunnitisch dominierten Republik Jemen ist die politische und gesellschaftliche Rolle der einstmals regierenden schiitischen Elite marginalisiert. Die Sada und die Zaidiyya werden heute mit der Rückständigkeit, Weltfremdheit und Abgeschlossenheit des Imamats gleichgesetzt, das ein Jahrtausend lang den Jemen regierte. Die Sada zogen sich in die Gelehrtenenklaven zurück, die über das Land verstreut sind, emigrierten ins Ausland oder versuchten sich mit der Republik zu arrangieren. Gleichwohl ist die Unzufriedenheit der einstigen herrschenden Klasse mit der Sada-feindlichen post-revolutionären Situation im Jemen hoch.(2)

Die Provinz Sa'ada wurde zu einem Randbezirk der Republik mit dem Ruf der Unbotmäßigkeit und Unregierbarkeit. Sie wurde wesentlich später als andere Teile des Jemen von den Auswirkungen der westlichen Marktwirtschaft und von den planmäßigen Entwicklungsvorhaben erfasst, was auch beiden Stämmen des nördlichen Hochlandes für Unzufriedenheit sorgte. Einige Entführungen von Ausländern gehen auf diesen Umstand zurück.

Seit den frühen 80er Jahren kamen religiöse Spannungen hinzu. Wahhabitisch und salafistisch orientierte Koranschulen breiteten sich im Jemen aus. Saudi-Arabien finanzierte diese so genannten al-ma'ahid al-'ilmiyya und deren Lehrer, darunter 'Abd al-Majid al-Zindani und 'Abd al-Wahhab al-Daylami, die zuvor in Saudi-Arabien studiert hatten.(3) Sie verbreiteten im Herzland der Zaidiyya eine anti-zaiditische Lehre, deren egalitäre, anti-hereditäre Doktrin vor allem junge Stammesangehörige anzog, die von der Zaidiyya wegen ihrer "gewöhnlichen" Abstammung von religiösen Lauf bahnen ausgeschlossen worden waren.

Zentrale Merkmale der Salafiya sind ihre apolitische Doktrin: die völlige Loyalität zu jeglicher politischer Führung: Macht muss respektiert werden, sogar wenn sie korrupt ist.


"Clash of Fundamentalisms"

Hingegen erkennen einige Strömungen der Zaidiyya jedoch nicht alle - nur einen Staatsführer aus den Reihen der Sada an, der durch Rebellion (khuruj) im Stande ist, die Macht an sich zu reißen und zu halten (über die Zaidiyya und ihre Imamatstheorie siehe den Beitrag von Damaris Pottek). Der zaiditische Imperativ des khuruj ist wesentlich für die Rebellion in Sa'ada. Zwar bedeutet khuruj im Arabischen lediglich "Auszug" bzw. "Hinaustreten", wie es auch im Deutschen beim "Auszug zum Kampf" anklingt, weist im religiösen Kontext jedoch Konnotationen mit "bewaffneter Rebellion" auf. Diese aktive "Änderung des Verwerflichen" (taghir al-munkar) durch Auszug bzw. Rebellion - darunter die Beseitigung illegitimer Herrscher - sehen konservative Strömungen der Zaidiyya als ihre religiös-politische Pflicht an.

Die Regierung ließ die Salafisten gewähren, da sie eben jenes anti-elitäre, antihereditäre Gedankengut verbreiteten, welche das Regime für seine Selbstlegitimation benötigte, und das die Zaidiyya ihr versagte. Es entstand eine heftige, auch gewaltsame Konkurrenz zwischen den Konfessionen und ihren Anhängern: ein "clash of fundamentalisms" drohte in den Provinzen von Sa'ada auszubrechen.(4)

Seit der Wiedervereinigung 1990 und der Entstehung eines pluralistischen Mehrparteiensystems versuchten die Zaiditen ihrer politischen und religiösen Marginalisierung zunächst durch die Gründung der zaiditisch-inspirierten hizb al-haqq (Partei der Wahrheit) gegenzusteuern, einem Sammelbecken der Interessen der Sada. Der charismatische Hussein al-Huthi al-Ruzami wurde bei der ersten Multiparteienwahl 1993 über die hizb al-haqq Parlamentsmitglied. Um die Zaidiyya mit Salihs politischem System kompatibel zu machen hatte sich eine Gruppe zaiditischer Gelehrter 1990 von der Forderung abgewandt, dass der politische Führer Sayyid sein müsse. Der charismatische Hussein al-Huthi und Abdullah al-Ruzami wurden bei der ersten Multiparteienwahl 1993 über die hizb al-haqq Parlamentsmitglieder. Durch ihr unklares politisches Programm konnte die hizb al-haqq jedoch in den Parlamentswahlen von 1997 keinen Sitz mehr gewinnen.

