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NAHOST/879: Die Proteste in Syrien - Verschiebung regionaler Machtbalance (Sozialismus)


Sozialismus Heft 10/2011

Verschiebung regionaler Machtbalance
Die Proteste in Syrien

Von Marcus Eckelt


Die massiven Proteste in zahlreichen Städten Syriens seit dem März 2011 stellen erstmals seit 1982 offen die Herrschaft der syrischen Staatsklasse(1) in Frage. Trotz der medientechnischen Revolution ist die Lage vom Ausland aus - vergleichbar mit dem Aufstand von Hama im Februar 1982 - schwer einzuschätzen. Damals erreichte eine mehrjährige islamistische Terrorkampagne gegen das »Alawiten-Regime« ihren Höhepunkt in dem Versuch, die Herrschaft der Ba'th-Partei in einer offenen militärischen Konfrontation zu stürzen - und scheiterte damit. Die Schätzungen über die Zahl der damals Getöteten schwanken zwischen mehreren Tausend und Zehntausenden (vgl. Perthes 1995, 137).

Die außenpolitischen Rahmenbedingungen dieser zwei größten innenpolitischen Herausforderungen des Ba'th-Regimes seit der Machtübernahme Hafiz al-Assads im Jahr 1970 unterscheiden sich dabei grundlegend. Die Umwälzungen in Tunesien und Ägypten sowie die Unruhe in beinahe allen anderen arabischen Ländern bilden eine Projektionsfolie, die die Opposition (zumindest in den deutschen Medien) quasi automatisch als demokratisch legitimiert erscheinen lässt. 1982 war eine Intervention ausländischer Mächte im Kontext des Kalten Krieges ausgeschlossen. Heute beweisen die Beispiele Irak, Libyen und Libanon in geografischer und zeitlicher Nähe, dass die NATO bzw. eine Koalition der Willigen bereit sind, gewaltsam einen Regime-Change durchzusetzen. Die entsprechenden Vorstöße im UN-Sicherheitsrat zeigen, dass diese Option bisher hauptsächlich am Widerstand der BRIC-Staaten scheiterte. Diese befürchten die Wiederholung der Eskalationslogik, die in Libyen nach der Verhängung einer Flugverbotszone einsetzte, und blockieren bis jetzt entsprechende UN-Resolutionen bezüglich Syriens.

Eine Bewertung der gegenwärtigen Lage leidet unter dem »Kampf um die Öffentlichkeit« (Imhof 2011a). Die Berichterstattung der meisten westlichen und arabischen Medien beruht im Wesentlichen auf nicht überprüfbaren Quellen - häufig Videos und Botschaften, die im Internet verbreitet werden - von so genannten Aktivisten bzw. im Ausland lebenden Oppositionellen. Folgt man dieser Darstellung, dann organisiert sich derzeit in Syrien eine spontane Massenbewegung, die friedlich für Demokratie und Menschenrechte auf die Straße geht und von einem wahnsinnigen Diktator massakriert wird, während der Westen hilflos zusieht und damit den arabischen Frühling verrät. Die offizielle syrische Medienberichterstattung (www.sana.sy) berichtet dagegen - ebenso wenig überprüfbar - von einer Welle der Gewalt durch vom Ausland gesteuerte Terroristen, die die legitimen Proteste instrumentalisieren. Die reformwillige Regierung arbeite mit Hochdruck an Reformen und trete mit der legitimen Opposition in Verhandlungen. Allein die ständige Ermordung von Sicherheitskräften und die erzwungenen Gegenmaßnahmen, so die offizielle Lesart, verhinderten, dass die Verbesserungen der Rechtslage (Aufhebung des Ausnahmezustands, neues Parteiengesetz, Staatsbürgerschaft für alle kurdischen Bürger etc.) bereits wirksam werden. Ein Abwägen der beiden Varianten erscheint müßig - ebenso wie die floskelhafte Feststellung, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte liege.

