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NAHOST/957: Angst essen Seelen auf - Zur aktuellen Situation im Gazastreifen (medico)


medico international - 17. November 2012

Angst essen Seelen auf

Zur aktuellen Situation im Gazastreifen

Eindrücke und Interviews mit lokalen Partnern von dem neuen medico-Repräsentanten für Israel und Palästina, Riad Othman:



"Wir sind hier am Vorabend einer möglichen Operation am Boden. Es ist nicht unser erstes Mal in Gaza. Wir haben [...] mit großer Macht und Präzision zugeschlagen." Der Feldherr hielt schon am Freitagabend die Ansprache vor der großen Schlacht, denn mit unter anderem diesen Worten stimmte der Befehlshaber der israelischen Armee, Benny Gantz, seine Truppen im Süden des Landes auf das ein, was vielleicht bald geschehen wird. Sicher weiß das niemand, aber es gibt klare Anzeichen dafür, dass die israelische Armee wieder einmal in den dicht besiedelten Gazastreifen bzw. Teile davon eindringen wird, um weiterhin "mit großer Macht und Präzision zuzuschlagen." 16.000 der ursprünglich 30.000 zusätzlich bewilligten Reservistinnen und Reservisten sind bereits mobilisiert. Gepanzerte Truppentransporter, Panzer und anderes Kriegsgerät stehen an den Grenzen nach Gaza bereit. Mittlerweile wurde die Zahl der Reserve auf 75.000 erhöht. Sollte sich Ähnliches zutragen wie bei der "Operation Gegossenes Blei" 2009, könnte der Gazastreifen für einige hundert Menschen unter der palästinensischen Zivilbevölkerung zur Todesfalle werden.

Am 14. November 2012, gut zwei Wochen vor dem Termin, an dem Präsident Mahmoud Abbas die Aufwertung Palästinas als nicht-Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen zum Mitglied mit Beobachterstatus zur Abstimmung bringen will, greift die israelische Regierung auf ein bewährtes Mittel zur Bekämpfung seiner politischen und militärischen Gegner zurück: Ahmed Jabari, der Führer des bewaffneten Arms der Hamas, wird durch einen Raketenangriff getötet. Dem ging der wiederholte Beschuss Israels mit Raketen aus dem Gazastreifen voraus. Doch ebenso gehören zur längeren Vorgeschichte der jüngsten Eskalation israelische Luftschläge und gezielte extralegale Tötungen, die gerne als militärische Eingriffe chirurgischer Natur dargestellt werden, obwohl ihnen so gut wie immer auch Zivilisten zum Opfer fallen.


Majeda Al-Saqqa (CFTA), Gaza

Ich rufe im Süden des Gazastreifens in Khan Younis bei Majeda Al-Saqqa an. Sie leitet die medico-Partnerorganisation Culture and Free Thought Association (CFTA). Das Schlimmste seien die Ungewissheit und die unkontrollierbare Angst, die sich überall breit gemacht haben. Hier sind Auszüge aus unserem Gespräch.

Medico: Wie geht es Euch?

Majeda Al-Saqqa: Gut, aber hier haben alle Angst.

Medico: Was können wir tun? Was willst Du, das wir tun, um Euch zu unterstützen?

Majeda Al-Saqqa: Ich will nur, dass dieser Wahnsinn aufhört. Es ist wichtig, dass die Leute in Deutschland und im Ausland verstehen, was hier passiert und was das bei den Menschen erzeugt. Wir haben seit zwei Nächten nicht geschlafen, wir trauen uns kaum aus dem Haus. Die Leute erinnern sich noch an 2009 [an die "Operation Gegossenes Blei", mit schweren Bombardements, einer Invasion durch die israelische Armee und weit über 1.000 Todesopfern], deswegen ist die psychologische Wirkung auf die Bevölkerung hier enorm.

Medico: Wird die Waffenruhe eingehalten, die für den Besuch des ägyptischen Premierministers vereinbart wurde?

Majeda Al-Saqqa: Nur teilweise, die Leute nutzen die relative Ruhe, um das zu tun, was sie sich die vergangenen zwei, drei Tage nicht mehr getraut haben: duschen, einkaufen, versuchen sich vorzubereiten auf eine Invasion. Mittlerweile wird stellenweise aber wieder bombardiert. Jeder hier hat Angst. Niemand weiß, ob es eine Invasion geben wird. Wir haben keine Ahnung, wie lange die Bombardements anhalten werden. Das Warten und die Ungewissheit sind das Schlimmste.

