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NAHOST/823: Ägypten - Säkulare Parteien setzen bei Wahlen auf Allianzen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 24. Mai 2011

Ägypten: Weltlicher Staat das Ziel - Säkulare Parteien setzen bei Wahlen auf Allianzen

Von Cam McGrath


Kairo, 24. Mai (IPS) - In Ägypten wollen einflussreiche Mitglieder der Pro-Demokratie-Bewegung bis zu den Parlamentswahlen im September eine starke politische Front aufbauen, die sich gegen die besser organisierten Islamisten durchsetzen soll.

"Die Zeit wird knapp", meint Gameela Ismail, Mitbegründerin der Madaneya-Bewegung für einen zivilen ägyptischen Staat. "Wir wollen all jene zusammenbringen, die mit ihren Straßenprotesten das alte Regime von der Macht vertrieben haben. Willkommen sind allerdings nur solche revolutionären Kräfte, die die Trennung von Kirche und Staat befürworten."

Der Sturz von Ex-Präsident Hosni Mubarak am 11. Februar hat Ägyptens politische Landschaft völlig verändert. Die rund 82 Millionen Ägypter dürfen erstmals wieder frei ihre Meinung äußern, an politischen Prozessen teilnehmen und Parteien gründen. Sie stehen nun vor der schwierigen Aufgabe, nach einer Jahrzehnte langen Ein-Parteien-Herrschaft ein demokratisches System auf die Beine zu stellen.

Mittlerweile haben sich Dutzende Parteien gegründet, die sich derzeit beim regierenden Militärrat registrieren lassen. Doch die säkularen Kräfte fürchten, dass ihnen nicht genug Zeit bleibt, um sich auf den bevorstehenden Urnengang angemessen vorzubreiten und sich zu einem schlagkräftigen Bündnis zusammenzufinden. Das wäre wichtig, denn dem neuen Parlament kommt die Aufgabe zu, für eine neue Verfassung und Gesetze zu sorgen, die Ägyptens Zukunft über Jahre bestimmen werden.


Starke Konkurrenz

Nach Ansicht von Yehia El-Gammal, Vize-Ministerpräsident der ägyptischen Interimsregierung, dürfen sich die weltlichen Kräfte im Land auf starke politische Herausforderer gefasst machen. Die islamischen Gruppen und insbesondere die Muslim-Bruderschaft seien bestens organisiert. "Auch wenn sie nicht von der Mehrheit gestützt werden, dürften sie bei Wahlen einen großen Teil der Stimmen erringen."

Die unter Mubarak verbotene wenngleich tolerierte Muslim-Bruderschaft profitiert vor allem von dem kurzen zeitlichen Abstand bis zu den Wahlen und von der Gerichtsentscheidung, die ehemalige Regierungspartei zu verbieten. Sie wäre die die einzige bedeutende Konkurrentin gewesen.

Die konservative islamische Bewegung besitzt vor allem in der armen Bevölkerung eine breite Unterstützung. Zudem verfügt sie über organisatorische Erfahrung und die nötigen Finanzmittel, um für sich eine große Scheibe des Stimmenkuchens abzuschneiden.

Bei den Parlamentswahlen 2005 hatte die Muslim-Bruderschaft mit ihren als Unabhängige aufgestellten Kandidaten 20 Prozent der Stimmen erzielt, die sie dann bei den Wahlen 2010 aufgrund von Wahlbetrug verloren. Beobachter gehen davon aus, dass sie mit ihrer Neugründung Partei für Frieden und Gerechtigkeit mindestens ein Drittel aller Wähler auf ihre Seite ziehen werden.

Die Aussicht, dass die Islamisten die Kontrolle über das Parlament gewinnen könnten, lässt bei den Liberalen die Alarmglocken schrillen. Sie weisen darauf hin, dass die Muslimbrüder die Errichtung eines islamischen Staates anstreben. "Es gibt nichts Schlimmeres als einen Polizeistaat. Die einzige Ausnahme ist ein religiöser Staat", sagte El-Gammal.

Ein Referendum im März bot der Muslim-Bruderschaft eine gute Gelegenheit, ihre Stärke unter Beweis zu stellen. Sie trieb die Massen erfolgreich dazu an, sich hinter die Verfassungsänderungen zu stellen, möglichst bald neue Wahlen abzuhalten. Die 77-prozentige Zustimmung war ein Rückschlag für die Säkularisten. Sie hätten sich mehr Zeit für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung gewünscht. Auch wird es schwierig, auf die Schnelle politische Parteien aufzubauen, die es mit den erfahrenen etablierten Parteien aufnehmen könnten.