Hussein al-Huthi war zunächst noch der Meinung, dass khuruj mittels demokratischer Parteien realisiert werden könne, änderte aber bald seine Meinung. Mitte der 90er Jahre gründete er die Gläubige Jugend (ash-shabab al-mu'min) als Flügel der hizb al-haqq. Die shabab al-mu'min setzten sich vor allem aus jungen Arbeitslosen, Sada und politisch Enttäuschten zusammen. Sie stemmten sich gegen die Auflösung der zaiditischen Identität und die Marginalisierung der Rolle der Zaidiyya in der Gesellschaft. Zudem kritisierten sie den prowestlichen Kurs der Regierung Salih und die wirtschaftliche Vernachlässigung ihrer Region. Bis 2004 beschränkte sich die Tätigkeit der shabab al-mu'min weitgehend darauf, zu demonstrieren und öffentlich ihren Slogan (ash-shu'ar) zu skandieren: Allahu akbar! Al-mawt li-amrika! Al-mawt li-isra'il! Al-la'na 'ala al-jahud! An-nasr li-l-islam! ("Gott ist groß! Tod Amerika! Tod Israel! Fluch über die Juden! Sieg dem Islam!"). Dieses Slogan-Rufen (al-hitaf) eine Praxis der 12er-Schia und populär im Iran und Teilen des Libanon, jedoch nicht im Jemen - verärgerte die Regierung besonders. Der Slogan tauchte zudem praktisch überall im Nordjemen als Graffiti an den Mauern und Felswänden auf, von der saudiarabischen Grenze bis hin in die Gassen der Altstadt von Sanaa.


Wachsende Spannungen

Die shabab al-mu'min starteten 2004 ihre gewaltsame Auseinandersetzung mit der Staatsmacht. Sie machten in den anschließenden sechs Kriegen mit der Regierung eine Reihe von Transformationsprozessen durch. So nennt sich die Gruppe um die Klerikerfamilie al-Huthi heute ansar allah (Anhänger Gottes), während sie von republikfreundlichen Hochlandstämmen geringschätzig als hutha bezeichnet wird. Die Regierung nannte sie al-Huthiyyun ("die Huthis"), später schlicht irhabiyyun (Terroristen).

Die Huthi-Rebellen sehen ihren bewaffneten Kampf als Aufstand gegen die religiöse Marginalisierung und soziopolitische Ausgrenzung der Zaiditen, zudem gegen den prowestlichen Kurs der Regierung und die wirtschaftliche Vernachlässigung der Provinz Sa'ada. Die Regierung wirft den Huthi-Rebellen hingegen vor, in Wahrheit am Sturz der Regierung und der Wiedererrichtung des zaiditischen Imamats durch die Sada zu arbeiten. Der Konflikt wurde bald zu einer Gemengelage von religiösen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Brennpunkten. Der Krieg nahm - spätestens seit der dritten Runde - eine tribale Eigendynamik an und vermischte sich mit uralten Stammeskonflikten, Rachefehden und Machtkämpfen, deren Ursachen z.T. bis auf die Zeit vor der Revolution zurückgehen.

Die undifferenzierte Anwendung von Gewalt brachte die Zivilbevölkerung sowohl gegen die Rebellen als auch gegen die Regierung auf. Die Konkurrenz um Ressourcen (Kriegsindustrie, Waffenverkäufe und Schmuggel, Allokation von öffentlichen Mitteln) führte zu einer zusätzlichen Befeuerung des Konflikts.

Beide Parteien beschuldigen sich gegenseitig der Kriegstreiberei und Kriegsgewinnlerei und sehen sich selbst in der Rolle der Selbstverteidigung. Jedoch waren die Huthi-Rebellen, noch bevor der erste Schuss fiel, militärisch gut vorbereitet und von radikalen Überzeugungen getragen. Hamud al-Hitar, heute Minister für Religiöse Stiftungen und Islamische Führung und damals Leiter des "Dialogkomitees mit Extremisten" (lajna al-hiwar), sagte, dass die shabab al-mu'min mehr an Hussein al-Huthi glauben als an den Propheten selbst, und dass Hussein al-Huthi sie einer Gehirnwäsche unterzogen habe, was ihm ein unvorstellbares Ausmaß moralischer Unterstützung für seine Bewegung einbringe.

