Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

NAHOST/716: Brot und Spiele (Uri Avnery)


Brot und Spiele

Von Uri Avnery, 30. Oktober 2010


ICH WAR überrascht, als ich gegen Ende des Jahres 1975 eine Einladung vom Ministerpräsident Yitzhak Rabin erhielt, ich möge ihn in seiner Residenz aufsuchen. Er öffnete mir selbst die Türe, goss mir ein Glas Whisky ein, auch sich selbst, und forderte mich ohne weiteres auf zu reden: "Sag mir, Uri, hast du dich entschlossen, alle Tauben in der Arbeiterpartei zu zerstören?"

Einige Wochen vorher hatte mein Magazin Haolam Hazeh ("Diese Welt") damit angefangen, Enthüllungen über die korrupten Machenschaften des Kandidaten für das Präsidentenamt der Zentralbank Asher Yadlin zu veröffentlichen. Am Vorabend des Gespräches begannen wir auch, Verdächtigungen zu veröffentlichen, die den Wohnungsminister Avraham Ofer betrafen. Beide waren Führer der Tauben in der Arbeiterpartei.

Ich antwortete Rabin, dass ich leider korrupten Politikern keine Immunität zugestehen könne, auch wenn ihre politischen Ansichten meinen sehr nahe stünden. Dies seien völlig verschiedene Dinge.


DIESE GESCHICHTE erzählte ich in dieser Woche bei einer Konferenz, die in der Tel Aviver Universität gehalten wurde und die einem neuen Buch von Yossi Shain "Die Sprache der Korruption" gewidmet war.

Das Diskussionsgremium war sehr unterschiedlich zusammengesetzt. Es waren zwei frühere Justizminister - Yossi Beilin, der Verantwortliche der "Genfer Initiative", und Daniel Friedman, einer vom rechten Flügel, dessen unbeherrschte Angriffe auf den Obersten Gerichtshof allgemeine Entrüstung verursacht hatten; Yedidia Stern, ein national-religiöser Intellektueller, der Versöhnung mit dem säkularen Lager befürwortet, und der General i.R. Yitzhak Ben-Israel von der Luftwaffe und der Israelischen Raumagentur, ein Mitglied der vorherigen Knesset für die Kadima-Partei. Ich wurde als der Schöpfer von Israels investigativem Journalismus eingeführt, der für die Enthüllungen der ersten großen Korruptionsaffären verantwortlich sei, die die Nation erschütterten.

Prof. Shain griff jene vehement an, die gegen Korruption kämpften, einschließlich der Richter, Polizeioffiziere, Ankläger u.ä. Er behauptete, sie gefährdeten die israelische Demokratie und unterminierten die nationale Stärke. Diese beiden Wörter - "nationale Stärke" - sind typisch für die Rechte.

Und tatsächlich weiß jeder, dass Korruptionsaffären momentan die Mitte der Gesellschaft beschäftige. Ein früherer Staatspräsident wartet auf sein Urteil in einem Vergewaltigungsprozess. Ein früherer Ministerpräsident wird verdächtigt, fette Bestechungsgelder angenommen zu haben. Ein früherer Finanzminister ist im Gefängnis. Ein früherer ranghoher Minister ist wegen ungehörigen Benehmens für schuldig befunden worden, als er seine Zunge einer Armeeoffizierin in den Mund zwang (an dem Tag, als sich die Regierung entschloss, den 2. Libanonkrieg zu beginnen). Der Außenminister steht unter juristischer Ermittlung. Eine lange Liste verschiedener Politiker, ranghoher ziviler Angestellter und Armeeoffiziere befinden sich in verschiedenen Stadien von Unteruntersuchungen und strafrechtlicher Verfolgung.

Shains Buch befasst sich nicht direkt mit den Affären, sondern mit dem Raum, den sie in der Öffentlichkeit einnehmen.

Seine Argumente verdienen, näher betrachtet zu werden.


IN DEN Schlagzeilen der Medien nehmen Korruptionsskandale oft den Raum ein, der den Angelegenheiten gewidmet werden sollte, die für unsere Zukunft entscheidend sind.

Man nehme z.B. zwei aktuelle Fälle.

Fall eins: Ein Knessetkomitee hat gerade ein Gesetz angenommen, das einem Aufnahmekomitee von Gemeinden mit weniger als 500 Familien ermöglicht, die zurückzuweisen, die ihnen nicht gefallen.

