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NAHOST/937: Syrien - Relative Sicherheit in Kurdenregion, Flüchtlinge kehren trotz Bürgerkrieg zurück (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 27. August 2012

Syrien: Relative Sicherheit in Kurdenregion - Flüchtlinge kehren trotz Bürgerkrieg zurück

von Karlos Zurutuza

Zwei kurdische Kämpfer an einem Kontrollpunkt im Nordosten Syriens - Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Zwei kurdische Kämpfer an einem Kontrollpunkt im Nordosten Syriens
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Girke Lege, Syrien, 27. August (IPS) - Der Schieber will 200 US-Dollar, doch Jewan handelt ihn auf die Hälfte herunter. Für den 26-jährigen syrischen Kurden ist das immer noch viel Geld. Er kann es aber kaum erwarten, vom Irak über die Grenze nach Syrien zu kommen. Seine Familie hat er vor drei Jahren zum letzten Mal gesehen.

Der junge Mann hatte in seiner Heimat viel durchgemacht. "Ich wurde festgenommen und 27 Tage lang gefoltert, weil ich einer Studentenorganisation angehörte", erinnert er sich, während er mitten in der Nacht dem Menschenschmuggler folgt. "Ich kam wieder frei, nachdem meine Eltern einem Polizisten 2.000 Dollar gegeben hatten", erzählt er. "Dann floh ich in den Libanon und gelangte schließlich über die Türkei in die irakische Kurdenregion."

Jewan sprach mit IPS in dem Dreiländereck Türkei, Irak und Syrien - 450 Kilometer nordwestlich von Bagdad, 550 Kilometer südöstlich von Ankara und 800 Kilometer nordöstlich von Damaskus, wo ebenso wie in anderen Landesteilen erbitterte Kämpfe zwischen der syrischen Armee und Aufständischen im Gang sind. Im Kurdengebiet ist es dagegen ruhig.

Rund 40 Millionen staatenlose Kurden leben in der Türkei, dem Iran, dem Irak und Syrien. Etwa die Hälfte von ihnen hält sich auf türkischem Gebiet auf. Weitere zwei bis vier Millionen Kurden leben im Nordosten Syriens. Das Land wurde vor weniger als hundert Jahren aus dem Osmanischen Reich herausgelöst.


Kurden sichern sich Kontrolle über ihr Land

Nach einer Protestwelle Ende Juli lockerte der syrische Präsident Baschar al-Assad seine Kontrolle über die syrische Kurdenregion. Lokale Kurdenführer beanspruchen nun eine Vormachtstellung über die Hälfte ihres Territoriums, einschließlich der Posten an der Grenze zu der Autonomen Kurdenregion im Irak. Dorthin hatte sich Jewan auf den Weg gemacht.

Ein paar Minuten später wird er von Taschenlampen geblendet - es sind die Peschmerga, die Militärkräfte im irakischen Kurdengebiet. Weder Jewan noch sein Führer erscheinen ihnen bedrohlich, deshalb lassen sie sie durch. In einigen hundert Metern Entfernung sehen sie die Lichter des ersten Checkpoints auf syrischem Territorium.

Mitten in der Dunkelheit treffen sie im Niemandsland auf einen Kleintransporter mit laufendem Motor, dessen Lichter abgeschaltet sind. Der Fahrer und sein Begleiter stellen sich als militante Mitglieder der Kurdischen Arbeiterpartei PKK vor. Die Guerillagruppe kämpft seit 1984 gegen den türkischen Staat.

"Wir müssen hier warten, es kommt noch jemand", erklärt einer der Kämpfer, der ein Sturmgewehr umgehängt hat. Wenige Minuten später tauchen aus der Dunkelheit mehrere Männer auf, die Taschen und Kisten auf den Transporter laden.

"Das ist alles, was ich habe", sagt die 50-jährige Asma und zeigt auf eine Tasche auf dem Vordersitz des Wagens. "An dem Tag, als ich Syrien verließ, schwor ich mir, nicht eher zurückzukehren, bis mein Land von seinem eigenen Volk regiert würde." Sie berichtet, wie sie vor 32 Jahren über die gleiche Strecke aus Syrien geflohen sei. Ihre Tochter, die damals noch ein Säugling war, wird ihren Geburtsort allerdings nicht mehr sehen können. Sie starb vor zwei Jahren bei Gefechten gegen die türkische Armee irgendwo in den Bergen.