Das Ergebnis der Volksbefragung überzeugte viele Liberale von der Notwendigkeit, die fragmentierten weltlichen Parteien mit einer effektiven Kampagne zu einer einzigen politischen Front mit einer einzigen Kandidatenliste zusammenzuschweißen.


Newcomer paktieren

Als sich in diesem Monat die Vertreter von vier neuen Parteien in der Hauptstadt Kairo zu Gesprächen einfanden, nutzten sie die Gelegenheit, um sich auf die Bildung einer Zweckgemeinschaft zu verständigen. Trotz aller Unterschiede gebe es das gemeinsame Ziel, den Zivilstaat zu verteidigen, sagten die Führer der Sozialdemokratischen Partei Ägyptens, der Freien Ägyptischen Partei, der Gerechtigkeitspartei und der Demokratischen Front.

"Wir haben uns zu einer breiten Koalition aus Liberalen, Linken und Gemäßigten zusammengefunden", sagte Emad Gad, ein Gründungsmitglied der Ägyptischen Sozialdemokratischen Partei. "Wir sind nicht gegen Religion, aber wir sind dagegen, sie mit Politik zu mischen."

Die neue Allianz ist eine von vielen, die sich derzeit bilden. Am 10. Mai kündigten fünf linksgerichtete Parteien an, sich zu einem lockeren Bündnis zusammenzutun. Ihm gehört auch die Ägyptische Kommunistische Partei an, die seit den 1920er Jahren im Untergrund agierte.

Presseberichten zufolge denken auch die größten weltlichen Parteien, die liberale Wafd-Partei, die von dem Dissidenten Ayman Nour geführte Al Ghad-Partei und die Nasseristen-Partei, die sich mit der Ideologie des ehemaligen Präsidenten Gamal Abedel Nasser identifziert, über strategische Zusammenschlüsse nach.

Die drei Parteien gehörten zu den etwa Dutzend politischen Kräften im Land, die Mubarak toleriert hatte, um seiner Regierung einen demokratischen Anstrich zu geben. Die Zahl ihrer Sitze im Parlament hing weniger von den Wählern als von der Laune des Regimes ab. Die meisten Mitglieder der revolutionären Jugendbewegung lehnen die Parteien ab.

Emad Gad zufolge hofiert die Wafd-Partei die Muslimbrüder, um sie ins Boot zu holen. "Wir können der Wafd-Partei vielleicht die Kollaboration mit dem Regime verzeihen, nicht aber dass sie sich hergibt, mit den religiösen Parteien zu paktieren."

"Wenn sich jeweils Islamisten und Säkularisten zu eigenen Bündnissen zusammenrotten, haben wir es am Ende mit einem Zwei-Parteien-System zu tun", meinte Mohamed Fahmy, ein Student der Rechtswissenschaften. "Das wäre kein wirklich großer Fortschritt gegenüber dem Ein-Parteien-System, wie wir es unter Mubarak kannten."


"Das ist keine kurze Schlacht"

"Doch angesichts der geringen Zeit, die uns bis zu den Wahlen verbleibt, sind die Allianzen der säkularen Parteien ein absolutes Muss", betont Gameela Ismail. Die liberale Politikerin und Aktivistin hält eine Verschiebung der Wahlen für keinen wirklichen Vorteil. "Selbst wenn wir weitere sechs Monate zur Verfügung hätten, könnten wir die Muslim-Bruderschaft nicht aufhalten", sagt sie gegenüber IPS. "Sie kommen vorwärts, wir kommen vorwärts. Doch der Abstand wird bleiben."

Die Revolution gehe weit über die Septemberwahlen hinaus, versichert Ismail. Die weltlichen Parteien sollten die verbleibenden Monate nutzen, um in den verschiedenen Wahlkreisen Netzwerke zu bilden. "Selbst wenn wir eine Wahlniederlage erleiden, wird es andere Gelegenheiten geben, bei denen wir siegen. Das ist hier keine kurze Schlacht, sondern eine, die Jahren dauern kann." (Ende/IPS/kb/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Mai 2011