Unter Berücksichtigung der konkreten Kräfteverhältnisse spricht viel dafür, dass das syrische Ba'th-Regime fortbestehen wird.

Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen können die Auswirkungen der bisherigen Entwicklung der Auseinandersetzung auf die außenpolitische Situation Syriens und damit auf das regionale Kräfteverhältnis untersucht werden. Es spricht viel dafür, dass das syrische Ba'th-Regime fortbestehen wird. Es könnte nur durch eine militärische Intervention von außen gestürzt werden, die derzeit eher unwahrscheinlich erscheint.(2) In diesem Fall wird das Land eine Phase regionaler und internationaler außenpolitischer Isolation durchlaufen. André Bank nennt dieses Szenario den »iranischen Weg« (Bank 2011). Darunter wird die Wirtschaftsentwicklung leiden und der Druck auf die arbeitenden Klassen wird weiter steigen. Regional verschiebt sich die Machtbalance weiter zugunsten Saudi-Arabiens bzw. der Golfstaaten. Das Kräfteverhältnis innerhalb des Arab Triangle - Ägypten, Saudi-Arabien und Syrien - bestimmt, wer die Arabische Welt dominiert. Durch die so genannte ägyptische Revolution bleibt das Land außenpolitisch gelähmt. Die unsichere Lage in Ägypten wird vermutlich weiterhin für innenpolitische Konflikte sorgen, die dessen Politik dominieren. Wenn Syrien außenpolitisch isoliert bleibt, gibt es faktisch kein Gegengewicht gegenüber der saudischen Politik. Trotzdem bleibt die Lage extrem labil und kann schnell in ein anderes Extrem kippen. Diese Einschätzung wird aus der historischen Entwicklung des syrischen Ba'th-Regimes innerhalb des regionalen Systems verständlich.


Historische Entwicklung des Ba'th-Regimes

Der moderne Staat Syrien war seit seiner Unabhängigkeit 1947 ein Spielball der regionalen und internationalen Mächte. Der »struggle for Syria« (Seale 1965) war deshalb so intensiv, weil die Kontrolle Syriens als Schlüssel zur Vorherrschaft über die Region des Mashriq(3) galt. Die bedeutende geostrategische Lage, die fehlende nationale Geschichte, die postkolonialen Abhängigkeiten sowie die ethnisch/religiöse Zersplitterung der Bevölkerung begünstigten Bündnisse zwischen einheimischen Gruppierungen und auswärtigen Mächten. Diese instabile politische Konstellation führte zu einer Reihe von Militärcoups. 1963 putschte sich die arabisch-sozialistische Ba'th-Partei an die Macht. Nach heftigen Flügelkämpfen setzte sich 1970 der außenpolitisch moderate Flügel (in Bezug auf das Verhältnis zu Israel) unter Hafiz al-Assad durch und beendete die mehr als 20-jährige Instabilität.

Die bis heute bemerkenswerte Stabilität des Ba'th-Regimes basierte auf einer Kombination von Konsens und Zwang. Massenorganisationen (Parteien, Gewerkschaften, Bauernorganisation etc.) banden große Teile der Bevölkerung ein. Gleichzeitig fungierten die Armee und verschiedene konkurrierende Geheimdienste als erdrückende Repressionsinstrumente. Aufgrund der kolonialen Vergangenheit sind in den Repressionsorganen Angehörige der religiösen Minderheiten überrepräsentiert.(4) So gehört die Familie der Präsidenten der alawitischen Religionsgemeinschaft an. Alawiten sind eine kleine schiitische Sekte des Islam, die seit Mitte des 9. Jahrhunderts besteht. Von den meisten anderen muslimischen Konfessionen werden sie als Häretiker betrachtet.(5) Seit den 1960er Jahren bildet deshalb der Sturz der »alawitische Diktatur« eine zentrale Motivation für die sunnitisch-islamistische Opposition - die Muslimbruderschaft.