Der Konflikt zwischen den Huthi-Rebellen und der Regierung erlangte zeitweise eine internationale Dimension. Die Huthi-Rebellen werfen der Regierung die Kooperation mit den USA vor und beklagen den Einfluss von Saudi-Arabien bei der Finanzierung der Regierung und von regierungstreuen Stämmen in Sa'ada. Die Regierung wirft den schiitischen Huthi-Rebellen vor, vom Iran und der libanesischen Hizbullah unterstützt zu werden und neben der Wiedererrichtung des Imamats die Errichtung iranischer Militärbasen und eines "Arabia Felix auf Persisch" (al-yaman as-sa'id bi-l-farisiyya) in Sa'ada zu beabsichtigen. Obgleich eine direkte materielle Verbindung der Huthi-Rebellion mit dem Iran nicht zweifelsfrei belegt werden konnte, glich die Auseinandersetzung zeitweise einem Stellvertreterkrieg zwischen dem Iran und Saudi-Arabien.


Die sechs Sa'ada-Kriege (2004-2010)

Die Konfrontation zwischen der Regierung und den Huthi-Anhängern eskalierte, als im Januar 2003 die Huthi-Anhänger im Beisein des Staatspräsidenten in der Grabmoschee des Imam Yahya b. al-Hussein in Sa'ada ihren martialischen Slogan skandierten und die Regierung einige von ihnen vorübergehend festnehmen ließ. Kurz darauf wurde der Gouverneur von Sa'ada bei seiner Fahrt nach Haydan, der Heimat der Klerikerfamilie al-Huthi, stundenlang von Huthi-Anhängern an einer Straßensperre festgehalten. Der erste Krieg (Juni-September 2004) zwischen beiden Parteien brach aus.(5) Bei Kämpfen in den Marran-Bergen in Haydan, 30 km südwestlich von Sa'ada und Heimat der Familie al-Huthi, wurde Hussein al-Huthi im September 2004 bei einem Bombenangriff in den selbstgegrabenen Höhlensystemen der Rebellen getötet, und die Regierung verkündete unilateral das Ende des Konflikts.

Der zweite Krieg (März - Mai 2005) begann mit Serien von Beschuldigungen und Gegen-Beschuldigungen. Nach dem Tode von Hussein al-Huthi führten sein Vater, Badr ad-Din al-Huthi, und Abdullah al-Ruzami die Rebellion fort. Präsident Salih beschuldigte die Opposition und die hizb al-haqq, die Huthi-Rebellen zu unterstützen. Heftige Kämpfe nördlich und westlich von Sa'ada folgten, wo die Huthi-Rebellen tribale Unterstützung besaßen, und wo das bergige Gelände die Regierungstruppen behinderte. In Mai 2005 verkündete die Regierung den militärischen Sieg über die Rebellen, aber die Feindseligkeiten dauerten an.

Der dritte Krieg (Ende 2005 bis Anfang 2006) begann als eine Konfrontation von regierungstreuen Stämmen und Stämmen, welche die Rebellen unterstützen. Aus den Kämpfen gingen Husseins Brüder 'Abd al-Malik und Yahya al-Huthi als Rebellenführer hervor. Da im September 2006 Präsidentschafts- und Lokalwahlen bevorstanden, stand die Regierung unter Druck, diese Auseinandersetzung schnell zu beenden. Die Regierung schien um den Frieden sehr bemüht. Gefangene Rebellenführer wurden entlassen, darunter die Huthi-Brüder, und ein neuer, moderater Gouverneur von Sa'ada ernannt, Yahya ash-Shami.

Der vierte Krieg begann, als in Sa'ada die jüdische Gemeinschaft al-Salem von den Huthi-Rebellen bedroht wurde, was die Rebellen jedoch dementierten. Neue Kämpfe brachen aus und griffen auf andere Gouvernorate wie 'Amran und den Jawf über. Der Konflikt wurde dadurch angeheizt, dass die Regierung neue Rekruten unter den Stammesangehörigen suchte und die Stämme ermutigte, in den Krieg einzugreifen. Im Mai 2007 besuchte Hamad bin Khalifa al-Thani, der Emir von Qatar, den Jemen, um in dem Konflikt zu vermitteln, und sagte finanzielle Unterstützung für den Wiederaufbau von Sa'ada zu, falls beide Parteien die Feindseligkeiten einstellen. Im Juni 2007 erreichten die Parteien einen Waffenstillstand, und im Februar 2008 wurde ein Waffenstillstandsabkommen in Doha (Qatar) unterzeichnet, obgleich die Kämpfe immer wieder aufflammten.


