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NAHOST/933: Ägypten - Forderungen nach Öffnung zum Gazastreifen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 2. August 2012

Ägypten: Forderungen nach Öffnung zum Gazastreifen - Präsident unter Druck

von Adam Morrow und Khaled Moussa al-Omrani



Kairo, 2. August (IPS) - Nach seinem Amtsantritt steht der erste frei gewählte Staatspräsident Ägyptens, Mohammed Mursi, vor einer politischen Herausforderung: der möglichen Öffnung der Grenze zum Gazastreifen für den Handel.

"Mursi weiß, dass die Gaza-Frage eng verbunden ist mit Ägyptens Beziehungen zu Israel und den USA", sagt Tarek Fahmi vom Nationalen Zentrum für Nahost-Studien in Kairo. "Er versteht gut, dass eine unilaterale Änderung des Status quo an der Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen ernstzunehmende internationale Reaktionen hervorrufen würde. Darauf ist Ägypten zurzeit nicht vorbereitet."

Der neue Staatschef werde daher sicherlich "sehr vorsichtig" mit dem Problem umgehen, meint Fahmi. Im Mai vergangenen Jahres lockerte die Übergangsregierung drei Monate nach dem Sturz des Diktators Husni Mubarak die 2007 in Kraft getretene Abriegelung. Damit reagierte sie auf den starken öffentlichen Druck nach dem Ende des Volksaufstands. Eine begrenzte Zahl von Einwohnern des Gazastreifens durfte den internationalen Übergang Rafah passieren, allerdings nur während einiger Stunden an bestimmten Tagen. Kommerzielle Warenlieferungen jedoch gelangen bisher nicht von der einen Seite auf die andere. Von der palästinensischen Bevölkerung dringend benötigte Lebensmittel sowie Treibstoff und Zement zum Wiederaufbau der während des Kriegs mit Israel zum Jahreswechsel 2008/ 2009 weitgehend zerstörten Infrastruktur werden hauptsächlich durch unterirdische Tunnel von Ägypten in den Gazastreifen geschmuggelt.

In den Monaten nach den Protesten auf dem Tahrir-Platz in Kairo forderten zahlreiche politische Gruppen in Ägypten, dass der Grenzübergang Rafah für den gesamten Verkehr geöffnet werden müsse. Das Land wurde aber von einem neuerlichen inneren Aufruhr erschüttert. Demonstranten und die Armee lieferten sich tagelange Straßenkämpfe, während die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in einem aufgeheizten Klima stattfanden. Die schwelende Gaza-Frage wurde vorerst auf Eis gelegt.

Die Wahl Mursis bei den umstrittenen Wahlen im Juni hat das Thema jedoch wieder in den Vordergrund gerückt. Kurz vor dem Urnengang hatte der Politiker, der lange Zeit der islamistischen Muslimbruderschaft angehörte, erklärt, dass "die Zeit gekommen ist, um den Rafah-Übergang rund um die Uhr für den Verkehr zu öffnen". Die radikal-islamische palästinensische Hamas, die seit 2007 im Gazastreifen regiert, ist lose mit der Muslimbruderschaft verbunden.


Hamas sieht neuen ägyptischen Präsidenten als Verbündeten

Hamas-Vertreter legten kürzlich nahe, dass ein Durchbruch in der Grenzfrage bevorsteht. Am 13. Juli, zwei Wochen nach Mursis Amtseinführung, zeigte sich der politische Hamas-Führer Khaled Meshaal zuversichtlich, dass der neue ägyptische Staatschef den Gazastreifen nicht nur vor "möglichen Angriffen Israels" schützen, sondern auch die Grenze öffnen und die Handelsblockade gegen das Gebiet beenden werde.

Am selben Tag erklärte der Chef der Regierung in Gaza-Stadt, Ismail Heniya, dass Ägypten unter der Führung Mursis niemals israelische Attacken gegen die Palästinenser decken werde. Damit spielte er eindeutig auf die Politik von Ex-Präsident Mubarak an. Nach Überzeugung von Heniya wird sich die neue Regierung in Kairo auch "nicht länger an der Besetzung des Gazastreifens beteiligen".