Rafik wartet schon seit Stunden weiter unten an der Straße, um seinen Bruder Jewan in Empfang zu nehmen. "Der Weg nach Hause ist sicher, du brauchst Dir keine Sorgen zu machen", beruhigt er ihn. Wie es bei ihnen Sitte ist, begrüßen sie sich mit einem Kuss auf der linken und drei auf der rechten Wange.

Wie viele Kurden nach Syrien zurückkehren, steht nicht genau fest. Einige kommen deshalb wieder, weil sich die Lage in der offensichtlich von den Kurden selbst beherrschten Region stabilisiert zu haben scheint.

Auf der Straße fahren kaum Autos, ab und zu sieht man am Rand Feuersäulen aufsteigen. "Ein großer Teil des Landes hat uns gehört, aber die Assads haben alles an arabische Familien aus dem Süden verteilt", sagt Jewan. "In der Gegend gibt es viel Gold."


Kurdische Minderheit lange unterdrückt

Nach der Machtübernahme der Ba'ath-Partei 1963 wurden Araber bevorzugt, während die Kurden, immerhin die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe des Landes, unterdrückt wurden. Die kurdische Sprache durfte nicht mehr gesprochen werden, und viele Angehörige der Ethnie erhielten nicht einmal die syrische Staatsbürgerschaft. Außerdem wurden Kurden deportiert und arabische Siedlungen in ihren Gebieten gebaut.

Heute ist dagegen jede Mauer mit den kurdischen Farben Grün, Rot und Gelb besprüht. Auch am Ortseingang von Girke Lege, 35 Kilometer von der irakischen Grenze und 15 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt, weht die Flagge der Kurden. "Das Gebiet ist vollständig unter unserer Kontrolle", ruft einer der Kämpfer, der an einem Kontrollpunkt am östlichen Eingang von Girke Lege steht.

Laut dem Vorsitzenden der Demokratischen Unionspartei PYD, Saleh Muslim, haben die syrischen Kurden noch keinen Waffenstillstand mit der Assad-Regierung ausgehandelt. "Wir sind die zweitgrößte ethnische Gruppe in Syrien, und Damaskus will keine weitere Kriegsfront mit Minderheiten auf seinem Territorium aufmachen."

Politische Beobachter glauben, dass das syrische Regime die Bedrohung durch eine selbstverwaltete syrische Kurdenregion dazu ausnutzt, um den Konflikt mit der Türkei auszuweiten.


Friedliches Miteinander in Girke Lege

In Girke Lege bietet sich unterdessen ein ganz anderes Bild als in dem vom Bürgerkrieg zerstörten Damaskus. Aus Geschäften und Teestuben dringt laut kurdische Musik. Der neue Hauptsitz einer der kurdischen Parteien, die seit Jahrzehnten im Untergrund arbeiten, ist bis weit nach Mitternacht geöffnet. Allen Schwierigkeiten zum Trotz haben die Kurden offensichtlich zu einer neuen Freiheit gefunden.

"Ich habe davon gehört, kann jetzt aber kaum glauben, was ich sehe", meint Jewan überwältigt, nachdem er zum ersten Mal seit drei Jahren wieder mit syrischem Geld bezahlt hat. Seiner Familie hat er ein Kilo Gebäck mitgebracht.

Als seine Mutter ihren Sohn endlich wiedersieht, kann sie ihre Tränen kaum zurückhalten. Seine Ankunft hat sie völlig überrascht. Für Jewan wiederum ist es eine Überraschung, seine Verwandten aus Damaskus hier zu treffen. "Vor 20 Jahren zogen wir von hier nach Damaskus, auf der Suche nach einem besseren Leben", erzählt Jewans Tante Alian. "Im Moment wissen wir aber nicht, wann wir dorthin zurückgehen." (Ende/IPS/ck/2012)


Link:

http://www.ipsnews.net/2012/08/syrian-crisis-brings-a-blessing-for-kurds/

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IPS-Tagesdienst vom 27. August 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. August 2012