Die Integration breiter Bevölkerungsschichten gelang durch die Umverteilung von Renten. Ein ambitioniertes staatliches Industrialisierungsprogramm und eine umfangreiche staatliche Bürokratie versorgten die städtischen Arbeiter/innen und Angestellten mit Arbeitsplätzen. Auf dem Land blieb eine durchgreifende Agrarreform unvollendet. Großgrundbesitzer wurden zwar enteignet und das Land an Klein- und vor allem Mittelbauern verteilt, eine Modernisierung der Produktionsmethoden blieb jedoch aus. In der Folge scheiterten deshalb Versuche, die Industrialisierung durch Abschöpfung des landwirtschaftlich produzierten Mehrwerts zu finanzieren. Vielmehr wurde auch die in der Landwirtschaft tätige Bevölkerung durch Renteneinnahmen unterstützt. Es wurden Subventionsfonds eingerichtet, die die Differenz aus hohen staatlichen Abnahmepreisen und niedrigen Abgabepreisen von Agrarprodukten deckten. Die Staatsklasse kontrollierte insbesondere Rohstoffrenten - Erdöl - und strategische/politische Renten - Zahlungen befreundeter Staaten (vgl. Richter 2007, 122). Die Regierung musste sich so nicht gegenüber ihren Bürgern als Steuerzahlern legitimieren. Sie schuf sozialpolitische Abhängigkeiten durch die Rentenverteilung. Die Gesellschaft erscheint wie eine Pyramide, die aus Schichten von Rentiers besteht, wobei immer breitere Schichten der Bevölkerung immer weniger vom nationalen Renteneinkommen profitieren. Diese Form der Verteilung kann das Ausbrechen von sozialen Konflikten verhindern, indem sie vielfältige Formen von Abhängigkeiten und Klientelbeziehungen schafft. In den Ölstaaten erscheint das Verhältnis von Staat und Wirtschaft verkehrt, denn nach Luciani bestimmt das Staatseinkommen das Bruttoinlandsprodukt und nicht umgekehrt (vgl. Lucani 1987, 65). Die Arbeiter/innen und Angestellten der Staatsbetriebe, die Angestellten in der Verwaltung sowie die Bauern bilden also die kooptierten sozialen Stützen des Ba'th-Regimes.

Die alten sunnitischen Eliten wurden durch Enteignungen und Verdrängung aus dem politischen Geschehen systematisch entmachtet. Zusammen mit der privaten Kleinbourgeoisie und deren Beschäftigten, die kaum oder nur indirekt von staatlichen Sozialleistungen profitierten, bildeten sie die Basis der islamisch-konservativen Opposition, die sich in den Moscheen und Suqs organisierte. Ideologisch orientierten sie sich an den Muslimbrüdern, die nach 1982 rücksichtslos verfolgt wurden (vgl. Lobmeyer 1995).(6)

Die syrische Erdölproduktion ist im Vergleich zu anderen Ölstaaten und zur Bevölkerungsgröße relativ gering und ihre Erlöse reichten zu keinem Zeitpunkt aus, um die staatlichen Aufwendungen zu decken. Sie entwickelte sich entsprechend dem Ölpreis und fiel langfristig, da die Produktionssteigerung nicht entsprechend dem steigenden Eigenverbrauch erhöht werden konnte. Für die syrische Staatsklasse waren deshalb strategische/politische Renten von entscheidender Bedeutung. Diese Rentenflüsse hingen eng mit der außenpolitischen Positionierung Syriens zusammen und schwankten massiv. In den 1970er Jahren konnten im Kontext des Konflikts mit Israel umfangreiche Zahlungen aus den arabischen Ländern und der Sowjetunion generiert werden. Während des irakisch-iranischen Kriegs stellte sich Syrien von Beginn an auf die Seite des Iran, der für fast ein Jahrzehnt den Ausfall der arabischen Hilfen kompensierte. 1990 unterstütze Syrien den Angriff der USA auf den Irak und erhielt erneut umfangreiche Hilfen der arabischen Golfmonarchien.