"Operation verbrannte Erde"

Das Waffenstillstandabkommen war jedoch nicht von Dauer. In der fünften Runde des Konflikts dehnten sich heftige Kämpfe zwischen Huthi-Rebellen und Republikanischen Garden bis in das Stammesterritorium der Bani Husheish am Rand von Sanaa aus. In 'Amran und Sa'ada kämpften Mitglieder der Hashid-Stammeskonföderation Seite an Seite mit der Armee gegen die Rebellen, die von einigen Bakil-Verbänden unterstützt wurden. Am 17. Juni 2008, seinem 30jährigen Präsidentschaftsjubiläum, verkündete Salih abermals unilateral einen Waffenstillstand, der auch aus der Furcht erwuchs, dass die Situation völlig außer Kontrolle geraten und sich die Kritik der USA und EU an der humanitären Situation in Sa'ada verstärken könnte.

Provokationen und Scharmützel zwischen beiden Parteien dauerten jedoch an. Der Krieg hatte eine Eigendynamik entwickelt. Im Juni 2009 wurden in Sa'ada neun Ausländer - darunter eine deutsche Familie - von Unbekannten entführt und drei von ihnen getötet. Ein weiterer Krieg bahnte sich an. Im August 2009 begann die Regierung die sechste und bisher brutalste Runde des Krieges: die "Operation verbrannte Erde" ('amaliya al-ardh al-mahruqa). Kurz darauf unterzeichneten in Sa'ada etwa 100 Sheikhs, Gelehrte, Würdenträger, Mitglieder von Parlament, Konsultativrat (shura) und Gemeinderäten ein öffentliches Manifest, in dem sie die Regierung aufforderten, keine Verhandlungen mit den Huthi-Rebellen mehr aufzunehmen, sondern "dieses bösartige Krebsgeschwür" (hadha as-saratan al-habith) militärisch völlig auszurotten, anstatt nach politischen Lösungen zu suchen, die nur den Rebellen dienten.


Involvierung Saudi-Arabiens

Der Krieg war jedoch bereits in entlegene Gebiete wie Ghamir, Razih und Munebbih an der saudi-arabischen Grenze vorgedrungen. So wohl die Anwesenheit von Militär im Grenzkorridor als auch die Involvierung der Grenzstämme, die wichtige Aufgaben als Grenzwächter wahrnehmen, wurde von Saudi-Arabien mit äußerster Besorgnis registriert. Die Grenze zwischen dem Jemen und Saudi-Arabien war erst im Jahr 2000 nach 75 Jahre währenden Streit durch den Vertrag von Jeddah völkerrechtlich bindend festgelegt worden. Der Vertrag von Jeddah legt einen demilitarisierten Korridor auf beiden Seiten der Grenze fest, in dem jede Militärpräsenz verboten ist, und in den nun die Kämpfe einbrachen. Der Übertritt von Huthi-Rebellen auf demilitarisiertes Grenzgebiet und später am Jabal Dukhan - auch auf saudische Territorien selbst führte im November 2009 zum Eintritt der saudischen Luftwaffe in den Konflikt. Mit der Eröffnung dieses Zweifrontenkrieges war die militärische Niederlage der Huthi-Rebellen vorerst besiegelt. Anfang 2010 beendete ein erneuter, brüchiger Waffenstillstand diesen sechsten Krieg.

Auch die jemenitische Regierung befand sich erneut unter starkem internationalem Druck, diesen Krieg dauerhaft zu beenden. Die US-Regierung hatte auf der Londoner Jemen-Konferenz im Januar 2010 geklagt, der Jemen widme dem Huthi-Konflikt zuviel Aufmerksamkeit, anstatt den jemenitischen Ableger der al-Qa'ida zu bekämpfen. Außenminister al-Qirbi antwortete, dass sich der Huthi-Konflikt nicht von der nationalen Sicherheit trennen lasse und dass der Jemen sämtliche Konflikte - mit Huthi-Rebellen, al-Qa'ida und den Separatisten im Süden - zur gleichen Zeit ausfechten müsse. Die Konferenz von London bewirkte jedoch, dass die jemenitische Regierung die Huthi-Rebellen noch konsequenter als "religiöse Fanatiker" mit Verbindungen zum Iran porträtierte und so den Krieg in Sa'ada in den "Kampf gegen den Terrorismus" einzuordnen versuchte.