[...] Medico: Wir bleiben in Verbindung, und wenn es irgendetwas gibt, was wir konkret tun können, lass es uns sofort wissen.

Majeda Al-Saqqa: Wenn Du dafür sorgen könntest, dass diese Bombardierung aufhört ...

Die kurze Feuerpause während des Besuchs des ägyptischen Premierministers nutzten viele Menschen, um zu versuchen, sich so gut es geht für das einzurichten, was noch kommen kann - aber eben nicht zwangsläufig kommen wird. Das Warten und die Ungewissheit machen die Leute mürbe: Wird es eine Invasion geben? Wird das ein richtiger Krieg? Oder falls ohne Bodenoffensive weiter bombardiert werden sollte, für wie lange? Der Besuch des Premiers Hisham Kandil erlaubte es vielen Bewohner/innen von Gaza wenigstens für wenige Stunden, einem Teil ihrer Alltagsroutine nachzugehen und verschaffte ihnen so eine kurze Atempause in trügerischer Ruhe.


Physicians for Human Rights - Israel, Tel Aviv - Jaffa

Unterdessen arbeitet der langjährige medico-Partner Physicians for Human Rights Israel in Tel Aviv an der Unterstützung für die Betroffenen im Gazastreifen und im Süden Israels. Kaum zwei Minuten im Gespräch muss Geschäftsführer Ran Cohen das Gespräch überraschend beenden, weil es einen Raketenalarm in Tel Aviv gibt. Später wird er mir sagen, er habe die Detonation deutlich gehört. Ran schildert seine unterschiedlichen Eindrücke von der Lage in Tel Aviv.

Ran Cohen: Am Freitag schien mir die Stadt tatsächlich etwas ruhiger. Ich glaube schon, dass manche Leute zu Hause blieben. Die Reaktionen fallen unterschiedlich aus. Es gibt hier einige Leute, die beginnen erst jetzt langsam zu verstehen, in welcher Situation sich die Menschen im Gazastreifen und Süden Israels ständig befinden. Es gab hier seit 1991 keinen Raketenalarm, von Jerusalem ganz zu schweigen. Viele Leute sind erschrocken, sie haben Angst und machen sich Sorgen. Einige sind wütend auf die Regierung und fragen, ob die Tötung Ahmed Jabaris wirklich notwendig war, ob es keinen anderen Weg gegeben hätte.

Medico: Spiegelt das die generelle Stimmung wider?

Ran Cohen: Das kann ich nicht sagen. Leider gibt es auch viele Menschen, die die Angriffe befürworten. Einige Leute ärgern sich auch darüber, dass das alles so kurz vor den Wahlen stattfindet. Sie halten es für ein sehr durchsichtiges Manöver. Sie fragen sich, weshalb man nicht mit den Palästinensern verhandelt.

Medico: Wie gehen Deine Kolleginnen und Kollegen mit der Situation um?

Ran Cohen: Viele von ihnen arbeiten auch im Süden Israels oder kommen von dort. Leider muss ich sagen, dass sie ziemlich viel Erfahrung mit Raketenalarm haben. Für sie ist das nicht neu. Ich hoffe bloß, dass die jetzige Situation auch mal ein paar Leuten in Jerusalem und Tel Aviv die Augen öffnet und sie sich gegen militärische Lösungen wenden werden.

Medico: Für wie wahrscheinlich hältst Du eine Invasion?

Ran Cohen: Ich fürchte, wenn schon so viele Reservisten mobilisiert werden, dann wird sie die Armee auch einsetzen. Schlimmer noch, es wird auch zu einer weiteren Verschärfung der Sicherheitslage auf der West Bank kommen. Zum einen kommt es schon jetzt infolge der israelischen Angriffe vermehrt zu Demonstrationen; zum anderen wird eine neue Protestwelle für die Tage nach dem 29.11. erwartet [wenn Mahmoud Abbas den Antrag Palästinas auf das Upgrade der Mitgliedschaft in den UN als "non-member observer state" zur Abstimmung stellen wird]. Von weiteren Konfrontationen zwischen Palästinensern und israelischer Armee mit Verletzten ist wahrscheinlich auszugehen.

