Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

NAHOST/848: Ägypten - Gespaltene Opposition, Muslimbruderschaft verliert scharenweise Mitglieder (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 29. Juli 2011

Ägypten: Gespaltene Opposition - Muslimbruderschaft verliert scharenweise Mitglieder

Von Adam Morrow und Khaled Moussa al-Omrani


Kairo, 29. Juli (IPS) - Seit 40 Jahren ist die Muslimbruderschaft eine der mächtigsten Oppositionsbewegungen Ägyptens. Nach dem Sturz des Mubarak-Regimes im Februar zeigt sich die Vereinigung jedoch zunehmend gespalten. Vor allem jüngere Mitglieder werden ausgeschlossen, weil sie sich für neu gegründete politische Parteien engagieren.

"Seit der Revolution sind innerhalb der Bruderschaft tiefe Risse sichtbar geworden", sagte Hossam Tammam, ein Experte für islamische Bewegungen, im Gespräch mit IPS. Wenn die Gruppe nichts dagegen unternehme, wäre ihre weitere politische Zukunft gefährdet.

Am 12. Juli hatte Mohamed Habib, ein ehemaliger Vizechef der Bruderschaft, die Vereinigung verlassen, um sich der bisher noch nicht zugelassenen islamistischen 'Al-Nahda'-Partei anzuschließen. Wenig später drohten führende Mitglieder der Muslimbruderschaft damit, dass alle Mitglieder, die sich anderen politischen Gruppen als der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP) anschlössen, aus der Bruderschaft ausgeschlossen würden. Die im Juni zugelassene FJP gilt als politischer Arm der Muslimbruderschaft, auch wenn sie von sich behauptet, finanziell und verwaltungstechnisch unabhängig zu sein.


Junge Leute fühlen sich in den neuen Parteien besser aufgehoben

Die Bruderschaft hat unterdessen weitere wichtige Mitglieder verloren. Anfang Juli wurden Führungskräfte ihres jungen Flügels ausgeschlossen, die während des Aufstandes gegen den früheren Staatschef Husni Mubarak eine prominente Rolle gespielt hatten. Ihr Vergehen bestand darin, der sich gerade formierenden Partei 'Al-Tiyyar Al-Masri' (Ägyptische Strömung) beigetreten zu sein.

Al-Tiyyar Al-Masri werden gute Chancen eingeräumt, als an der Jugend orientierte Partei politischen Einfluss zu gewinnen. Beobachter erwarten, dass sich ihr auch Mitglieder weltlicher Protestgruppen wie der Bewegungen des 6. April und 'Kefaya' anschließen werden.

Die wachsenden Unstimmigkeiten innerhalb der Muslimbruderschaft dürften damit zusammenhängen, dass sich jüngere Mitglieder an den andauernden Volksprotesten auf dem Tahrir-Platz in Kairo beteiligen. Seit dem 8. Juli kommt es dort zu Massendemonstrationen gegen den seit dem Sturz von Hosni Mubarak regierenden Militärrat. Den Generälen wird vorgeworfen, grundlegende Forderungen der Revolution bisher nicht umgesetzt zu haben.

Trotz eines Verbots durch die Bruderschaft haben sich viele junge Mitglieder den neuen Protesten angeschlossen. "Wir machen mit, um die legitimen Forderungen des Volkes zu unterstützen", erklärte Islam Lutfi, einer der Gründer der Al-Tiyyar Al-Masri-Partei, der Anfang des Monats zwangsweise die Muslimbruderschaft verlassen musste.

Jüngere Aktivisten beklagten sich auch darüber, dass sie in der Bruderschaft kaum etwas zu sagen hatten, obwohl sie maßgeblich zum Sturz des Mubarak-Regimes beigetragen hätten. "Die Jungen haben das Image der Muslimbruderschaft auf der Straße gestärkt", sagte Hossam Tammam. "Die Führungsebene der Gruppe hat ihnen jedoch keine Stimme gegeben." Lutfi erklärte, dass er sich dem "Diktat" der Bewegung keinesfalls beugen werde.

Auch Kamal al-Hilbawi, der frühere Sprecher der Bruderschaft in Großbritannien, kritisierte das Demonstrationsverbot. Eine solche Strategie "schreckt andere politische Kräfte in Ägypten ab, die eine sofortige Umsetzung der Forderungen der Bevölkerung verlangen." Vor der Revolution habe man in der Öffentlichkeit nie eine derartige Kritik an der Muslimbruderschaft gehört, meinte Tammam.

Die ersten ernsthaften Spaltungstendenzen zeigten sich im Juni, als das ehemalige Führungsmitglied Abdel Moneim Aboul-Fotouh ausgeschlossen wurde. Zuvor hatte er angekündigt, bei den kommenden Wahlen für das Präsidentenamt kandidieren zu wollen. Die Bruderschaft hatte zuvor erklärt, keine Kandidaten ins Rennen schicken zu wollen. Mehrere Mitglieder der Bewegung, die Aboul Fotouhs Pläne unterstützt hatten, wurden ebenfalls vor die Tür gesetzt.


Zahl der Austritte und Ausschlüsse ungewiss

Während Sprecher der Muslimbruderschaft von wenigen Austritten sprechen, ist in den Medien von mehr als 1.000 die Rede. Tammam zufolge lässt sich aber selbst die Zahl der Mitglieder nicht genau festlegen.

Außer Al Nahda und Al Tiyyar Al-Masri werben zwei weitere neue islamistische Parteien - 'Al-Riyada' und die Entwicklungspartei PDP - um Anhänger der Bruderschaft. Bis auf Al-Riyada teilten alle Parteien die gleichen ideologischen Grundsätze, sagte Tammam. Die Unterschiede zur Muslimbruderschaft zeigten sich vor allem auf der administrativen Ebene.

"Die Bruderschaft wird nicht überleben, wenn sie ihre Verwaltungspraktiken nicht reformiert", erklärte der Gründer von Al-Riyada, Khaled Dawoud, der früher ebenfalls Anhänger der Bewegung gewesen war. "Die ägyptische Revolution, deren Teilnehmer gegen die Diktatur protestierten, ist noch nicht in der Führungsebene der Gruppe angekommen." PDF-Gründer Hamid al-Dafrawi sieht die Bruderschaft als "Geheimorganisation", die viele Anhänger verprellt habe. Bei den Wahlen 2005 hatte die Muslimbruderschaft dagegen noch ein Fünftel der Sitze im Parlament errungen und wurde zeitweise der größte Oppositionsblock des Landes. (Ende/IPS/ck/2011)


Link:
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=56659

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH


*


Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 29. Juli 2011
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juli 2011