Was nun?

Heute ist der Name "al-Huthi" weitgehend aus der Berichterstattung der arabischsprachigen Hauptstadtpresse in Sanaa verschwunden und wieder zu dem geworden, was er ursprünglich war: der Eigenname einer zaiditischen Klerikerfamilie aus Haydan. Militäraktionen in Sa'ada fallen in der nationalen Presse unter die Kategorie des "Counterterrorismus" (muharaba al-irhab) und werden vom Regime in den globalen Anti-Terror-Kampf eingegliedert.

Ein Wiederaufflammen des Konfliktes ist jedoch wahrscheinlich. Durch die Involvierung der Zivilbevölkerung und der Stämme ist oft ununterscheidbar, wo es sich - wie bei dem Kampf in Bani Husheish - um den Huthi-Konflikt und seine Ableger und in welchem Fall es sich um Stammesfehden, Landkonflikte oder Machtkämpfe anderer Akteure handelt. Zudem hat die Auseinandersetzung zur Entstehung einer gewaltigen Kriegsökonomie geführt, von deren Fortdauer viele Seiten profitieren.


Die Tradition des Kompromisses

Das zentrale Anliegen der Huthi-Rebellen, nämlich der Marginalisierung und Auflösung ihrer schiitisch-zaiditischen Identität in der sunnitisch-schafiitisch geprägten politischen Landschaft der Republik Jemen entgegenzuwirken, konnte durch die sechs Jahre Krieg mit der Zentralregierung nicht durchgesetzt werden. Im Gegenteil hat ihre Rebellion zu einer weiteren Entfremdung zwischen den Beteiligten und zur Entstehung eines Klimas der Angst geführt, das sich durch die gesamte Gesellschaft zieht. Die Sada, deren religiöse Reputation und soziales Ansehen geschichtlich aus ihrer Lehre von der "Zwischenstellung" bzw. neutralen Haltung in Konflikten und der besonderen Befähigung zur Mediation und Koexistenz mit Andersdenkenden erwuchsen, müssen eine weitere Beschädigung ihrer Position hinnehmen.

Jedes weitere Aufflammen des Konflikts gefährdet die staatliche Stabilität des Jemen, die auch durch landesweite Hungeraufstände, Sezessionisten im Süden und terroristische Gruppen um al-Qa'ida bedroht ist. Im Gegensatz zur al-Qa'ida geht von den Huthi-Rebellen jedoch keine internationale Bedrohung aus, auch wenn häufig von einem Stellvertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien und Iran die Rede ist. Diese Rebellion ist räumlich begrenzt, trotz der taktischen Beweglichkeit der Rebellen und möglicher internationaler Bündnisse.

Der Sa'ada-Konflikt hat das politische, konfessionelle und soziale Gleichgewicht innerhalb des Jemen erschüttert. Eine Befriedung der Region kann nur durch Wiedereinbeziehung der Zaiditen in das politische System erfolgen. Diese "Kooptation" als Versuch der Einbeziehung verschiedener, an sich widerstreitender Parteien und Interessen in den nationalen Kontext ist eine der größten Fähigkeiten der jemenitischen Politik und hat seit der Revolution zur Etablierung und Aufrechterhaltung eines relativ stabilen politischen Systems geführt. Zwar ist das jemenitische System der Kooptation im Ausland nach den Anschlägen des 11. September 2001 in Verruf geraten, da es mit einem demokratischen und rechtsstaatlichen Verständnis nicht vereinbar und die Grenzen zu Korruption und Patronage fließend sind. Es ließ zudem Zweifel an der politischen Orientierung des Regimes im Anti-Terror-Kampf aufkommen.

Kooptation als Einbeziehung aller Positionen in den nationalen Kontext des Jemen ist jedoch die einzige Möglichkeit zu einer Befriedung der Region. Sowohl die Huthi-Rebellen als auch die Regierung müssen sich auf diese traditionelle Stärke, die Tradition des Kompromisses zwischen politischen, sozialen und religiösen Gruppen rückbesinnen. Dabei sind beide Seiten gefordert: Die Zaiditen müssen sich auf ein gewaltloses Konzept des Auszugs (khuruj) verständigen, und darauf, dass dieser kämpferische Auszug heute mittels politischer Parteien - statt durch bewaffneten Kampf - stattfinden muss: als Einzug und Bereicherung des Multiparteiensystems durch die Zaidiyya. Und die Regierung muss bereit sein, den Zaiditen bei ihrem Wiedereinzug in das politische Leben eine hörbare Stimme innerhalb der Parteienlandschaft zu geben.


