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NAHOST/710: Die Zeitehe im Iran (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 113, 3/10

Von einer Stunde über einen Tag bis zu 99 Jahren
Die Zeitehe im Iran

Aleksandra Kolodziejczyk


In einem Land, wo vorehelicher Geschlechtsverkehr und Ehebruch mit drakonischen Strafen geahndet werden, stellt die Institution der Zeitehe das "Beste gegen Unzucht und Prostitution"(1) dar. Ist die Ehe auf Zeit eine Stütze des frauenfeindlichen und repressiven Rechtssystems im Iran und gleichzeitig ein Schlupfloch für mehr sexuelle und ökonomische Autonomie? Die österreichisch-iranische Regisseurin Sudabeh Mortezai gibt mit ihrem Dokumentarfilm "Im Bazar der Geschlechter" Einblicke in die Sexualpolitik des Iran und zeigt, dass auch frauenfeindliche und repressive Rechtssysteme von Frauen subversiv genutzt werden können. Die Autorin führte mit der Regisseurin vor Anlaufen des - inzwischen sehr erfolgreichen - Films ein Gespräch.


In wenigen Ländern trifft der Ausspruch das "Private ist politisch" auf eine vergleichsweise effektive und rigorose Umsetzung wie in der Islamischen Republik Iran zu. Die Sittenpolizei wacht mit strengen Strafen über das Privatleben ihrer StaatsbürgerInnen, über das Einhalten der Geschlechtertrennung wie auch der Kleidungsvorschriften. Die Sexualität der Frau wird besonders restriktiv geregelt, wobei das Bild von der ungebildeten, machtlosen Iranerin, wenn jemals wahr, längst nicht mehr der Realität entspricht, wie Sudabeh Mortezai feststellt: "Frauen dürfen fast alle Berufe ausüben, es gibt einen sehr hohen Anteil an Akademikerinnen, sie fahren Auto, sie rauchen, dies hat nichts mit unseren Klischees von unterdrückten Orientalinnen zu tun. In Teheran sitzt in fast jedem Auto eine Frau, die wie verrückt durch die Stadt fährt. All diese Dinge sind nicht verboten, aber das, was kontrolliert werden muss, ist die Sexualität der Frau. Da schaut der Staat ganz genau hin. Sitzt das Kopftuch zu weit hinten, wird die Frau schon verhaftet." Der private Bereich der Sexualität wird im Iran durch das Rechtssystem gelenkt und geregelt. Dabei kommt die Doppelmoral zu Tage, die für die Geschlechterbeziehungen im Iran bezeichnend ist. Ehebruch, vorehelicher Geschlechtsverkehr, Prostitution sind strengstens verboten, können jedoch mit dem Eingehen einer Zeitehe in die Legalität geholt und somit unbestraft praktiziert werden.


Ehe mit Ablaufdatum

Die Ehe auf Zeit kann für die Dauer von einer Stunde bis zu 99 Jahren geschlossen werden. Diese 1400 Jahre alte schiitisch-islamische Eheform unterscheidet sich von einer regulären Ehe durch das verhältnismäßig niedrige Brautgeld, den im Ehevertrag festgelegten Zeitraum des Ehevollzugs und durch weniger Rechte und Pflichten für beide Ehepartner. Geld gegen Sex lautet das Tauschprinzip, das der ehelichen Verbindung zu Grunde liegt. "Bei der Zeitehe geht es ganz explizit um den sexuellen Akt. Die Frau verpflichtet sich zu sexuellen Dienstleistungen und der Mann verpflichtet sich, dieses Brautgeld zu zahlen für eine vorher gemeinsam festgelegte Dauer", erzählt Sudabeh Mortezai, die in ihrem Dokumentarfilm "Im Bazar der Geschlechter" Einblicke in die Institution der Zeitehe gibt. Mit der Kamera begleitet sie ihre HauptprotagonistInnen, die unterschiedlichen sozialen Gruppen angehören: einen jungen schiitischen Geistlichen, einen als Junggeselle lebenden Taxifahrer auf Wohnungssuche und zwei geschiedene allein stehende Mütter. "Die Zuschauerinnen sollen sich selber ein Bild zusammenfügen, aus dem, was sie sehen", betont die Regisseurin in Hinblick auf die Gestaltung des Dokumentarfilms und die divergierenden Standpunkte in Bezug auf die Zeitehe, die die ProtagonistInnen in den Film einbringen. Denn, obwohl einige schiitische Gelehrte die Zeitehe als Beweis für die progressive Seite des Islam ansehen, der imstande sei, den Bedürfnissen und Wünschen der Menschen entgegen zu kommen, finden in ihr männliche Interessen die meiste Berücksichtigung.


Schlupfloch für ein autonomeres Leben?