Weiter südlich, im israelischen Beer Sheba, berichtet ein Arzt: "Es gab den ganzen Morgen und die ganze Nacht hindurch Warnungen. Ich höre die Raketen über mein Haus fliegen. Die Atmosphäre im Krankenhaus ist voller Angst. Im Krankenhaus fühlen sich die Patienten relativ sicher, aber das Problem sind die Wege von zu Hause ins Krankenhaus und zurück. Wir arbeiten wie immer, aber heute kamen viele Patienten nicht zu ihren ambulanten Terminen." Sein Kollege aus der Abteilung für Innere Medizin ergänzt: "Das Gefühl im Krankenhaus ist unangenehm. Operationen wurden abgesagt. [...] Ich habe drei Kinder im Alter von drei, 11 und 15 Jahren und es ist hart ihnen zu erklären, was gerade vorgeht. Angst ist etwas, dass Du nicht kontrollieren kannst, das ist sehr schwierig. Es ist völlig klar, dass das so weitergeht, solange abwechselnd die Gewalt ohne irgendeine Lösung weitergehen wird, zumindest ohne eine Lösung, an der Israel interessiert wäre. Seit Jahrzehnten basierte Israel auf dem Mantra 'ruhig, da wird geschossen', und jetzt redet Shelly Yachimovich [Führerin der Arbeitspartei, die zur Zeit in die kommenden Parlamentswahlen geht] über den Sozialstaat anstatt mit Iran oder den Palästinensern zu sprechen. Wie gehen wir die palästinensische Sache an? Durch schießen. Und wir haben nicht mal angefangen darüber zu reden, was in Gaza vor sich geht. Ich beneide die Ärzte im Shifa Hospital [in Gaza] nicht."


Al-Mezan Centre for Human Rights, Gazastreifen

Endlich kann ich Issam Younis im Gazastreifen telefonisch erreichen. Er ist der Direktor des Al-Mezan Centre for Human Rights, dessen Arbeit für Demokratie und Menschenrechte medico international unterstützt. Wie CFTA auch, kämpft Al-Mezan dieser Tage an vielen Fronten. Auf der einen Seite wenden sich unsere Partner gegen die (religiös verbrämte) Radikalisierung der Gesellschaft und scheuen keinen Konflikt mit der Hamas-Regierung, um für Bürger- und Menschenrechte einzustehen. Andererseits sind sie gegen die andauernde Blockadepolitik der israelischen Regierung, die ebenso zu Beschneidungen diverser Menschenrechte führt. Issams Vorgänger musste den Gazastreifen verlassen, nachdem er verschiedentlich Todesdrohungen erhalten hatte und eine Messerattacke nur mit Glück überlebte.

Issam Younis: Was die israelische Armee den Menschen in Gaza antut, lässt sich nicht an den Opferzahlen von Toten und Verletzten bemessen. Die Menschen leiden unter den Bombardements. Du musst verstehen, dass sie ihre eigene Angst nicht oder nur schwer kontrollieren können.

Medico: Was können wir tun, um Euch als unsere Partner zu unterstützen?

Issam Younis: Du kannst nichts tun. Sorge dafür, dass die Leute in Deutschland wissen, was hier geschieht. In einer solchen Situation weißt Du nicht, was in den nächsten zwei Stunden passiert. Das ist das Schlimme.

Medico: Wir werden das natürlich weitertragen und verbreiten, Issam, aber gibt es sonst nichts, was wir augenblicklich für dich oder Al-Mezan tun können?

Issam Younis: Mach Dir keine Sorgen. Wir haben gelernt so zu leben.

Er sagte das mit einem durch das Telefon hörbaren Lächeln. Es klang nicht stolz, und vielleicht klang es nicht einmal bitter. Wenn man sich selbst aussuchen darf, was man lernt, sind es meistens Dinge, die man schön, nützlich oder interessant findet. In Angst zu leben und in regelmäßig wiederkehrenden Situationen, in denen man nicht weiß, was in den nächsten zwei Stunden passieren wird, das lernt man eigentlich nicht. Man bekommt es beigebracht.

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Quelle:
medico international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. November 2012