Marieke Brandt, FES- und DAAD-Stipendiatin, forscht für die Universität Wien über die Auswirkungen des Huthi-Konflikts auf die tribale Gesellschaft des Nordwest-Jemen.


Anmerkungen

(1) Johann Heiss: War and Mediation for Peace in a Tribal Society (Yemen, 9th century; - in: A. Gingrich, S. Haas et.al.: Kinship, social change and evolution; (= Wiener Beiträge zur Ethnologie und Anthropologie, Bd.5., 1989.

(2) Hierzu ausführlich Gabriele vom Bruck: Islam, Memory, and Morality in Yemen: Ruling Families in Transition, New York, 2005, sowie Markus Wachowski: Sada in San'a: Zur Fremd- und Eigenwahrnehmung der Prophetennachkommen in der Republik Jemen, Berlin, 2004.

(3) Die jemenitische Salafiyya ist jedoch kein Ableger aus Saudi-Arabien, hierzu Laurent Bonnefoy: Salafism in Jemen; A Saudisation?, in: Madawi al-Rasheed (ed), Kingdom Without Borders: Saudi Expansion in the World, London, 2008.

(4) Shelagh Weir, Clash of Fundamentalisms, Middle East Report, No. 204 (1997).

(5) Zu ausführlichen Darstellungen der sechs Sa'ada-Kriege siehe International Crisis Group: Yemen: Defusing the Sa'ada Time Bomb, in: Middle East Report, Nr. 86, 27 May 2009, sowie Barak A. Salmoni, Bryce Loidolt, Madeleine Wells: Regime and Periphery in Northern Yemen: The Huthi Phenomenon, 2010, RAND Publications.


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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 62, Sommer 2010

Gastkommentar
- Ein halbgarer Konsens: Afghanistans Friedensjirga, von Thomas Ruttig

Jemen
Am Anfang war der Stamm, von Elham Manea
Wer ist wirklich Zaidit? Identifikation und Spaltung anhand der politischen und religiösen Geschichte, von Damaris Pottek
Auszug der Gläubigen - Der Huthi-Konflikt im Norden des Jemen, von Marieke Brandt
Stamm und Staat im Jemen: Rolle und Wandel, von Sami Ghalib
Der jemenitische Bürgerkrieg 1994, von Horst Kopp
Jemen versus Südarabien?
Zur Entwicklung der Bewegung des Südens, von Lutz Rogler
Geschlechter und Generationen - eine Debatte, von Elham Manea/Anna Würth
Wasser im Jemen: Konflikte und Kooperationen, von Gerhard Lichtenthaeler
Al-Qaida, Sezessionsbewegung, Huthis: eine "Achse des Bösen"?, von Mareike Transfeld
Spezialeinsätze im Jemen, von Sheila Carapico

Palästina/Israel
Die Preisgabe palästinensischer Rechte als Sprache des "Friedens", von Joseph Massad
Sand im Getriebe des jüdischen "Volkes",
Einige politische Überlegungen zur Sand-Debatte, von Shraga Elam
Israels Alternative zur Zwei-Staaten-Lösung, von Alexander Rüsche

Antisemitismus-Debatte
- War das die Debatte zur "Holocaust-Religion"?, von Shraga Elam

Libanon
- Hizbullah-Israel: Gleichgewicht des Schreckens?, von Manuel Samir Sakmani

Sudan
- Der Sudan nach den Wahlen, von Roman Deckert

Philosophie
- Zum Tod von Muhammad Abid al-Jabiri, von Lutz Rogler

Wirtschaftskommentar
- Desertec - Strom aus der Wüste, von Edgar Göll

Zeitensprung
- 24. April 1915 Deportation der armenischen Intellektuellen aus Istanbul, von Corry Guttstadt

Jemen Literatur
- Wajdi al-Ahdal: Schriftsteller im Fadenkreuz der Justiz
- Auszüge aus: Die Menschwerdung der Würmer, von Wajdi al-Ahdal

Ex mediis

//Ticker//


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Quelle:
INAMO Nr. 62, Jahrgang 16, Sommer 2010, Seite 13 - 17
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
Mittleren Ostens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. August 2010