Sinkende Renten führten regelmäßig zu ökonomischen Krisen, die mit einer harten Austeritätspolitik ausgestanden wurden. Seit 2000 fließen kaum noch strategische/politische Renten nach Syrien. Die Staatsklasse befindet sich in einer strukturellen Krise. Es fehlen die Ressourcen, um die sozialen Stützen nach dem bisherigen Modell zu kooptieren. Entsprechend findet ein vorsichtiger widersprüchlicher Umbau der Herrschaftsstrukturen statt.


Liberalisierung und soziale Situation

Seit den 1990er Jahren liberalisierte die Ba'th-Partei die syrische Wirtschaft schrittweise: Subventionen wurden reduziert oder abgeschafft und der staatliche Sektor verkleinert. Besonders seit dem Tod Hafiz al-Assads und dem Beginn der Präsidentschaft Bashar al-Assads im Juni 2000 kann parallel zu diesem Prozess die Genese einer neuen Klasse - einer Neuen Bourgeoisie - festgestellt werden. Diese hat enge familiäre Beziehungen zur parteigebundenen und militärischen Staatsklasse. Im Zuge der Liberalisierungen ermöglichten Konzessionen und Ausnahmeregelungen den schnellen Erwerb großer privater Vermögen. Die Hoffnung westlicher Beobachter, dass die neureichen Unternehmer eine Demokratisierung der syrischen Gesellschaft anstoßen würden, hat sich als illusorisch erwiesen. Schließlich hängt deren Geschäftsmodell von guten Beziehungen zur politischen Elite ab. Exemplarisch für diesen neuen Typ steht Rami Makhluf. Der Cousin Bashar al-Assads nutzte die Beziehungen seiner Familie - sein Vater führte die staatliche Real Estate Bank und sein Onkel war Führer der Präsidentengarde - zum Erwerb eines riesigen Privatvermögens. Er erwarb bei der ersten Versteigerung von zwei Mobilfunklizenzen in Syrien im Jahr 2000 sowohl 75% der Syriatel als auch Anteile der Konkurrenzfirma '94. Die Lizenzen erwarb er weit unter Wert. Er besitzt außerdem eine Kette so genannter Duty-Free-Läden und hielt für eine Zeit die Importlizenz von Mercedes-Benz. Er gilt als reichster Mann Syriens mit einem Privatvermögen von mehreren Milliarden US-Dollar. In geschäftlichen Konflikten setzte Makhluf seine engen Kontakte zur Staatsklasse rücksichtslos ein. Konkurrenten drängte er gerichtlich aus Joint Ventures, er unterband ihre Importmöglichkeiten oder veranlasste sogar ihre Verhaftung. Die Verbindung von Privatisierung, Korruption und Politik ist im internationalen Vergleich nicht ungewöhnlich - man denke nur an Italien. Die Schamlosigkeit der Neuen Bourgeoisie unterscheidet sich aber von der demonstrativen öffentlichen Zurückhaltung der alten Parteikader, die bis heute offiziell einen arabischen Sozialismus als politisches Ziel vorgeben.

Neben der schnell wachsenden jungen Bevölkerung stellt die Urbanisierung eine große sozialpolitische Herausforderung dar.

Die Lebensbedingungen der Staatsbeschäftigten haben sich seit den miserablen 1980er Jahren kaum verbessert. »In den späten 1980er Jahren reichte ein Lohn im öffentlichen Sektor kaum aus, um die Kosten für die Lebensmittel einer durchschnittlich sechsköpfigen Familie zu decken.« (Perthes 1995, 28) Die frühere de facto Garantie auf einen angemessenen und akzeptabel bezahlten Arbeitsplatz für alle Universitäts- und Schulabgänger wurde aufgekündigt. Dies birgt in Syrien besonderen sozialen Sprengstoff, weil die Bevölkerung sehr jung ist. Mehr als ein Drittel aller Syrier sind jünger als 15 Jahre. Die Wirtschaft wächst zwar in den letzten Jahren deutlich - die Weltbank weist von 2006 bis 2010 jährliche Wachstumsraten zwischen 3,2 und 6% aus -, aber es werden nicht ausreichend neue Arbeitsplätze geschaffen. Ein wichtiges Ventil für dieses Problem ist die Arbeitsmigration von Syrern in die Golfstaaten, die USA und die EU. Die Rücküberweisungen der Arbeitsmigranten (Migrantenrente) pendelten von 1990 bis 2004 zwischen 400 und 650 Mio. US-Dollar jährlich. Neben der schnell wachsenden jungen Bevölkerung stellt die Urbanisierung eine große sozialpolitische Herausforderung dar. Immer mehr Menschen verlassen das Land und lassen sich in der Nähe der Großstädte - vor allem Damaskus(7) - nieder. Die Dürreperioden in den letzten Jahren haben die Lebensbedingungen der Landbevölkerung deutlich verschlechtert, da nur kleine Teile der landwirtschaftlichen Flächen künstlich bewässert werden.