Das Gesetz, das in wenigen Tagen in Kraft treten wird, ist dafür gedacht, das Urteil des Obersten Gerichtshofes zu umgehen, der die Verweigerung verbietet, Araber aufzunehmen. Der Wortlaut des Gesetzes ist ein Meisterstück verbaler Akrobatik, um das Wort "Araber" zu vermeiden. Aber die Bedeutung ist jedem klar.

Eine Untersuchung durch die "Adala"("Gerechtigkeit")-Organisation hat gezeigt, dass die 695 landwirtschaftlichen und städtischen Gemeinden, für die das Gesetz gedacht ist, den größeren Teil des Landes besetzen, der der Regierung gehört (und die zum großen Teil nach der Gründung des Staates den arabischen Besitzern genommen wurden). Fast aller Grundbesitz Israels gehört der Regierung.

Dies ist ein klarer Fall von rassistischer Trennung, wie sie in dieser Art in den USA gegenüber Juden und Schwarzen existierte. Dort verschwand sie vor 50 Jahren. Es betrifft das eigentliche Wesen des Staates Israels. Es lässt den Status von Israels arabischen Bürgern - 20 % der Bevölkerung - zu einer Zeitbombe werden.

(Vor kurzem hat der Oberrabbiner von Safed, ein Regierungsangestellter, erklärt, dass das Verkaufen oder Vermieten von Wohnungen an Araber eine Sünde sei. Vor 1948 war Safed eine gemischte Stadt mit einer arabischen Mehrheit. Mahmoud Abbas wurde dort geboren. Vorgestern erklärte Rabbiner Ovadia Josef, der unbestrittene Führer der orientalisch-jüdischen Gemeinde, dass das Verkaufen von Land an "Ausländer" nach der jüdischen Religion verboten sei - gemeint sind die Araber, die seit mehr als tausend Jahren hier leben, bevor der ehrwürdige Rabbiner selbst aus dem Irak in dieses Land gebracht wurde).

Fall zwei: ein ranghoher Armeeoffizier hat ein Dokument verteilt, das ein angebliches Komplott seitens des kommenden Stabschefs, (Yoav Galant) gegen den gegenwärtigen Stabschef (Gabi Ashkenazi) beschreibt. Der Zweck war, Galant zu diffamieren. Das Dokument ist eine Fälschung, und viele Anzeichen weisen darauf hin, dass es ursprünglich aus der unmittelbaren Umgebung von Ashkenazi stammt. Anscheinend ist der Fälscher ein persönlicher Freund von Ashkenazi und seiner Frau. Der Comptroller untersucht nun die Sache.

Eine schlüpfrige Angelegenheit, egal welchen Maßstab man anlegt. Eine Intrige in den höchsten Rängen der Armee.

Wie werden diese beiden Fälle von den Medien behandelt? Der erste wurde ein paar Mal erwähnt. Der zweite steht jetzt seit Monaten in den Schlagzeilen - ohne dass ein Ende davon in Sicht wäre.


ZWEIFELLOS helfen die großen Korruptionsskandale den Medien - und der Öffentlichkeit im Großen und Ganzen - alle zentralen Probleme unserer Existenz beiseite zu schieben: die Besatzung, die Eliminierung der Friedenschancen, die Erweiterung der Siedlungen, die fortgesetzte Blockade des Gazastreifens, die rassistischen Gesetze gegen die arabische Minderheit im eigentlichen Israel, all die Gefahren, die mit dem seit 130 Jahren andauernden Konflikt zwischen uns und den Palästinensern verbunden sind.

Die Öffentlichkeit will davon nichts hören. Sie wünscht, dass diese Dinge aus ihrem Gesichtskreis verschwinden, damit sie sich ungestört am Leben erfreuen können. Dies ist eine nationale Übung der Wirklichkeitsflucht.

Es ist viel angenehmer, sich mit einem gefälschten Dokument im Safe des Stabschefs Ashkenazi zu befassen, als mit den Kriegsverbrechen, die im Laufe der Operation "Cast Lead" (2008/09) begangen wurden, deren Kommandant Ashkenazi war.

Es ist viel erfreulicher, den privaten Angelegenheiten öffentlicher Persönlichkeiten nachzugehen, die in flagranti ertappt wurden: der Philippinin, die illegal von Ehud Barak beschäftigt wurde, dem Flugticketbetrug von Ehud Olmert, der "langen Zunge" von Haim Ramon, den fetten Bestechungen, die man Gemeindevertretern in Jerusalem zusteckte, um die Genehmigung zu erhalten, architektonische Monstrositäten auf einem Hügel zu bauen, der das Zentrum der Stadt überblickt.