Männern kommt im iranischen Rechtssystem das Privileg zugute, neben vier regulären Ehefrauen unzählige Zeitehen eingehen zu dürfen. Die einzige Bedingung ist das Aufbringen des vereinbarten Brautgeldes. Frauen hingegen müssen monogam leben, bei Abschluss der Zeitehe keine Jungfrau sein und nach deren Ablauf zwei Monatsblutungen abwarten, bevor sie die nächste eingehen dürfen. Durch die Privilegierung männlicher Interessen ist die Zeitehe neben der Polygamie Teil eines frauenfeindlichen und repressiven Rechtssystems, das von den meisten iranischen Feministinnen scharf kritisiert und abgelehnt wird. Sudabeh Mortezai stimmt dieser Kritik zu, sieht jedoch in der Institution der Zeitehe auch die Möglichkeit für mehr Souveränität innerhalb einer heterosexuellen Beziehung: "Viele Frauen, die eine sehr schwierige Scheidungsgeschichte hinter sich hatten, haben mir erzählt, sie seien eigentlich froh darüber, dass es die Zeitehe gibt, weil sie jetzt einen Freund haben und die Kontrolle nicht wieder komplett abgeben müssen". Das Scheidungsrecht liegt im iranischen Strafrechtssystem nämlich fast zur Gänze bei den Männern. Frauen dürfen sich nur unter Angabe von ganz speziellen Gründen scheiden lassen, wie Drogensucht des Mannes, Impotenz, Geisteskrankheit und dauerhafte Gewalttätigkeit, die bewiesen werden müssen. Darüber hinaus darf der Mann in einer regulären Ehe über die Frau verfügen, indem er ihr beispielsweise die Berufsausübung untersagen kann. Folglich kann eine Zeitehe für die Frau mehr Souveränität und Autonomie über das eigene Leben ermöglichen. Eine freiere Sexualität zu leben, zusammen zu verreisen oder gemeinsam eine Wohnung zu mieten, kann ebenso nur durch das Eingehen einer Zeitehe möglich gemacht werden.

Gleichzeitig dient die Ehe auf Zeit häufig auch dem ökonomischen Überleben sozial benachteiligter Frauen. Geschiedene Frauen, die keine Perspektive auf eine eigenständige finanzielle Existenzsicherung haben, werden dazu gedrängt, eine Zeitehe einzugehen. Die Ehe auf Zeit ist somit ein durchwegs schichtspezifisches Phänomen und betrifft vor allem Frauen aus den unteren sozialen Schichten, wie Sudabeh Mortezai aus ihren Recherchen und Gesprächen weiß: "Frauen, die aus weniger gebildeten Schichten kommen, sehr jung verheiratet wurden und keine Möglichkeit hatten ins Berufsleben einzusteigen, diese Frauen haben überhaupt keine Perspektiven in der Gesellschaft, für sie bleibt oft nur die Möglichkeit, in sehr schlecht bezahlten Pflegeberufen zu arbeiten oder eine Zeitehe einzugehen." Trotz der Offenheit, mit der manche schiitische Gelehrte über die Zeitehe reden, bleibt sie oftmals ein Tabuthema für viele involvierte Frauen, die ihre Zeitehe auch vor den engsten Verwandten geheim halten.

Auch im Iran setzt sich die Liebesheirat langsam durch, die in Europa ein relativ neues soziales Phänomen darstellt. Arrangierte Ehen auf der Basis von Wirtschaftsgemeinschaften waren bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts Normalität in Europa. "Auf subtile Weise finden sich dieselben Elemente noch immer, darum glaube ich, dass es an der Oberfläche so wahnsinnig anders erscheint und in Wirklichkeit nicht so viel anders ist, wie man meint. Es ist nur expliziter und bringt einen manchmal zum Lachen, weil es so wahnsinnig klar ist", erzählt Sudabeh Mortezai in Bezug auf die Ähnlichkeiten zwischen den Rollenbildern und Geschlechterbeziehungen im Iran und in Europa. Der Dokumentarfilm "Im Bazar der Geschlechter" gibt einigen Aufschluss über die Institution und Praxis der Zeitehe, vielleicht ertappt sich die eine oder andere Zuschauerin sogar dabei, sich in einigen Filmszenen wieder zu erkennen.


Anmerkung:
(1) Ein schiitischer iranischer Geistlicher bezeichnet die Zeitehe als das "Beste gegen Unzucht und Prostitution" in Sudabeh Mortezais Dokumentarfilm "Im Bazar der Geschlechter".


Webtipps:
www.imbazar-derfilm.at
(Webseite zum Film)
www.anschlaege.at/2010/april10/zeitehe.htm
(Interview mit Sudabeh Mortezai in der Zeitschrift An.schläge)


Hörtipp:
Im Bazar der Geschlechter - Ehe auf Zeit; Globale Dialoge
- Women on Air vom 6. April 2010 auf Orange 94.0 (Audioarchiv unter http://noso.at)


Zur Autorin: Aleksandra Kolodziejczyk studierte Kultur- und Sozialanthropologie und Internationale Entwicklung. Sie ist Projektleiterin der Sendereihe "Globale Dialoge" bei Orange 94.0 - dem freien Radio in Wien und Mitglied der Redaktionsgruppe Women on Air. Sie lebt in Wien.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 113, 3/2010, S. 24-25
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Sensengasse 3, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
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Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
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andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Oktober 2010