Es existiert also eine Situation, in der soziale Proteste von breiten Teilen der Bevölkerung getragen werden könnten. So äußerten Demonstranten von Beginn an ihren Unmut über Rami Makhluf, den sie als Verkörperung der Korruption und der sozialen Ungerechtigkeit ansehen. Tatsächlich kündigte dieser am 16. Juni 2011 an, sich aus seinen Geschäften zurückzuziehen und sein Vermögen zu spenden - letztlich zog er es aber vor, nach Dubai zu gehen und von dort weiterhin sein Vermögen zu verwalten (vgl. Imhof 2011b).

Der Zeitpunkt und die Intensität der Unruhen seit März überraschen trotzdem. Es spricht vieles dafür, dass dies in einem engen Zusammenhang mit den Aufständen in Tunesien und Ägypten steht. Die von der Regierung verbreitete Version, wonach von ausländischen Geheimdiensten gesteuerte Terroristen für die Unruhen verantwortlich seien, kann die Breite der Bewegung nicht erklären, obwohl die hohe Zahl getöteter Soldaten und Polizisten auf einen professionellen militärischen Teil der Opposition hindeutet. Tunesien und Ägypten unterscheiden sich von Syrien durch das Verhältnis zum Westen und zu deren regionalen Verbündeten. Tunesiens Ben Ali und Ägyptens Mubarak waren langjährige Verbündete des Westens. Die Volkswirtschaften sind in weiten Teilen in die internationalen Produktionsketten eingebunden. Das Verhältnis zwischen Syrien und dem Westen war dagegen sehr zwiespältig. Zusammen mit der libanesischen Hisbollah, dem Iran und der palästinensischen Hamas wird Syrien von neokonservativen Think tanks zur HISH-Alliance gezählt - dem regionalen Feindbild der USA und Israels (vgl. Rubin 2006, 21). Gleichzeitig konnte Syrien sein Verhältnis zu den meisten regional relevanten Staaten seit der Krise um die Ermordung des libanesischen Präsidenten Rafik Hariri im Februar 2005 verbessern. Die wirtschaftliche Integration in die regionale Wirtschaft konnte durch eine Reihe von bilateralen Freihandelsabkommen und die Teilnahme an der GAFTA (Greater Arab Free Trade Area) vertieft werden. Russland und Syrien einigten sich 2005 auf eine Regelung der syrischen Altschulden gegenüber der Sowjetunion. Diese stellten bis dahin ein Handelshemmnis zwischen den beiden Staaten dar. Besonders positiv entwickelten sich die Beziehungen zur Türkei. Neben einem Freihandelsabkommen wurde auch die Aufhebung der Visapflicht vereinbart. Mit der EU wurde im Rahmen des Barcelona-Prozesses/Mediterranean Partnership verhandelt. Auch wenn dieser Prozess sehr schleppend verlief, half beispielsweise der Besuch Sarkozys in Damaskus im Juli 2008 dem Ba'th-Regime, erneut internationale Akzeptanz zu gewinnen. Die guten Beziehungen zum Iran und zur Hisbollah stellte die syrische Staatsklasse nicht zur Disposition.