Die Herrscher Roms gaben den Massen "Brot und Spiele" und hielten ihren Geist von den Staatsangelegenheiten fern. Unsere Korruptionsaffären, die schnell eine der anderen folgen, sind ein Ersatz für Zirkusspiele.


NOCH WÄHREND ich als Hauptredakteur von Haolam Hazeh wirkte und wir den Kampf gegen die Regierungskorruption führten, waren mir die Gefahren bewusst, die in solch einer Kampagne liegen.

Mehr als einmal war ich von dem Gedanken beunruhigt, dass wenn wir das abstoßende Tun der korrupten Politiker enthüllten, wir die Öffentlichkeit ermutigen könnten, alle Politiker, ja, die Politik als solche zu verachten. Helfen wir da nicht, ein öffentliches Klima des "sie-sind-alle-korrupt" zu schaffen und einen Abgrund zwischen der Öffentlichkeit und dem politischen System zu öffnen?

Wenn Politik stinkt, werden sich gute Leute nicht mehr für eine politische Karriere entscheiden. Die Politik wird Leuten mit niedriger Intelligenz, ohne Talent und ethische Standards überlassen, ja sogar kriminellen Elementen. Die Ergebnisse sind schon in der gegenwärtigen Knesset offensichtlich.

Die Abscheu gegenüber der Politik und den Politikern kann den Weg zum Faschismus vorbereiten. Die faschistischen Bewegungen in aller Welt nützen die Verabscheuung der Politiker aus, um den Wunsch nach einem "starken Mann" zu wecken, der die Gauner hinausjagt.


ALL DIES mag zu der Schlussfolgerung führen, dass wir den Kampf gegen die Korruption reduzieren und uns mindestens zurückhalten sollten, darüber zu reden.

Aber dies ist eine gefährliche Idee.

Eine Gesellschaft, die korrupten Führern Immunität gewährt, gräbt ihr eigenes Grab. Auf diese Weise ist die römische Republik verdorben und hat sich von innen her selbst zerstört. Dies geschah seitdem in vielen Staaten, auch in unserer Zeit. Nicht die Rede über die Korruption zerstört die Demokratie, sondern die Korruption selbst. Korruption kann nicht lange unter den Teppich gekehrt werden. Selbst wenn die Medien aufhören, drum herum zu tanzen, Gerüchte verbreitet werden und das Vertrauen in die Regierung sogar noch mehr unterminieren.

Wenn Minister öffentliche Positionen mit politischen Protégés oder Verwandten besetzen, kommt die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten und der Finanzen in inkompetente und/oder unredliche Hände. Die Besten und Intelligentesten werden von "politischen Ernennungen" beiseite gestoßen. Wenn Politiker gekauft werden - ganz einfach von Geschäftsmagnaten, sind sie gezwungen, diesen zu dienen, statt dem öffentlichen Interesse. Die Qualität der Führung schwindet und Inkompetente entscheiden über unser Schicksal, über Tod und Leben, über Krieg und Frieden.

Dies ist kein speziell israelisches Problem. Korruption beherrscht viele Länder. Einige glauben, die USA seien korrupter als Israel. Gerade jetzt habe der Oberste Gerichtshof dort die Tore zur Korruption sogar noch weiter geöffnet, was großen Gesellschaften fast offen erlaubt, Politiker zu kaufen. Aber anders als bei uns stoßen Amerikaner Politiker hinaus, die ertappt werden. (Man erinnere sich an die unsterblichen Worte des Vizepräsidenten Spiro Agnew: "Die Schufte haben die Regeln verändert und haben es mir nicht gesagt".)


DER KAMPF gegen die Besatzung und der Kampf gegen die Korruption widersprechen sich nicht. Im Gegenteil - sie ergänzen einander.

Die Besatzung zerstört unsere ethischen Standards. Eine Gesellschaft, die ihren Widerwillen gegen die tägliche Grausamkeit in den besetzten Gebieten verliert, verliert auch ihren Widerstand gegen Korruption.

Die Besatzung ist eine lebensbedrohende Krankheit, Korruption ist wie Übelkeit. Aber wenn es dem Patienten übel ist, wird die Medizin wieder hoch kommen.


Copyright 2010 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)


*


Quelle:
Uri Avnery, 30. Oktober 2010
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2010