Erklärungen von Sprechern der Muslimbruderschaft und ihrer Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (FJP) lassen ebenfalls darauf schließen, dass die Tage der mittlerweile fünfjährigen Schließung der Grenze gezählt sind. "Die FJP glaubt, dass die gewaltsame Besetzung des Gazastreifens durch Israel gelockert werden muss und dass sich Ägypten nicht länger daran beteiligen dürfe", sagte das führende Parteimitglied Saad al-Husseini. "Ägypten muss gegenüber Israel einen festen Standpunkt in der Frage einnehmen."

Laut Al-Husseini hat die Partei, die die Hälfte der Sitze im Unterhaus des inzwischen aufgelösten ägyptischen Parlaments hielt, "keine Vorbehalte gegen die Öffnung des Übergangs Rafah für den Personen- und Warenverkehr". Sogar die Einrichtung einer Freihandelszone werde in Betracht gezogen.

Der Grenzübergang von Ägypten nach Rafah im Gazastreifen könnte bald für den Warenverkehr geöffnet werden - Bild: © Adam Morrow/IPS

Der Grenzübergang von Ägypten nach Rafah im Gazastreifen könnte bald für den Warenverkehr geöffnet werden
Bild: © Adam Morrow/IPS

Im Licht der geopolitischen Realität und insbesondere wegen des Widerstands Israels und der USA gegen eine Lockerung des Drucks auf die Hamas gehen Beobachter in Ägypten davon aus, dass der Präsident eine Lösung in kleinen Schritten anstreben wird. "Mursi wird wahrscheinlich bei dem tief verwurzelten Geheimdienstapparat, der die Gaza-Frage als sicherheitspolitisches und nachrichtendienstliches Problem sieht, auf Widerstand stoßen", meint Fahmi. In dem Falle habe nicht der Präsident, sondern der Geheimdienst zu entscheiden.


Drastische Änderungen kurzfristig nicht zu erwarten

Zunächst werde Mursi daher vermutlich weniger umfangreiche Maßnahmen ergreifen, um die Beschränkungen im grenzüberschreitenden Verkehr nach und nach aufzuheben. Am 23. Juli traten neue Regelungen in Kraft, die Palästinensern aus dem Gazastreifen erlauben, für jeweils 72 Stunden über die Grenze nach Ägypten zu kommen. Bis dahin wurden Palästinenser unter 40 Jahren, die Ägypten betraten, von den Sicherheitskräften sofort zum Flughafen gebracht. Es wurde befürchtet, dass es sich um Anhänger der Hamas handeln könnte.

Am 28. Juli sagte Heniya nach einem Treffen mit Mursi, dass dieser "mehreren Maßnahmen" zur Verbesserung der Lebensbedingungen im Gazastreifen zugestimmt habe. Unter anderem solle der Übergang Rafah jeden Tag zwölf Stunden lang geöffnet sein, täglich sollten bis zu 1.500 Menschen aus dem Gazastreifen passieren dürfen.

Fahmi sieht voraus, dass Mursi möglicherweise auch Gespräche beginnen wird, um die Grenze durchlässig für Warentransporte zu machen. "Mursi kann nicht einseitig den Übergang für den Handelsverkehr öffnen, ohne dies vorher mit den anderen wichtigen Parteien zu besprechen, vor allem mit Israel und der im Westjordanland ansässigen Palästinensischen Autonomiebehörde. Nach Einschätzung von Fahmi sind also kurzfristig keine drastischen Veränderungen zu erwarten, zumal Ägypten im Innern mit zahlreichen Krisen fertigwerden müsse. (Ende/IPS/ck/2012)


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http://www.ipsnews.net/2012/07/egypt-opening-doors-to-gaza-slowly/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. August 2012