Der aktuelle Konflikt

In der jetzigen Krise überrascht vor allem das Verhalten der Türkei. Nachdem beide Staaten vorher ihren ökonomischen und kulturellen Austausch intensiviert und in kurzer Zeit zahlreiche symbolische Besuche auf höchster Regierungsebene absolviert hatten, verhält sich die AKP-Regierung in Istanbul seit Mai/Juni 2011 offen feindselig. Sie ließ Flüchtlingslager des Roten Halbmonds in Grenznähe aufbauen und erlaubte öffentliche Konferenzen von oppositionellen Exil-Gruppen in Istanbul.(8) Die Motivation der türkischen Regierung ist nicht klar erkennbar. Offensichtlich geht es ihr darum, ihr diplomatisches Gewicht in der Region zu stärken. Als konservativ-islamische Kraft hofft die AKP vielleicht wirklich auf einen Sturz des Ba'th-Regimes durch die Muslimbruderschaft oder sie agiert im Hinblick auf ihre Popularität bei ihren türkischen WählerInnen und der »arabischen Straße« - besonders in Ägypten und Palästina. Für das syrische Regime muss die Reaktion der Türkei ein Schock gewesen sein. Die massive Kritik und die Sanktionen aus den USA treffen das Land dagegen kaum, denn Importe und Exporte mit den USA liegen insgesamt deutlich unter 10% des syrischen Außenhandels. Die Sanktionen der EU treffen die syrische Wirtschaft dagegen vermutlich mit voller Wucht: 2007 gingen 44% der syrischen Exporte in die EU und 30% der Importe stammten von dort.

Egal wie die Krise ausgeht, für die syrische Wirtschaft wird 2011 eines der schlechtesten Jahre seit langem und die Leidtragenden werden vor allem die Arbeitslosen, die staatlichen ArbeiterInnen und Angestellten sein. Die internationale Isolation wird in den nächsten Jahren ein Wachstumshindernis bleiben. In früheren außenpolitischen Krisen zeigte sich die syrische Staatsklasse sehr flexibel bei Versuchen, außenpolitischen Druck abzumildern. Die Entwicklung des israelisch-palästinensischen/arabischen Konflikts könnte der syrischen Außenpolitik entsprechende Möglichkeiten bieten. Sowohl eine Verschärfung des Verhältnisses zwischen Ägypten und Israel als auch eine neue Dynamik im Nahostkonflikt durch den palästinensischen Antrag auf Vollmitgliedschaft in der UN könnten die syrische Regierung wieder in die Rolle der regionalen Vetomacht bringen, die sie schon häufig zur Mobilisierung von strategischen/politischen Renten nutzen konnte. Damit böte sich der syrischen Staatsklasse ein Ausweg aus der Isolation, und sie könnte eine (zumindest kurze) wirtschaftliche Erholung anstoßen.

Der saudische Einfluss in der arabischen Welt, der sich auf ein Bündnis sunnitisch konservativ-islamischer Bewegungen und Parteien stützt, profitiert gegenwärtig vor allem von der Schwäche der anderen. Einer dauerhaften Etablierung dieses Bündnisses stehen zwei zentrale Hindernisse im Weg. Die ideologische Nähe der verschiedenen Bewegungen und Parteien bestimmte sich bisher aus gemeinsamen Feindbildern. Sollten konservativ-islamische Parteien z.B. in Ägypten nach den Wahlen im September führend in der Regierung vertreten sein, werden sie ihre Politik vermutlich nationalen Imperativen unterordnen. Das zweite Problem der saudischen Politik ist ihre mangelnde Glaubwürdigkeit. Die offene Kooperation mit den USA und die Korrumpiertheit der saudischen Herrscherfamilie machen sie zu einem der Feindbilder der islamistischen Kreise.


Marcus Eckelt ist Politologe und lebt in Berlin. In Kürze erscheint von ihm im Lit-Verlag »Syrien im internationalen System. Die Politische Ökonomie des syrischen Ba'th-Regimes vor und nach der doppelten Zäsur 1990«.


Anmerkungen

(1) Zum Begriff der Staatsklasse vgl. Elsenhans 1981.

(2) Die schwer vorhersehbaren Gefahren eines Bürgerkriegs und dessen Rückwirkungen auf die Nachbarländer Irak, Libanon, Türkei, Israel/Palästina stellen eine der wichtigsten Sicherheitsgarantien des syrischen Regimes dar.

(3) Die Arabische Welt besteht aus drei Regionen: dem Maghreb, dem Mashriq und der arabischen Halbinsel. Der Mashriq umfasst den Libanon, Syrien, den Irak, Palästina, Jordanien und Ägypten.

(4) Exakte Zahlen über die religiöse Zusammensetzung sind nicht bekannt. Das Auswärtige Amt gibt auf seiner Homepage folgende Zahlen: ca. 71% sunnitische Muslime; 12% alawitische Muslime; 10% Christen; 4% Drusen; 2% schiitische Muslime; 1% Ismaeliten; einige Juden.

(5) Vgl. Pistor-Hatam 2006, 31.

(6) Linke oppositionelle Gruppierungen im Umfeld der Universitäten und städtischer Milieus wurden ebenso hart verfolgt - Riyad at-Turk saß als führender Kader der verbotenen unabhängigen KP zwischen 1980 und 2005 fast 20 Jahre im Gefängnis.

(7) Im Großraum Damaskus leben offiziell etwa vier Millionen Menschen, nach inoffiziellen Schätzungen bereits bis zu sieben Millionen Menschen. Das sind 25-40% der Gesamtbevölkerung.

(8) Die Provokation liegt darin, dass medienwirksam Vorbereitungen für die Ankunft von etwa 10.000 syrischen Flüchtlingen getroffen wurden, während Syrien nach der US-Invasion im Irak deutlich über 1.000.000 irakische Flüchtlinge aufnahm, ohne dass die internationalen Medien dies vergleichbar wahrgenommen hätten.


Literatur

Bank, André (2011): »Syrien könnte den iranischen Weg gehen«. Interview: Stefan Reis Schweizer, in: NZZ Online, 31.8.2011.

Elsenhans, Hartmut (1981): Abhängiger Kapitalismus oder bürokratische Entwicklungsgesellschaft. Frankfurt a.M. [u.a.].

Imhof, Isabelle (2011a): Die Bilder des Widerstands. Mit Bürgerjournalismus gegen das syrische Regime, in: NZZ Online, 3.5.2011.

Imhof, Isabelle (2011b): »Keine Almosen, sondern das Geld des Volkes zurück«, in: NZZ Online, 28.6.2011.

Lobmeyer, Hans Günter (1995): Opposition und Widerstand in Syrien. Hamburg

Luciani, Giacomo (1987): Allocation vs. Production States: A Theoretical Framework. In: Beblawi, Hazem ; Luciani, Giacomo (Hrsg.): The Rentier State. London, S. 63-81.

Perthes, Volker (1995): The political economy of Syria under Asad. London [u.a.].

Pistor-Hatam, Anja (2006): Alawiten. In: Elger, Ralf; Stolleis, Friederike (Hrsg.): Kleines Islam-Lexikon. Geschichte, Alltag, Kultur. Bonn.

Richter, Thomas (2007): Herrschaft, Rente und Außenhandelsreformen: zur Leistungsfähigkeit einer Typologie von Staatlichkeit im arabischen Vorderen Orient. In: Albrecht, Holger (Hrsg.): Der Vordere Orient. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Baden-Baden, S. 121-140.

Rubin, Barry (2006): Why Syria Matters. In: Middle East Review of International Affairs (MERIA) 10, Nr. 4, S. 21-40.

Seale, Patrick (1965): The Struggle for Syria. A Study of Post-War Arab Politics 1945-1958. London.


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Quelle:
Sozialismus Heft 10/2011, Seite 39 - 43
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. November 2011